Der New Yorker Soziologe und Männlichkeitsforscher Michael Kimmel.

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STANDARD: Wie kann man Männer für Feminismus begeistern?

Kimmel: Wenn Männer an Geschlechtergleichstellung denken, glauben die meisten, es habe nichts mit ihnen zu tun. Manche glauben auch, wenn die Frauen gewinnen, verlieren wir. Andere hören von Geschlechtergleichstellung und denken sich: Okay, das ist der Sei-nett-zu-den-Ladies-Tag. Hören wir ihnen ein bisschen zu und dann können wir wieder Fußball schauen gehen. Am besten sind noch die, die sagen: Okay, wir verstehen, worum es geht. Ich sage allen: Das geht euch auch an, hier geht es um eure Beziehungen zu euren Freunden, Kindern, Partnerinnen, Ehefrauen, zu euch selbst. Feminismus ist tatsächlich eine feine Sache für uns Männer.

STANDARD: Können Sie das durch handfeste Beispiele erläutern?

Kimmel: Nehmen wir Männer im Haushalt. Je mehr Männer die Hausarbeit mit ihren Frauen teilen, desto glücklicher, gesünder und besser in der Schule sind ihre Kinder, desto glücklicher und gesünder sind ihre Frauen und sie selbst. Und: Tatsächlich haben diese Männer mehr und besseren Sex. Also da gibt es viele Gründe.

STANDARD: Das ist alles statistisch erwiesen?

Kimmel: Worauf Sie wetten können. Raten Sie mal, welches der Argumente Männer am stärksten überzeugt.

STANDARD: Ich habe einen Verdacht.

Kimmel: (lacht) Genau!

STANDARD: Seit wann wird die Rolle der Männer im Gleichstellungsprozess erforscht?

Kimmel: In den USA wurde die National Organisation for Women 1966 gegründet. Zehn Jahre ging es da nur um Frauen. Doch langsam begannen Männer zu sagen: Wenn sich Frauen so sehr verändern, dann müssen wir uns wohl auch überlegen, welche Rolle wir spielen. Die meisten von uns – um ehrlich zu sein – fingen damit an, weil die Frauen in unserem Leben sagten: Klemm dich dahinter.

STANDARD: Sie auch?

Kimmel: Aber sicher!

STANDARD: Sie schreiben, dass Privilegien unsichtbar sind für jene, die sie haben. Wo zum Beispiel?

Kimmel: Als Student hörte ich in einem Feminismusarbeitskreis ein Gespräch zweier Frauen, das alles für mich veränderte. Eine war schwarz, die andere weiß. Die Weiße meinte, dass alle Frauen die gleiche Unterdrückung erlebten, deswegen verbinde sie eine intuitive Solidarität. Die Schwarze sagte: "Da bin ich nicht so sicher. Wenn du in den Spiegel siehst, was siehst du?" Die Weiße antwortete: "Eine Frau." Die andere: "Ich sehe eine schwarze Frau. Für dich ist die Rasse unsichtbar, für mich nicht." So funktionieren Privilegien. Wer sie hat, sieht sie nicht. Ich seufzte, ich wusste, wenn ich in den Spiegel sah, war da ein Mensch. Ohne Rasse, Klasse oder Geschlecht. Geschlecht sichtbar machen, bedeutet Macht sichtbar machen.

STANDARD: Es scheint, dass die Gesellschaft in Sachen Rassismus schon viel weiter sensibilisiert ist – auch wenn noch viel zu tun ist – als in Sachen Sexismus. Warum?

Kimmel: Da gibt es zwei Antworten. In beiden Fällen versuchen Menschen die Verantwortung von sich zu schieben. Sie sagen, das ist nicht mein Problem, meine Familie hatte nie Sklaven gehalten oder – im Falle von Geschlechtergleichstellung: Nicht mein Problem, ich habe noch nie jemanden vergewaltigt. Trotzdem genießen sie die Privilegien, es ist kein System, aus dem man sich freikaufen kann. 

Aber es ist wahr: Rassismus ist heute in der Gesellschaft viel weniger akzeptabel als Sexismus. Da gibt es ein Beispiel: 2008, während des Präsidentschaftsvorwahlkampfes, als Obama gegen Hillary Clinton kämpfte, kam jemand zu einer Clinton-Veranstaltung und hielt ein Schild in die Höhe, auf dem stand: "Bügle mein Hemd!" Es war kein großes Thema in den Medien. Stellen sie sich vor, eine weiße Person wäre bei einer Obama-Veranstaltung aufgestanden und hätte ein Schild mit "Polier meine Schuhe!" hochgehalten. Das wäre auf den Titelseiten gewesen.

STANDARD: Warum ist das so? Weil alle Menschengruppen ihre Frauen unterdrückt haben?

