Böse Zungen mögen behaupten, dass der Reise-Riese TUI mit dem Marathon in Palma den Versuch unternimmt, jenes Image, das die Heerscharen der Pauschal- und Sauftouristen des Ballermanns einer der schönsten Inseln des Mittelmeeres in den vergangenen Jahren verpasst haben, zumindest ansatzweise zu korrigieren.

Bloß: Wer bei "Mallorca" ohnehin nur die unheilige Allianz von Jürgen Drews, Mickie Krause, "Bierkönig" und Oberbayern" assoziiert, an dem geht alles, was Mallorca sonst zu bieten hat, spurlos vorbei: Malerische Berg- und Fischerdörfer, idyllische Strände, traumhaften Wandertouren und anspruchsvollen Kletterrouten.

Wer das Klischee sucht, der kriegt das Klischee. Weil er nie über die eineinhalb Kilometer Ballermann hinaus kommt - und schon am Weg vom Flughafen ins Plattenbauhotel zu besoffen ist, um die großen Rudel an Rennradfahrern auf den Straßen oder die Langläufer im Sommertraining überhaupt zu bemerken.

Auch der Marathon von Palma geht an dieser Klientel spurlos vorüber. Aber - arrogant und ehrlich gesagt: Na und?

"Malle" also. Und der erste Eindruck bestätigt das Klischee nicht nur - er zementiert es ein. Bettenburg. Blade Pensis. Verteilungskämpfe und die Angst, im All-Inc-Paradies zu kurz zu kommen: Urlaub bedeutet Krieg.

Krieg um die frühmorgens reservierte Liege. Krieg am Buffet. Krieg gegen den Kellner. Krieg gegen den Straßenhändler. Krieg gegen die lauten Nachbarn am Strand. Krieg gegen die Koberer vor den einschlägigen Saufbuden. Urlaub ist affirmativ: Man fährt weg, um es zu haben wie daheim - aber daheim ist es halt doch besser.

Darum ist klar: Niemand lächelt. Niemand wirkt so, als wäre er gern hier. Das gilt auch fürs Personal: Nach einer langen Saison unter schlecht gelaunten Menschen mit latenter Herrenmenschenattitüde ist man ausgelaugt.

Wir sind zum Glück nur zum Schlafen hier. Ein Kurzbesuch im Sozialaquarium. Das geht. Aber die Vorstellung, eine oder zwei Woche so zu verbringen: "The Horror. The Horror.".

Foto: Thomas Rottenberg

Der Strand. Es ist Nachsaison - also eh schon die superharmlose Version von dem, wofür "Ballermann" steht. Aber auch das ist schlimmschlimmschlimm. Ich bin zum zweiten Mal hier. Und auch heuer wieder fassungslos. Andererseits: Wenn all diese Menschen sich auf den Ballermann-Bereich konzentrieren, hat das auch etwas Gutes. Weil der Rest dieser wundervoll-wunderschönen Insel von derlei Figuren und Umtrieben verschont bleibt. Nennen Sie mich arrogant: In diesem Fall stehe ich dazu.

Foto: Thomas Rottenberg

Mallorca ist das, was man draus macht. Und das geht sogar am Ballermann: Die Kommentare der Besoffenen lassen sich bei den kurzen Aklimatisierungsläufen gut ausblenden. Und weiter, als bis zum Strandabschnitt und den Kneipen direkt vor ihren Hotels, kommt das klassische Ballermann-Publikum ohnehin nicht. Wir schon.

Foto: Thomas Rottenberg

Samstag. Der Tag vor der 10. Auflage des TUI-Marathons. Ex-Laufprofi Michael Buchleitner hat uns - eine Gruppe aus rund 15 Journalisten und Bloggern - in vier Monaten zur Marathonreife geführt. Oder zu Halbmarathonreife.

Oder zu 10-km-Reife. Für manche ist es der allererste Laufbewerb überhaupt: Bei über 25 Grad eine hügelige und kurvenreiche Strecke mit vielen U-Turns und unebenem Kopfsteinpflaster als Wettbewerbs-Initiation zu erleben, ist aufregend - auch wenn es sich heuer so ergeben hat, dass keiner aus der Gruppe die volle Distanz laufen wird.

