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5. Juni 2013: Amina Sboui wird in den Gerichtssaal von Kairouan gebracht. Ihr drohen bis zu zwei Jahre Haft.

Foto: Reuters

Die 19-jährige Amina Sboui hat die tunesische Gesellschaft erzürnt. Mit einem Oben-ohne-Protest für mehr Frauenrechte brachte sie nicht nur die staatlichen Behörden, sondern auch große Teile der Gesellschaft gegen sich auf. Derzeit wird ihr der Prozess gemacht, dabei drohen ihr bis zu zwei Jahre Haft. Henda Chennaoui ist eine der kräftigsten Stimmen Tunesiens im Kampf für mehr Frauenrechte. Die Bloggerin und Journalistin setzt sich seit Beginn der Tunesischen Revolution lautstark für mehr Gleichberechtigung ein. Im Interview mit derStandard.at spricht sie über den Fall Amina Sboui und das große Problem, das Tunesien hat.

derStandard.at: Welche Reaktionen zum Fall Amina Sboui haben Sie in Tunesien mitbekommen?

Chennaoui: Die Mehrheit der Bevölkerung ist sehr wütend, und die Reaktionen sind sehr gewalttätig, weil Amina die Religion direkt angegriffen hat. Das ist ein Tabu in der tunesischen Gesellschaft. Gerade aufgrund der Form ihres Protests, die dort etwas gänzlich Neues ist, wird befürchtet, dass die Menschen neue Wege einschlagen und die gewohnten Rollen von Religion und Frauen hinterfragen.

Wir versuchen nun, die Proteste gegen die Unterdrückung der Frauen fortzusetzen. Nicht nur in Tunesien, sondern in der gesamten arabischen Welt. Und wir wollen auch die durch Amina entfachte Diskussion in die richtige Richtung lenken.

derStandard.at: Und die wäre?

Chennaoui: Das große Problem ist, dass mit Religion sehr viel Macht ausgeübt wird. Wir müssen nun offen darüber sprechen, dass Religion nicht mit Frauenrechten und Demokratie zusammenpasst. Um eine echte Demokratie zu erreichen, muss Religion von den Schaltstellen der Macht verschwinden.

In Tunesien spielt Religion aber seit jeher eine wichtige Rolle. Sie wird als Teil der nationalen Identität betrachtet. Es hat also ein neuer Kampf begonnen. Und der Weg zu einer echten Demokratie ist noch lang.

derStandard.at: Islamisten fordern die Steinigung von Amina Sboui. Wie realistisch ist das?

Chennaoui: Es ist nicht realistisch. Allerdings gibt es relativ viele Leute, die das für das richtige Mittel halten, um "gefährliche Menschen" von der Gesellschaft fernzuhalten.

derStandard.at: Wie gesprächsbereit ist die von der islamistischen Ennahda-Partei dominierte Regierung beim Thema Frauenrechte?

Chennaoui: Die Regierung ist grundsätzlich gesprächsbereit. Sie verspricht, die Rechte von Frauen zu achten und zu verteidigen. Allerdings definiert sie Frauenrechte nicht so, wie man es von anderen Demokratien kennt. Frauen dürfen heiraten, Kinder bekommen und sich auch scheiden lassen. Aber ohne Ehe dürfen sie kein Sexualleben haben und keine Kinder bekommen. Auch das Annehmen einer anderen Religion oder die Ehe mit einem nichtmuslimischen Mann ist nicht möglich.

derStandard.at: Ist die Situation für Frauen schlimmer als unter dem ehemaligen Präsidenten Ben Ali?

Chennaoui: Die Situation war damals schlimm, und sie ist es auch heute noch. Allerdings gibt es jetzt mehr Gewalttaten gegen Frauen als früher. Wir sind daher sehr von der Revolution enttäuscht. Wir als Frauen, als junge Menschen haben sie durchgeführt. Aber nun müssen wir um unsere demokratischen Grundrechte kämpfen.

derStandard.at: Wurden Sie selbst schon einmal attackiert?

Chennaoui: Ja, natürlich. Wenn du als junge Frau in Tunesien auf offener Straße für Frauenrechte und für Amina Sboui demonstrierst, werden viele Menschen wütend. Und dann greifen sie dich an.

derStandard.at: Sie als Bloggerin und Journalistin können relativ unabhängig arbeiten. Wie ist das bei anderen tunesischen Frauen?

Chennaoui: Es ist sehr schwierig, weil die Vorstellung von freien, arbeitenden Frauen in der Gesellschaft nicht akzeptiert ist. Haben sie dann einmal das Glück, einen Arbeitsplatz gefunden zu haben, stehen die Chancen auf einen beruflichen Aufstieg sehr schlecht, weil sie einfach Frauen sind. Das ist ein sehr großes Problem, über das leider überhaupt nicht geredet wird. (Kim Son Hoang, derStandard.at, 19.6.2013)