Wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Aspekte kämen in der Debatte um Sexarbeit viel zu kurz, meint Eva van Rahden, die Prostituierte berät.

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STANDARD: Was können Sie Alice Schwarzers Position abgewinnen?

Van Rahden: Dass sie seit vielen Jahren den Finger auf das Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen legt. Das hat auch machtstrukturelle Auswirkungen auf Sexualität. Aber ich würde andere Schlussfolgerungen ziehen.

STANDARD: Und zwar welche?

Van Rahden: Ich betrachte Sexarbeit stark unter dem ökonomischen Aspekt. Das Anbieten sexueller Dienste ist für viele Frauen die einzige Möglichkeit, ihre Existenz zu sichern. Für schlecht qualifizierte Männer ist es einfacher, Geld zu verdienen.

STANDARD: Nimmt die Gesellschaft das Leid zu wenig wahr, wie Frau Schwarzer anklagt?

Van Rahden: Ich wünsche mir keinen Diskurs über Leid, sondern über rechtliche Rahmenbedingungen. Es geht um sexuelle Ausbeutung und Gewalt. Menschen, die mit Stigmatisierung belegt werden, verinnerlichen diese Stigmatisierung oft und sprechen sich selbst das Recht auf ein besseres Leben ab.

STANDARD: Ist es eine feministische Debatte, die geführt werden muss?

Van Rahden: Ich finde es schade, dass sie rein ins feministische Eck rutscht. Aus der männlichen Perspektive ist es oft "lustig", wenn Feministinnen aufeinander losgehen. Wirtschaftliche Aspekte, die für eine gesellschaftliche Veränderung wichtig wären, gehen dabei verloren. Es geht um die enormen ökonomischen Unterschiede zwischen den Beitrittsländern der EU. Die Kluft der Lebensstandards führt zur Armutsmigration.

STANDARD: Was halten Sie von dem Prostitutionsverbot in Schweden?

Van Rahden: Es heißt nicht, dass die Dinge nicht mehr da sind, weil man sie nicht mehr offensichtlich sieht. Wissenschaftliche Evaluierung ist schwierig, weil niemand mehr darüber sprechen wird.

STANDARD: Die Frage der Selbstbestimmung poppt immer wieder auf.

Van Rahden: Das Thema der Selbstbestimmung und Selbstständigkeit betrifft auch andere Berufsgruppen. Es arbeiten nun mal nicht alle Menschen selbstbestimmt und zufrieden.

STANDARD: Ist Sexarbeit vergleichbar mit anderen Erwerbsformen?

Van Rahden: Es ist eine Tätigkeit, um die Existenz zu sichern - also ja. Aber es ist keine Arbeit wie jede andere, dafür ist der Bereich zu emotional besetzt. Es gibt viele Berufe, wo man engen Kontakt mit Menschen hat, die einem unangenehm sind, etwa im ärztlichen Bereich. Dort ist es heroisch.

STANDARD: Frau Schwarzer behauptet, 90 Prozent der Prostituierten wurden früher missbraucht.

Van Rahden: Diese Zahl kann ich nicht bestätigen. Wir haben eine kleine Gruppe Frauen mit psychischen Problemen. Bei Bedarf ziehen wir Experten hinzu.

STANDARD: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Missbrauch und Sexarbeit?

Van Rahden: Es gibt Studien, die das behaupten. Aber ich zweifle, wie wissenschaftlich fundiert sie sind. Die Frauen migrieren aus Armut und sehen Sexarbeit als zeitlich befristete Möglichkeit.

STANDARD: Sollte Prostitution in der eigenen Wohnung erlaubt werden?

Van Rahden: Darüber sollte man reden, es würde selbstbestimmtes Arbeiten leichter ermöglichen.

STANDARD: Etwa 90 Prozent der Prostituierten sind aus dem Ausland. Wollen viele zurückkehren?

Van Rahden: Die meisten, die zu uns in die Beratung kommen, wollen ihren Lebensmittelpunkt hierher verlagern.

STANDARD: Wie funktioniert das ohne Sprachkenntnisse?

Van Rahden: Wir vermitteln günstige Deutschkurse.

STANDARD: Viele der Frauen verfügen nur über geringe Bildung oder sind Analphabetinnen. Welche Möglichkeiten haben sie?

Van Rahden: Das ist eine schwierige Gruppe. Wir haben generell das Problem, dass niedrig qualifizierte Arbeitsplätze wegbrechen. Menschen, die nicht den Ansprüchen der Turboleistungsgesellschaft entsprechen, haben kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

STANDARD: In welchen Bereichen kommen Ihre Klientinnen unter?

Van Rahden: Zum Beispiel in Gastgewerbe, Hotelbranche, Pflege und Betreuung, Verkauf, Vertrieb.

STANDARD: Was halten Sie von der Freierbestrafung?

Van Rahden: Sexuelle Dienstleistung wird in Frankreich weiter gefragt sein, genau so wie in Schweden. Alles Illegale fördert strukturelle Ausbeutung.

STANDARD: Der Straßenstrich in Wien wurde verdrängt, die Frauen wissen nicht, wo sie stehen dürfen. Wäre es nicht konsequent, die Politik würde es ganz verbieten?

Van Rahden: Nein, der Straßenstrich ist eine Form für Frauen ohne hohe Mieten zu arbeiten. (Julia Herrnböck, DER STANDARD, 12.12.2013)