Bogaletch Gebre geht mit ausländischen NGOs, die in Äthiopien gegen Genitalverstümmelung auftreten, hart ins Gericht.

Foto: King Baudouin Foundation

STANDARD: Sie haben in Ihrer zentraläthiopischen Heimatregion, in der Sie mit Ihrer NGO arbeiten, die Rate der Genitalverstümmelungen (FGM) an Mädchen in nur zehn Jahren von 100 auf drei Prozent reduziert. Wie haben Sie das zustande gebracht? Und ist es nachhaltig?

Gebre: Es ist nicht nur nachhaltig, die Zahlen gehen sogar weiter zurück. Und das müssen sie auch. Es ist immer sehr schwierig, wenn Außenstehende kommen und Tabus ansprechen. Man muss den Dorfgemeinschaften vor allem zuhören. Und man muss seine eigenen Motive hinterfragen: Warum bin ich heute anders als diejenigen, mit denen ich spreche? Aufgrund der Bildung, der Informationen und der Möglichkeiten, die ich erhalten habe. Sonst wäre ich heute auch ein Mädchen, das durch diese Tortur gehen muss. Wenn also ich mich verändern kann, dann können sich auch meine Leute verändern. Das ist meine erste Annahme. Die zweite ist: Eltern wollen ihre Kinder niemals mit Absicht verletzen. Als ich beschnitten wurde, weinte meine Mutter.

STANDARD: Warum?

Gebre: Weil sie sich von dieser Tradition dazu verpflichtet fühlte, eigentlich dagegen war, sich aber nicht zu helfen wusste. Dabei steht es weder in der Bibel noch im Koran. Was ich will, ist nicht, dass Gemeinden FGM moralisch verurteilen, sondern dass sie begreifen, was diese Praktik ihren Kindern antut. Jeder kennt jemanden, der daran gestorben ist. Alle in der Dorfgemeinschaft, auch die Männer, leiden darunter. Wenn die Menschen das realisiert haben, beginnen sie zu diskutieren. Es ist die afrikanische Tradition, dass die Ältesten und dann alle Gemeindemitglieder zusammenkommen, um ein Problem zu besprechen. Es wird wieder und wieder beredet, aber nicht darüber abgestimmt, sondern letztlich ein Konsens erreicht. Wir haben es genau gleich gemacht - mit Themen wie Aids oder Genitalverstümmelungen. Nur dadurch ändern sich die Dinge, denn es ist die Entscheidung der Menschen, sich selbst zu ändern.

STANDARD: Wie genau muss man sich das vorstellen?

Gebre: Ich habe das erste Mal 1980 in unserer Kirche vor der Gemeinschaft gesprochen - auch vor den Ältesten, denen ich zuvor nicht ins Gesicht, sondern nur auf die Füße geschaut hatte. Ich habe sie gefragt, ob sie Christen sind. Ob Gott die Menschen perfekt geschaffen hat. Und ob es für Christen rechtens sein kann, in die Schöpfung Gottes einzugreifen und Frauen zu verstümmeln. Gott hat die Menschen so geschaffen, dass sie sich nicht selbst verletzen. Man kann sein Werk nicht korrigieren. Diese Argumentation hat die Brücke zu den Menschen gebaut. Bei muslimischen Gemeinden funktioniert das übrigens genauso.

STANDARD: Bekommen Sie Unterstützung für Ihre Arbeit von der Regierung in Addis?

Gebre: Das ist Afrika, und die afrikanische Demokratie besteht vor allem aus Lippenbekenntnissen. Man setzt Prinzipien fest und schafft es nicht, diese auch umzusetzen. Speziell dann, wenn es um kulturelle Traditionen geht. Die Macht der Ältesten ist oft stärker als die der politischen Demokratie.

STANDARD: Was halten Sie von den ausländischen NGOs, die nach Afrika kommen und den Menschen dort erklären, wie sie leben sollen?

Gebre: Ich will ehrlich sein: Unsere Armut und unser Elend sind zu einem Geschäft geworden. Wenn diese ausländischen NGOs nach Äthiopien kommen, schreiben sie auf, wo sie nicht überall Workshops abgehalten haben. Aber ihnen ist egal, was diese Workshops tatsächlich bewirken. Ob es nachhaltig ist und die Menschen überzeugt werden, ist gleichgültig. Es ist so traurig, dass wir im 21. Jahrhundert die Menschen noch immer so ignorieren. Deswegen wollen viele dieser NGOs nicht mit mir zusammenarbeiten, weil ich beide Seiten des Problems kenne und ihre Annahmen infrage stelle. Wie kann jemand, der aus Amerika nach Äthiopien entsandt wird, ein Experte für FGM sein? Bitte verzeihen Sie, aber ich habe Schwierigkeiten, das zu akzeptieren. (Christoph Prantner, DER STANDARD, 8.8.2013)