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Bei Madame Tussauds in Wien gibt es nun auch Anne Frank als 14-Jährige zu Bestaunen.

Foto: APA/Helmut Fohringer

"Neue Wege der Erinnerungskultur" beschwor Danielle Spera, Direktorin des Jüdischen Museums Wien, kürzlich bei der Enthüllung einer Wachsfigur der Anne Frank bei Tussauds im Prater. Speziell Kinder und Jugendliche sollten dadurch erreicht, berührt und zum Nachdenken angeregt werden.

Kann ein derart einfaches Bild, ein Mädchen an seinem Schreibtisch, dies erreichen? Ist ein Wachsfigurenkabinett, das sich noch heute explizit in der Tradition seines Stammhauses auch als Gruselkabinett sieht, ein möglicher Ort für die Erinnerung an sechs Millionen Opfer der jüdischen Shoah sein? Was erwartet BesucherInnen mit Kindern in dieser Ausstellung? Eine Probe aufs Exempel.

Woran wir uns erinnern

"Wer ist das?“, fragt das Kind, als wir an Arnold Schwarzenegger vorbei zur Kassa von Madame Tussauds im Wiener Prater gehen.

Wir erinnern uns: jener Anne Frank, die als deutsche Jüdin vor den Nazis fliehen musste und sich mit ihrer Familie zwei Jahre lang in einem Amsterdamer Hinterhaus versteckt hielt. Anne Frank war ein Kind. Als sie nach Verrat und Deportation im Frühjahr 1945 im KZ Bergen-Belsen starb, war sie 15 Jahre alt. Was aber, wenn schon dieses Wissen den BesucherInnen fehlt?

Zwei Mädchen – etwa im gleichen Alter wie Anne Frank zum Zeitpunkt ihres Todes – fotografieren sich im Eingangsbereich von Madame Tussauds gegenseitig mit der Wachsfigur von Kate Winslet. Sie versuchen dabei ähnlich sexy dreinzusehen wie die Schauspielerin. Dann laufen sie die Stiegen hinunter in ein imperiales Pappmachesetting, in dem schon Kaiser Franz Josef wartet. Akustisch wird die Szene von lautem Geigengeschrummel bestimmt.

"Verwenden Sie die Requisiten, um sich besser in die Rolle hinein versetzen zu können", lockt ein Schild. Daneben hängt ein Dreispitz zur freien Entnahme. Den will das Kind definitiv nicht. Wer weiß, wer den schon aufgehabt hat! Toll findet es hingegen, dass man die Wachsfiguren angreifen darf. Endlich einmal ein Museum, in dem "Nicht berühren" nicht gilt.

Kaiserin Elisabeth fehlt natürlich auch nicht. Das bereit gestellte Sonnenschirmchen mit Spitzenbesatz wird gerne verwendet, wenn sich die Besucherinnen mit Sisi fotografieren lassen. Weiter geht es staatstragend mit Leopold Figl, dem ersten österreichischen Bundeskanzler nach dem 2. Weltkrieg und Karl Renner, dem ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik. Bei beiden gibt ein gut sichtbares Schild einen groben Überblick über Person und Biografie. Dann, zur Linken, wird es auf einmal düster. Graues Mauerwerk ist angedeutet, es sieht fast aus wie nach einem Brand.

Die Figur ist unheimlich

Ein Durchbruch gibt den Blick frei auf ein Mädchen an einem Schreibtisch. Sie hat eine Füllfeder in der Hand, blickt aber von ihrem Schreiben auf – und lächelt. Ihr Lächeln steht in einem seltsamen Widerspruch zu der finsteren Umgebung. Grau die Wände, kein Fenster, ein schmales Bett an einen Stiegenaufgang gerückt. Ein brauner Koffer, an einem Haken an der Wand ein beiges Kleid mit weißen Blumen.

Das Kind sagt: "Schau wie eng das ist. Da sieht man, wie's ihr ging, nämlich richtig Scheiße." Die Figur ist ihm unheimlich. "Die schaut so komisch." Der zweite Sessel, der an Annes Schreibtisch gerückt wurde, bleibt meistens leer, auch das Kind will sich nicht setzen.

