Bonal über die Demokratisierung von Bildung: "Wer heute denselben Bildungsabschluss hat, den seine Eltern hatten, weiß welche Abwertung in der Zwischenzeit erfolgt ist."

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Xavier Bonal kritisiert die Armutsbekämpfungsstrategien der Weltbank stark. Bildungsinvestitionen würden auf einer oberflächlichen Analyse des Ist-Zustandes basieren und "nicht notwendigerweise" Verbesserungen für Menschen unter der Armutsgrenze bringen. Mit seinem ForscherInnenteam untersucht der Professor für Bildung und internationale Entwicklung die Auswirkungen von Armut auf Bildung. Er schlägt vor, dass sich staatliche Reformbemühungen mehr auf den außerschulischen Bereich konzentrieren und den Unterschied zwischen Bildungschancen und Lernmöglichkeiten erkennen.  Vergangene Woche war er auf Einladung des Paulo Freire Zentrums zu einem Gespräch über die "Entwicklungsmacht Bildung" in Wien.

dieStandard.at: Bildung wird oft als das beste Mittel zur Armutsbekämpfung gelobt. Warum würden Sie widersprechen?

Bonal: Ich würde nicht komplett widersprechen. Aber wir müssen viele andere Dinge berücksichtigen bevor wir verstehen können wie Bildung helfen kann, Armut zu reduzieren. Wir haben nicht all die notwendigen Informationen dazu. Zuerst müssten wir die Effekte von Armut auf Bildung untersuchen.

dieStandard.at: Wird bei der Armutsbekämpfung von falschen Annahmen ausgegangen?

Bonal: Wir kritisieren einige der Argumente der Humankapital-Theorie. Die entstand in den 60er Jahren und hat seitdem die Bildungspolitik der Weltbank maßgeblich beeinflusst.  Dabei wird davon ausgegangen, dass Bildung für das Wirtschaftswachstum gut ist, für die Bekämpfung von Armut und sogar zum Beseitigen von Ungleichheiten – was wir sehr hinterfragen können.  Bildungsinvestitionen würden sich doppelt lohnen: Wenn du besser gebildet bist, dann verdienst du besser, du lebst sogar gesünder, weil du mehr Informationen darüber hast, wie. Gleichzeitig profitieren wir alle als Gesellschaft davon, etwa in Umweltbelangen oder im Hinblick auf die Kriminalitätsrate. Die Humankapital-Theorie geht davon aus: Investiere einfach in Menschen, in Humankapital, und du erhältst die erwarteten Gegenleistungen.

dieStandard.at: So einfach ist es Ihrer Ansicht nach nicht?

Bonal: Nein. Im vergangenen Jahrzehnt ist die durchschnittliche Ausbildungsdauer von zwölf Schuljahren auf mehr als 13 Schuljahre gestiegen. Und der Nutzen davon?  Selbst wenn das Bildungsniveau der Armen steigt, steigt damit ja das Bildungsniveau aller. Wer heute denselben Bildungsabschluss hat, den seine Eltern hatten, weiß welche Abwertung in der Zwischenzeit erfolgt ist. Wir können also nicht sagen, wenn wir das Bildungsniveau aller sozialen Gruppen anheben, wird das den Armen helfen. Nicht notwendigerweise.

dieStandard.at: Was steckt hinter dem Ansammeln von Titeln, wie es derzeit oft zu beobachten ist? Wer nicht mindestens einen Master hinter seinem Nachnamen stehen hat, fällt auf.

Bonal: Durch diesen Prozess der Demokratisierung von Bildung und das Vordringen von immer mehr sozialen Gruppen in immer höhere Bildungsniveaus, versuchen sich einige Gruppen - meist aus dem Mittelstand - von diesen durch immer mehr Bildung zu unterscheiden. Dabei werden aber auch die Dinge, die man nicht in der Schule lernt, immer bedeutender. Man investiert etwa in Dinge, die nicht direkt in Zusammenhang mit dem Bildungsniveau stehen, die aber am Arbeitsmarkt gut ankommen. Da geht es um Persönlichkeitsentwicklung, der Schulung bestimmter Fähigkeiten, um Sozialkapital.

dieStandard.at: Sie fragen nach jenen Einflussfaktoren, die Lernen verunmöglichen.

Bonal:  Wir haben das Konzept der 'Ineducability' entwickelt. Dabei geht es darum, sich die sozialen, emotionalen und materiellen Lernbedingungen der Kinder anzusehen. Denn können Kinder lernen, wenn sie hungrig sind? Wenn sie nicht die notwendige Kleidung haben, um in die Schule zu gehen? Das alles sind Dinge, die ihre Möglichkeiten stark beeinflussen. Genauso die Frage, ob sie in einer gewaltbereiten Umgebung aufwachsen.

dieStandard.at: Sie haben dafür eine große Anzahl an Interviews, Fokusgruppengesprächen und Beobachtungen in Lateinamerika durchgeführt. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?