Ich bin für die 42 Kilometer angemeldet, aber Berlin und die kleinen Unfälle dieses Jahres sprechen dagegen. "Gönn dir lieber einen feinen und lockeren kürzeren Lauf, als irgendwas zu riskieren", rät Buchleitner. Er hat natürlich recht. Auch weil das dritte Viertel der Strecke einfach nicht schön ist: Da rennt man auf der Straße durch ein Industrieviertel - ohne Chance, der Sonne oder dem Wind zu entgehen.

Foto: Thomas Rottenberg

Langstreckenläufe - egal welche Distanz, "lang" ist immer subjektiv - verliert oder gewinnt man lange vor dem eigentlichen Rennen: Die Vorbereitung und das Kennenlernen der eigenen Grenzen ist ein Aspekt. Das, was im eigenen Kopf abläuft, ein anderer. Und dann ist da immer die Frage nach dem richtigen Futter: Manche Speicher kann man unterwegs auffüllen. Andere nicht: "Carboloading" ist mehr als nur der gesellig Aspekt der traditionellen "Pastapartys".

Foto: Thomas Rottenberg

Sonntag. Der Tag des Rennens. Das gemeine Volk drängelt sich bereits im Startbereich. Aber unsere Journalistentruppe genießt das Tripple-A-Service im VIP-Bereich. Massagen. Saubere Klos ohne Warteschlangen. Catering im Zelt und an den Stehtischchen.

Als ich mir einen Espresso und ein Croissant mit Nutella schnappe, hebt Buchleitner kurz die Augenbraue. Wie Mr. Spock. Aber er muss dabei selbst grinsen: 21 Kilometer. Gemütliches Tempo. Das ist ein Genusslauf, kein olympischer Wettkampf.

Foto: Thomas Rottenberg

Das sieht man - wenn man weiß, worauf man achten muss - auch beim Start der Volldistanz: Der TUI-Marathon ist ein familiärer und entspannter Lauf. Ein Rennen an einem Urlaubsort, zu dem man zum Saisonende mit Kind & Kegel anreist - um vielleicht auch noch ein paar Badetage zu erwischen. 

Streckenführung und Temperatur sprechen hier gegen Spitzenzeiten. Darum treten in Palma auch keine international namhaften Eliteathleten an. Der Veranstalter zahlt Spitzenläufern keine Startgelder: Ich entdecke keinen einzigen afrikanischen Läufer in der ersten Gruppe, die um Punkt neun Uhr morgens als erste ins Rennen geht.

Foto: Thomas Rottenberg

10 Minuten nach der Volldistanz, starten die Läufer des Zehnkilometerlaufes. Knapp über ein Drittel der 11.000 Gemeldeten ist damit auf der Strecke. Zehn Minuten später ist Halbmarathonstart. Buchleitner hat Peter, dem Kollegen von den Oberösterreichischen Nachrichten, versprochen, ihm den Tempomacher zu machen.

Unter einer Stunde 30 lautet Peters Ziel. Er war zwar schon deutlich schneller - aber in Palma ist das alles andere als einfach.

Foto: Thomas Rottenberg

Fabian läuft das allererste Mal einen Bewerb. Er zieht beim Start ab, als würde er dafür bezahlt. Nach fünf Kilometern hat er bereits knapp eine Minute Vorsprung auf mich.

Und als wir uns an einer Schleife wieder sehen, ist er schon so in seinem Fluss und Tempo und läuft mit einem so strahlenden und entspannten Lächeln, dass ich ihm am liebsten jetzt schon zu seiner Super-Einstandszeit gratulieren möchte (er wird seinen ersten Halbmarathon in weniger als 1:40 beenden).

Foto: Thomas Rottenberg

Die Strecke ist nicht einfach: Am Anfang geht es gleich einmal ein paar Kilometer sanft bergauf. Manche Wenden sind echt eng, das frisst Tempo und Kraft.

Und im dichten Gegenverkehr des Hauptfeldes mit anderen Läufern fühlt sich nicht jeder wohl. Aber es schaut fein aus. Und es macht Spaß einander unterwegs ein paar Mal wieder zu sehen.

