Wien - Es ist ein Lauf für die Geschichtsbücher. 28. August 1977, die Uhr im Ostberliner Friesenstadion zeigt 15.48 Uhr an. Christiane Knacke springt ins 50 Meter lange Becken, schwimmt einmal hin und einmal her und schlägt nach 59,78 Sekunden an. Erstmals ist eine Frau über 100 Meter Schmetterling (oder auch Delfin) unter einer Minute geblieben. Dass der Weltrekord ausgerechnet beim DDR-Länderkampf gegen die USA, den großen Klassenfeind, passiert, gibt ihm eine besondere, eine politische Note. "Aber das habe ich damals gar nicht mitgekriegt", sagt die Rekordlerin heute. Sie war eine von vielen Sportlerinnen, die Ruhm und Ehre des DDR-Regimes mehren sollten und mehrten, sie war eine der besten. Sie war 15 Jahre alt.

Eigentlich hatte die kleine Christiane zum Eiskunstlauf wollen, wegen "orthopädischer Probleme" wurde sie zum Schwimmen geschickt. Familie Knacke wohnte diesbezüglich nicht ungünstig. "Ich konnte übers Feld zur Schule und zur Schwimmhalle laufen." Sie landete bei Dynamo Berlin, beim Polizeisportklub, und als es um die Aufnahme in die Kinder- und Jugend-Sportschule ging, landete sie im traditionellen DDR-Auswahlverfahren. Dabei waren nicht nur ihre Leistungen gefragt, sondern etwa auch die Körpergröße der Eltern. Die Mutter einer angehenden Schwimmerin hatte mindestens 1,65 Meter groß zu sein, Christianes Mutter maß nur 1,63. "Sie hat geschummelt, hat 1,70 angegeben." Nachgemessen wurde nicht, immerhin, auch die DDR konnte manchmal ein bisserl schlampig sein.

Junger Stern

Mit 14 machte Christiane auf sich aufmerksam, mit 15 gelang ihr der Durchbruch. Sie wurde Vizemeisterin, qualifizierte sich für die EM, wurde auch dort Zweite hinter ihrer Teamkollegin Andrea Pollack, hielt sich aber nur wenige Tage später mit dem Weltrekord schadlos. Das Regime konnte sie nicht mehr übersehen, obwohl es sie ganz gerne übersehen hätte. "Eigentlich wollten sie mich ausmustern, weil fast meine gesamte Familie damals schon im Westen lebte."

Es folgten freilich zwei unglückliche Saisonen. 1978 fiel Christiane kurzfristig für die WM aus, offiziell war sie krank. Tatsächlich war sie "noch im Tee, da hatten sie sich einfach vertan". Soll heißen, sie wurde vorsorglich dopinggetestet, blieb aufgrund des Resultats daheim. Mit dem Wort Doping, sagt sie, sei sie damals, mit 16, nicht konfrontiert gewesen. Dass sie "unterstützende Mittel" bekam, war ihr klar. Dass die Mittel auch Nebenwirkungen hatten, bemerkte sie erst viel später. 1979 fiel sie mit einer Ellbogenverletzung aus, sie dachte an Rücktritt, motivierte sich wieder. "Einmal Olympia, das geb ich mir", war der Gedanke, er führte 1980 nach Moskau und zur Bronzemedaille. "Da bin ich ohne geschwommen", sagt sie und meint "ohne Dopingmittel". Wegen ihrer Volljährigkeit hätten sie die DDR-Offiziellen aufklären müssen, das sei nicht passiert.

Politikum

Bald nach Moskau trat Knacke zurück, sie wechselte ins Olympische Komitee der DDR, organisierte Empfänge, war Teil des Reisekaders. Eine Reise führte sie 1986 auf die Halbinsel Krim und nach Moskau, wo sich europäische Jugendgewerkschaften zwecks Völkerverständigung trafen. Christiane aus Berlin traf Gottfried aus Wien, und sie verständigten sich. In der DDR stieß die Liebe auf wenig Gegenliebe. Christianes Antrag auf "Eheschließung und Familienzusammenführung", also Ausreise nach Österreich, wurde abgelehnt. "Ich bin zu einer politisch Verfolgten geworden, wurde zwei Jahre lang arg drangsaliert. Das kann kaum jemand nachempfinden."