Bonal: Studien über den Einfluss von Gewalt in der Familie oder in der Nachbarschaft auf die Lernfähigkeit haben gezeigt: Selbst wenn man gute Lehrer und gute Schulbücher zur Verfügung stellt, die Kinder sind blockiert. Denn das Gewaltproblem wurde damit nicht gelöst. Es muss also integrativ gearbeitet werden. Die Probleme werden nicht einfach damit gelöst, in Bildung zu investieren.

dieStandard.at: In die Bildung von Frauen wird ja viel Hoffnung gesetzt, um Entwicklungsziele zu erreichen. Ist sie berechtigt?

Bonal: Die Bildung von Mädchen ist sehr bedeutend. Denn noch immer gibt es große Unterschiede zwischen Mädchen und Buben, was den Zugang zum Schulsystem betrifft. Wenn man sich die Drop outs ansieht, da gibt es mehr Buben als Mädchen. Aber Mädchen werden immer noch, besonders aus kulturellen Gründen, vom Schulunterricht ausgeschlossen. Dabei würde es einen wirklichen Unterschied machen, wenn wir Mädchen durch Bildung stärken würden. Wir wissen, dass die Bildung von Frauen sehr großen Einfluss auf viele andere Variablen, wie etwa den Gesundheitsbereich hat.

dieStandard.at: Was kann von staatlicher Seite dafür getan werden, mehr Chancengleichheit durch Bildung zu erreichen?

Bonal: Ich glaube, die öffentliche Hand sollte wirklich ein Auge auf den außerschulischen Bereich  werfen. Und erkennen, dass es, wenn wir über Chancen reden, nicht nur um Bildungschancen geht, sondern auch um Lernmöglichkeiten. Wir müssen erkennen, dass einige Kinder zwar dieselben Bildungserfahrungen haben, manche von ihnen aber außerschulische Erfahrungen machen, die sich extrem positiv auf ihr Lernen auswirken. Während andere zu Hause sind, häufig ohne ihre Eltern.

dieStandard.at: Warum finden diese Faktoren so wenig Berücksichtigung bei der Suche nach Strategien zur Armutsbekämpfung?

Bonal: Wenn wir uns die neuen Strategien der Weltbank für 2020 ansehen, dann haben sie darin auch bemerkt, dass der Zugang zu Schulbildung nicht genug ist. Sie haben erkannt, dass es nicht genug ist, wenn Kinder mit ihren Büchern hinter ihren Pulten sitzen. Aber sie konzentrieren sich immer noch so sehr auf das formale Schulwesen. Um zu verstehen, wieso ein Kind nicht lernen kann, bedarf es aber einer komplexeren Vorgehensweise.

dieStandard.at: Es werden also die falschen Methoden angewandt?

Bonal: Die Weltbank arbeitet vor allem mit quantitativen Analysen. Sie versuchen zwar, vermehrt qualitative Instrumente einzusetzen, aber sie glauben nicht daran. Das sind vorwiegend WirtschaftswissenschafterInnen, so wie ich, aber sie konzentrieren sich auf große Datenpools. Das erlaubt ihnen aber nicht, die Vielfalt der Probleme zu verstehen.

dieStandard.at: Wie arbeiten Sie?

Bonal: Wir versuchen, quantitative und qualitative Analyse zu kombinieren. Etwa in Brasilien, wo wir die Auswirkungen von politischen Maßnahmen zur Armutsreduzierung untersucht haben. Dort erhalten Mütter Geld, um ihre Kinder in die Schule zu schicken. Wir wollten sehen, welche Auswirkungen das auf die Reduzierung von Armut hat.

dieStandard.at: Zu welchen Erkenntnissen sind Sie gelangt?

Bonal: Mit dieser Untersuchung konnten wir zeigen, dass es eine große Vielfalt unter armen Menschen gibt. Wenn wir einen Bericht der Weltbank lesen, dann werden arme Leute dort als eine homogene Gruppe behandelt. Nach dem Motto: Die sind arm, unter der Armutsgrenze, also alle gleich. Aber wenn man ein bisschen weitersucht, zeigt sich eine enorme Vielfalt. Viel mehr als bei Menschen des Mittelstandes. Es gibt viele Arten, arm zu sein! Das bedeutet im Umkehrschluss, dass es auch viele Wege gibt, um diese Armut zu überwinden.

dieStandard.at: Was entdeckten Sie unter der Oberfläche?

Bonal: Es gibt viele Geschichten darüber, wie der Geldtransfer das Leben der Leute beeinflusst. Manche Mütter schaffen es, mit Hilfe des Geldes aus dem Elend und können sich grundlegende Dinge zum Überleben kaufen. Andere investieren damit, nehmen Mikrokredite und überwinden die Armutsgrenze. Ein sehr interessanter, bislang kaum erforschter Effekt ist, wie sich der Geldtransfer auf das Selbstbewusstsein der Mütter auswirkt.

dieStandard.at: Wie denn?

Bonal: Eine Mutter, die wir interviewt haben, hat das Geld dafür verwendet, zum Friseur zu gehen. Der Lehrer des Kindes hat sich sehr darüber aufgeregt. Dieser Friseurbesuch hat aber das Selbstbewusstsein der Mutter sichtlich gestärkt. Und ist dieser Effekt nicht wesentlich besser, als wenn sie damit einen Bleistift gekauft hätte? (Karin Riss, dieStandard.at, 29.9.2013)