Foto: Thomas Rottenberg

7 Kilometer. Ein Drittel durch. Alles locker. Alles im Plan. Und die Wolken sind ein Segen: Im Vorjahr kam pünktlich zum Start die Sonne durch. Ein paar Läufer riefen "Juhu". Nach spätestens drei Kilometern wussten sie aber, wieso ihnen die anderen den Vogel zeigten.

Foto: Thomas Rottenberg

Die Strecke führt von der Stadt zunächst den Hafen entlang nach Westen, hinauf aufs Castell. Und dann wieder zurück: Ein zweites Mal kommen wir am Hafen vorbei.

So, als wollten uns die Routenplaner zeigen, dass es in Mallorca eben auch alles andere, als die Billigbettenburgsaufkopf-Strandszenerie gibt: Im nächsten Leben werde ich Milliardär und gönne mir hier einen Liegeplatz. Wie ich zu meinem Geld gekommen bin, fragt nämlich keiner - sonst schmeiße ich ihn von der Yacht. Aber nicht im Hafen.

Foto: Thomas Rottenberg

Wir sind noch keine zehn Kilometer weit - und es gibt schon erste ernsthafte Ausfälle. Das sollte zwar nicht, kann aber doch, passieren. Jedem: Ein schlechter Tag. Zu wenig Schlaf. Was Falsches gegessen. Sich an eine nur einen Tick zu schnelle Gruppe angehängt.

Eine nicht ganz auskurierte kleine Grippe. Das Wetter nicht gewohnt ... Es gibt 1000 Gründe, wieso ein Rennen total in die Hose gehen kann. Und wer glaubt, gegen all das gefeit zu sein, ist ein guter Kandidat, selbst so zu enden.

Foto: Thomas Rottenberg

Superman kann nicht fliegen. Aber er läuft. (Und für den Zielsprint hat er dann tatsächlich noch sein Cape ausgepackt und umgehängt.)

Foto: Thomas Rottenberg

In Berlin spielten 150 Kapellen und Bands entlang der Marathonstrecke. In Palma sind es vielleicht 15. Und wo Berlin trommelt, wird in Mallorca meist Flamenco getanzt. Manchmal auch Samba. Ich bin ja eher der Mariachi-Freund.

Foto: Thomas Rottenberg

Palmas Altstadt ist wunderschön. Aber über den Bodenbelag sollten wir nochmal reden: Das historische Kopfsteinpflaster mag zwar Authentizität vermitteln - aber "authentisch" ist gleichbedeutend mit „holprig". Wer sich zuvor über 17 Kilometer hinweg abgewöhnt hat, bei jedem Schritt aufzupassen, wie und wo er auftritt, kann hier sehr schnell seine höllischen Wunder erleben.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich bin zwar hier, um zu laufen - aber das heißt nicht, dass ich es eilig habe: Soviel Zeit muss sein.

Foto: Thomas Rottenberg

Preisfrage: Wie schießt man sich nach 20 Kilometern elegant aus einem Wettkampfklassement? Ganz einfach: Man verlässt sich drauf, dass die Zeitnehmer - so wie noch vor zwei Jahren - auch in Palma auseinander dividieren, wer für die volle Distanz angemeldet ist aber dann nur die halbe Distanz läuft.

In Wien wird das vom Veranstalter ja sogar aktiv als Service beworben. Aber Palma ist eben nicht Wien: Wer hier nicht rennt, wo er angemeldet ist (oder sich vor dem Start ummeldet), ist raus. Selber Schuld. Und im Grunde ist das ja auch richtig so.

Foto: Thomas Rottenberg

Der Weg zum Ziel führt dann wieder die Uferpromenade entlang. Und während es in der Altstadt meist schattig war, knallt hier die Sonne ordentlich runter. Auf der Volldistanz stünde jetzt die bereits zurückgelegte Strecke noch einmal am Programm - aber eben in der prallen Sonne.

Es ist noch nicht einmal elf Uhr - und es hat bereits 27 Grad. Im Schatten, wohlgemerkt.

Foto: Thomas Rottenberg

Noch 150 Meter. "Lächeln!" ruft mir Flo, der TUI-Fotograf zu. Ist der Mann blind? Ich lächle doch eh. Geradezu hutschpferdesk.