Kimmel: Ja, aber auch, weil sich die Ideologien hinter Rassismus und Sexismus etwas unterscheiden. Rassismus fußte auf der Theorie, dass Schwarze und Weiße biologisch anders wären. Das hat sich als völliger Humbug herausgestellt. Heute weiß das jeder. Aber man kann noch immer daran glauben, dass Frauen und Männer biologisch unterschiedlich sind. Diese Basis der sexistischen Ideologie, dass Gott oder die Natur uns durch wesentliche biologische Unterschiede auf bestimmte Rollen festgelegt hätten, ist noch immer in vielen Köpfen. Für Rassismus haben die Leute keine religiöse oder biologische Rechtfertigung mehr. Das ist der Unterschied.

STANDARD: Aber was ist anerzogen und was wirklich "biologisch"?

Kimmel: Die Frage ist: Was machen diese Unterschiede für einen Unterschied? Bei Männern und Frauen ist die Schnittmenge der Gemeinsamkeiten größer als jene der Unterschiede. Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen untereinander sind jeweils viel größer. Manche Frauen wollen Gehirnchirurginnen werden, andere Hausfrauen sein. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, zu sagen, sie müssen das jeweils andere tun.

STANDARD: Und Männer?

Kimmel: In den 1970ern ordneten Psychologen den Geschlechtern Eigenschaften zu: Sie kodierten durchsetzungsstark, kompetent und ehrgeizig als maskulin. Feminin war: nährend, liebevoll und gütig. Die Frauen sagten: Ja, wir sind nährend, liebevoll und gütig, aber auch das andere. Die Männer reagierten nicht sofort. Jetzt tun sie es.

STANDARD: Wären Männer nicht auch liebevoll, würde sich wohl niemand in sie verlieben.

Kimmel: Na, da bin ich mir nicht so sicher. Aber, Sie würden sie nicht in die Nähe Ihrer Kinder lassen. Wer Männer als Mitspieler in der Gleichstellung will, muss akzeptieren, dass sie ganze Menschen sein können. Genau das fordern ja auch die Frauen für sich.

STANDARD: Wie schaut es bei Gewalt an Frauen aus? Glauben Sie, dass Gleichstellung diese Gewalt eindämmen kann?

Kimmel: Ich glaube das nicht, ich weiß es. Dazu haben wir Zahlen und Fakten. In Gesellschaften, die in der Geschlechtergleichstellung besser dastehen, gibt es weniger Gewalt von Männern gegen Frauen, auch weniger Vergewaltigungen. So simpel ist das. Gewalttätigkeit hat nämlich nichts mit Testosteron zu tun. Es ist Berechnung. Männer, die Frauen schlagen, schlagen keine größeren, stärkeren Männer auf der Straße und auch nicht ihren Chef. Sie suchen sich bewusst jemand schwachen aus.

STANDARD: Es gibt noch immer den Begriff des "echten Mannes". Da gehört Mut und Stärke dazu. Muss man Begriffe wie Mut nicht neu definieren?

Kimmel: Früher hieß Mut, dass man absolut ruhig blieb angesichts jeder Gefahr. Männer mussten den eigenen Schmerz ignorieren, um Helden zu sein. Gefühle zu zeigen bedeutete Schwäche. Wir sind jetzt in der Anfangsphase der Neudefinition. Der Mut der neuen Männer ist auch die Fähigkeit ihre Gefühle zu zeigen, egal, was irgendwer darüber denkt. Und die Fähigkeit für das aufzustehen, was man für richtig hält, gehört da auch dazu. Das ist echter Mut.

STANDARD: Sie haben selbst einen Sohn. Waren sie ein aktiver Vater, als er noch ganz klein war?

Kimmel: In den USA haben wir ja nichts Vergleichbares wie Karenz. Aber ich hatte das Glück ein dreijähriges Stipendium zu haben. Da konnte ich zuhause bleiben. In akademischer Zeitrechnung ist mein Sohn jetzt 28 Semester alt. Sechs davon war ich mit ihm daheim. Und ich versäume auch heute kein einziges Fußballmatch von ihm.

STANDARD: Eines Ihrer Bücher heißt  "A Guy's Guide to Feminism". Klingt wie eine Anleitung zum Feminismus für ganze Kerle. Das kaufen Männer wirklich?

Kimmel: Ich glaube zuerst kaufen es Frauen und schenken es dann ihren Männern. Mit dem Hinweis: Schau, das haben zwei Typen geschrieben, lies es. Wir haben das Buch leicht zugänglich und witzig gemacht. Statt Theorie gibt es eine alphabetische Übersicht mit kurzen, leicht verständlichen Einträgen. Wir räumen mit der Idee auf, dass Feminismus abstrakt ist und Feministinnen Männerhasserinnen sind, die ...

STANDARD: ... ihre BHs verbrennen.

Kimmel: Ja. Es ist ganz simpel, wie eine technische Anleitung, ein Handbuch eben. Und es funktioniert auch wirklich. (Colette M. Schmidt, DER STANDARD, 23./24.11.2013)