Requisiten, um sich in die Rolle hinein zu versetzen, gibt es hier keine. Nimmt man Platz, sieht man Annes Lektüre auf einem kleinen Bücherbord: "Sinnen und Minnen" von Robert Hammerling, "Jost Seyfried" von Cäsar Flaischler und zwei Bände von Heinrich Heine. Auf dem Tisch ein hölzernes Federpenal mit Stiften, Pinseln und einem Glas mit Tinte. Dem Kind fällt etwas auf: "Wenn Du genau schaust, siehst Du, dass das alles mit Superkleber angeklebt wurde, der quillt überall darunter hervor." Im Werkunterricht würde eine derartige Lieblosigkeit nicht durchgehen.

Über dem Schreibtisch hängt ein kleines Bild, eine gedruckte Reproduktion eines Werkes von dem Barockmaler Bartolomé Esteban Perez Murillo. Es zeigt auf der Straße spielende Kinder.

Anne Frank inspiriert Justin Bieber

Justin Bieber wäre enttäuscht. Anne hat nur die Fotos von weiblichen Stars an die Wand geklebt. Der Mädchenscharm hatte im April für heftige Diskussionen um die richtige Erinnerungskultur gesorgt, als er bei einem Besuch des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam ins Gästebuch schrieb: "Wirklich inspirierend hier her zukommen. Anne war ein tolles Mädchen. Hoffentlich wäre sie ein Belieber (Bieber-Fan, Anm. der Redaktion) gewesen." Im Wiener Kabinett wirken die aufgehängten Bilder der Stars seltsam achtlos heraus gerissen. Man möchte kaum glauben, dass Anne sie nicht sorgfältig mit der Schere ausgeschnitten hat. Ist das eine weitere Achtlosigkeit der Ausstellungsmacher oder penible Rekonstruktion? Nach der Sache mit dem Superkleber befürchtet man eher Ersteres.

"Solange es das noch gibt, diesen wolkenlosen blauen Himmel, darf ich nicht traurig sein", wird Anne Frank auf der Infotafel zitiert. Diese sehen die Besucherinnen aber erst, wenn sie den Raum betreten haben. Im Unterschied zu den anderen Inszenierungen hängt die Beschreibung nicht sofort ersichtlich bei der Wachsfigur, sondern in der Ecke des rekonstruierten Zimmers. Gerade dort, wo am meisten Information von Nöten wäre, wird die wenige, die angeboten wird, auch noch versteckt. Von außen könnte man vorbei schlendern und nie erfahren, wer das lächelnde Mädchen ist, das da an seinem Schreibtisch sitzt, das linke Bein leicht angewinkelt.

Wir erinnern uns nicht

"Magst Dich daneben setzen und Tagebuch schreiben?", fragt eine junge Frau ihre Freundin. "Nein, lieber nicht", sagt die und geht weiter. Eine ältere sagt in breitem Oberösterreichisch zu ihrem Mann: „Am End hams as doch dawischt" – und schüttelt den Kopf. Darauf er: "Wen?" Ihre Worte werden beinahe von der österreichischen Bundeshymne übertönt. Akustisch schlägt nämlich Leopold Figl von nebenan durch.

Drei Teenager stürmen herbei. Die eine: "Wer ist das?" Die andere: "Ist ma Wurscht. Ich will a Foto machen, wer auch immer das ist." Sie machen ein Foto mit ihrem Smartphone.

Eine Frau mittleren Alters geht vorbei und sagt mit deutschen Akzent: "Das Tagebuch der Anne Frank, das gab' s doch gar nicht."

Oskar Schindler steht daneben und schweigt. Auch Karl Marx widerspricht nicht. Josef Ratzinger zuckt nicht mit der Wimper.

Am besten gefallen hat dem Kind das Büro von Barak Obama. Da klingelt das Telefon und man darf den Hörer abnehmen. Fotografieren lassen wollte es sich aber dann doch lieber mit George Clooney. Es findet, Madame Tussauds ist ein Ort des Vergnügens. Was Anne Frank hier verloren hat, versteht es nicht. (Tanja Paar, dieStandard.at, 18.9.2013)