Foto: TUI

21 Kilometer. Bei diesem Schild werden Müde munter. Lahme können plötzlich gehen. Wer nur noch kroch, wird jetzt zum Sprinter: Die paar Sekunden, die man da noch rausschinden kann, sind zwar vollkommen wurscht - aber so ticken die Menschen nun mal. Natürlich nur die anderen.

Foto: Thomas Rottenberg

Ok, das hätten wir also auch wieder mal geschafft. War ja eigentlich nur halb so wild. Der Mann rechts hinten sieht das vielleicht nicht ganz so.

Foto: Thomas Rottenberg

Taktisches KO - ein Lehrstück: Ich bin ziemlich sicher, diesen Mann bei Kilometer 16 überholt zu haben. Er klebte sich ab da an meine Fersen. Ab Kilometer 18 hörte ich sein Schnaufen sogar über meinen Retro-Bummbumm-Mix aus Courtney Love, Wir sind Helden, Chili Peppers, Smashing Pumpkins & Co. Bei Kilometer 18,5 überholte uns ein Trupp Soldaten.

Es ging ziemlich steil bergab - und er klinkte sich in die Gruppe ein. Etwa bei Kilometer 19,5 ging es wieder bergauf. Nur kurz. Bei der 20-Kilometer-Marke holte ich ihn wieder ein: Der Mann konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten - da lief nur noch der Autopilot. Das Foto entstand ziemlich genau sieben Minuten, nachdem ich im Ziel angekommen war. Der Krankenwagen war eine Minute später schon da.

Foto: Thomas Rottenberg

Futter fassen. Auch wenn man es nicht sofort spürt und derartige Distanzen nicht zum ersten Mal läuft: 2000 verbrannte Kalorien wollen - nein: müssen - wieder rein. Nur weil man es über die Ziellinie geschafft hat, heißt das noch lange nicht, dass der Körper nicht doch noch auf die Idee kommt, w.o zu geben.

Nebenbei: Darüber, ob Bananen jetzt von Gott kommen oder Teufelszeug sind, können die Gurus und Experten tagelang streiten. Das Fazit lautet dann zwar fast immer "das muss jeder für sich selbst rausfinden" - aber da Gurus den Anspruch stellen, absolute Wahrheiten zu verkünden, kann und wird das natürlich keiner je zugeben.

Foto: Thomas Rottenberg

Zurück an die Strecke. 500 Meter vor der Ziellinie. Nadine ist in Palma ihren ersten Halbmarathon gelaufen. Kathrin ihren dritten.  Dass die beiden da vorher und unterwegs so ziemlich alles richtig gemacht haben, zeigt der erste Blick - und der Vergleich: Klar, die Dame in Grün kommt auch ins Ziel.

Aber die Gesichter der drei Frauen erzählen zwei komplett unterschiedliche Geschichten von diesem Vormittag.

Foto: Thomas Rottenberg

"Haben wir das gerade wirklich getan?"

Foto: Thomas Rottenberg

Sonntag, 20. Oktober. 12 Uhr 30. Nicht nur im VIP-Bereich des 10. TUI-Marathons sind Finisher-Shirts und Medaillen omnipräsent - die ganze Stadt ist Siegerzone: 11.000 Starter - und fast 11.000 Sieger, bevölkern die Strandpromenade, die Cafés, die Ramblas, die Restaurants, Boutiquen und Clubs. Nordicwalker, Kidsrun-, Viertel-, Halb- und Marathonfinisher dominieren das Stadtbild.

Und gerade weil der Bewerb weniger schnell und "sportlich" als gemütlich, amikal und familiär ausgerichtet ist, stört auch die Farbcode-Verwechslerei bei der Medaillenausgabe niemanden.

Im Gegenteil: Dass allem Anschein nach keiner mehr weiß, welches Band ursprünglich für welchen Bewerb vorgesehen war, ist nicht bloß egal, sondern auch eine Botschaft: Jeder hat gewonnen. Und zwar gegen den einzigen Gegner, der zählt: Sich selbst. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 23.10.2013)

>> polarpersonaltrainer.com

(Die Reise und die Trainingsvorbereitung der Gruppe waren eine Einladung von TUI. Die Flüge wurden von Niki/airberlin gestellt.)

Foto: Thomas Rottenberg