Im Oktober 1988 wurde so oder so geheiratet, Standesamt Friedrichshain, kleiner Rahmen. Dass Frau Knacke, die fortan Sommer hieß, die DDR Ende 1988 doch verlassen konnte, hatte sie "der Regierung Vranitzky zu verdanken", vor allem Vranitzkys außenpolitischer Beraterin Eva Nowotny, die diplomatische Fäden gezogen hatte. Bloß ein Jahr später hätte Christiane unbehelligt in den Westen marschieren können, etwa durchs Brandenburger Tor. "Aber ein Jahr in diesem System kann sehr lange sein. Noch ein Jahr hätte ich kaum ausgehalten."

Nach der DDR die Sintflunt

Deutschland wurde ein großes Ganzes, in dem für viele Trainer und Funktionäre der DDR, außer in Gerichtssälen, kein Platz mehr war. Auch Ex-Betreuern von Sommer wurde der "Dopingprozess" gemacht, dessen Titel Sommer etwas stört. "Doping war ein Nebenschauplatz. Es ging auch nicht um Geld. Es ging darum, dass Minderjährige jahrelang physisch und psychisch missbraucht wurden. Wir waren Versuchskaninchen, man hat mit uns experimentiert." Etliche DDR-Betreuer landeten nicht nur vor Gericht, sondern auch in Sportentwicklungsländern, die von ihrem Wissen zu profitieren hofften. Auch Österreich war ein solches Land, in dem solche Trainer tätig wurden. Einer hatte auf die Frage, warum im Schwimmen ostdeutsche Frauen, nicht aber Männer dominierten, gesagt: "Wir können aus Frauen Männer, aber aus Männern keine Fische machen."

Sommer wollte in Wien auch sportlich Fuß fassen, war eine Zeitlang als Trainerin für den Schwimmverband tätig, das funktionierte nicht wirklich. "Da war so viel Politik im Sport, das war nicht meins." Sie tauchte sportlich unter und im Personalwesen auf, ist diplomierte Arbeitsrechtlerin und arbeitet als Personalchefin am Theater der Jugend. "Mein Traumjob."

Ohne Verbitterung

Christiane Sommer sagt, sie schaue selten zurück, und wenn, so ohne Verbitterung. "Meine Rechnungen sind alle beglichen." Mit Berlin verbindet sie mittlerweile wenig, manchmal fährt sie hin, um ihre ehemalige Klubkollegin Carola Nitschke zu besuchen, mit der sie befreundet ist. Manchmal kommt Nitschke nach Wien. Hier fühlt sich Christiane zu Hause und sehr wohl. Die Kinder sind erwachsen, Jenny (30) studiert Jus und ist parlamentarische Mitarbeiterin bei ÖGB-Vize Sabine Oberhauser (SPÖ), HTL-Absolvent Julian (19) rückt bald zum Bundesheer ein.

Einmal in der Woche versucht Sommer, zum Schwimmen zu kommen. Gottfried zuliebe, der Landesgeschäftsführer der sozialdemokratischen Gewerkschafter ist, hat sie mit dem Golfen begonnen, wobei ihr das 19. Loch (Klubhaus) das wichtigste ist. "Der Prosecco muss kalt sein." Weinliebhaber sind sie auch und oft in der Wachau unterwegs.

Vor drei Jahren wurde Sommer an der Wirbelsäule operiert, Bandscheibenprobleme samt Gesichtslähmung waren unerträglich geworden. Jetzt hat sie im Kreuz "von oben bis unten Implantate", die Ärzte hätten das sehr gut hingekriegt. "Kopfstand mach ich halt keinen mehr." (Fritz Neumann, DER STANDARD, 15.7.2013)