Spahic-Šiljak trägt selbst den Hidschab.

Foto: Wölfl

STANDARD: Sie schreiben, dass Frau­en in traditionellen muslimischen Gemeinden in Bosnien-Herzegowina glorifiziert werden, wenn sie "gehorsam und treu sind, nicht viel sprechen, den Mann glücklich machen und ihre Interessen zurücksetzen". Das könnte auch eine Beschreibung einer traditionellen katholischen Frauenrolle sein. Welche Gemeinsamkeiten haben mo­notheistische Religionen bezüglich der Geschlechterrollen?

Zilka Spahić-Šiljak: In traditionellen Religionsgemeinschaften gibt es eine informelle Einigung in Geschlechterfragen. Die Lehren, In­terpretationen und Praktiken in Bezug auf die Würde von Frauen und Männern und die Auslegung der Schöpfungsgeschichte sind ähnlich. Und die Schöpfungsgeschichte formt noch immer die ­Geschlechterbeziehungen, obwohl sie im Koran eigentlich anders ist. In der ursprünglichen Form wurden Frau und Mann dort aus einer einzigen Person geschaffen, und beide haben gesündigt. Die jüdisch-christliche Interpretation der Genesis wurde aber auch ein integraler Part der islamischen Tradition. Und dieses kulturelle Erbe beinhaltet: Die Frau ist aus einem Mann und für den Mann geschaffen. Sie ist schwach, emotional, und sie bringt den Mann dazu zu sündigen. Deshalb wird auch heute noch von neokonservativen Kreisen versucht, den Körper einer Frau über Dresscodes oder Reproduktionsrechte zu steuern.

STANDARD: Würde die Diskriminierung zurückgehen, wenn die Interpretation der religiösen Schriften keine Männerdomäne mehr wäre?

Spahić-Šiljak: Das glaube ich nicht. Männer und Frauen können gleichermaßen böse sein. Die Geschichte zeigt, dass Frauen auch Diktatoren und Kriegstreiber waren, aber sie hatten immer weniger Macht. Sie tragen aber eine große Verantwortung, weil sie die männliche Dominanz und das soziale, politische und kulturelle System, das Frauen Männern un­terordnet, nicht infrage stellen. Wir brauchen mehr geschlechtersensible Männer und Frauen.

STANDARD: Wie weit sind wir in dem Prozess der Dekonstruktion männlich dominierter Narrative?

Spahić-Šiljak: In protestantischen Kirchen begann dieser Prozess bereits im 19. Jahrhundert. Viele christliche und jüdische feministische Theologen haben große Ar­beit in der Reinterpretation biblischer Texte geleistet. Muslimische Theologinnen haben in den letzten dreißig Jahren angefangen, die Traditionen ernsthaft zu überprüfen, etwas, was wir feministische Theologie nennen.

STANDARD: Laut Ihren Recherchen neigen alle traditionellen Religionsgemeinschaften in Bosnien-Herzegowina zu komplementären Geschlechterrollen. Warum ist diese Verbindung zwischen Religion und Patriarchat so stark?

Spahić-Šiljak: Man kann patriarchal sein, ob man religiös ist oder nicht. Aber wir lehren noch immer an Universitäten, in Kirchen und Moscheen komplementäre und hierarchische Geschlechterrollen als "gottgegeben". In diesem Sinn ist die Religion einer der besten Kanäle, um das Patriarchat und den Ausschluss der Frauen von Machtpositionen zu fördern.

STANDARD: Gibt es eine Kooperation zwischen nichtreligiösen und religiösen Feministinnen?

Spahić-Šiljak: Es gibt Zusammenarbeit, aber nicht ausreichend. Als religiöse Frau und muslimische Feministin kann ich in Bosnien einfach mit säkularen Feministinnen zusammenarbeiten, weil die Kluft zwischen beiden hier nicht so groß ist wie in anderen Staaten. Nach dem Krieg hatten wir ja das gleiche Ziel. Ich bin mir der ­Kritik von manchen ra­dikalen, säkularen Feministinnen gegenüber der Religion bewusst. Säkulare Feministinnen sind aber in einer besseren Position, und sie sollten mehr Verständnis und Partnerschaft anbieten.

STANDARD: Die deutsche Feministin Alice Schwarzer sagt, dass Verschleierung an sich bedeutet, dass Frauen Männern untergeordnet sind. Was würden Sie ihr erwidern?

Spahić-Šiljak: Das Aussehen von Frauen wird kritisiert, wenn sie nicht bestimmten Standards oder Modebestimmungen entsprechen. Das ist noch schlimmer für Frauen, die den Hidschab tragen. Solche Frauen sind unter doppeltem Druck, von ihrer eigenen Gemeinschaft und von säkularen Leuten, die nicht erwarten, sie in der Öffentlichkeit mit dem Hidschab zu sehen. Beide Seiten fragen diese Frauen nicht, was sie wollen, ob es ihre Wahl ist oder ob es ihnen aufgezwungen wurde. Es ist deshalb wichtig, dass Frauen, die den Hidschab tragen, an der Diskussion teilnehmen und ihnen nicht gesagt wird, was sie befreit oder was für sie besser ist. Wenn sä­kulare und religiöse Eliten sich gegenseitig ausschließen, zahlen die Frauen den Preis.

STANDARD: Aber weshalb ist die Verschleierung überhaupt so wichtig?

Spahić-Šiljak: Sowohl Muslime als auch Europäer sind von der Verschleierung besessen. Ich verstehe das nicht, und ich möchte weder mit neokolonialistischen Zugängen noch mit religiösen Ideologien, die den Hi­dschab politisieren, in Verbindung gebracht werden. Beide, säkulare und religiöse Leute, wollen den Körper der Frau kontrollieren. Der Hidschab kann ein Weg dazu sein, wenn er aufgezwungen wird wie in Saudi-Arabien oder wenn er verboten wird wie in Frankreich. Un­terordnung ist ein Resultat von Machtkon­trollmechanismen ge­gen Frauen, mit oder ohne Hi­dschab. Wenn europäische, aus der Mittelklasse kommende Feministinnen anderen Frauen sagen, wie sie sich kleiden sollten, ist das Neokolonialismus.

STANDARD: Schwarzer sagt, der Schlei­er sei ein Symbol, dass Frauen als unrein betrachtet werden.

Spahić-Šiljak: Das ist falsch. Ich weiß nicht, wo sie das gefunden hat. Der Hidschab hat nichts mit Unreinheit zu tun. In der islamischen Tradition wird die Menstruationsblutung nicht mit Unreinheit verbunden. Der Hidschab hat aber etwas mit der Kontrolle der Sexualität der Frau zu tun, wenn sie gezwungen wird, ihn zu tragen. (Adelheid Wölfl, DER STANDARD, 7.1.2014)