"Hey du Mädchen", gilt unter Kindern und Jugendlichen bis heute als Beleidigung.

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"Und dann hat er mich ein 'Mädchen' genannt" erzählt mein Sechsjähriger seiner älteren Schwester und fügt halb resigniert, halb belustigt hinzu: "Als wäre das eine Beschimpfung."

Genau so hat er es auch gemeint, mein Kleiner, genauso. Aber mein Sohn kann und will das nicht nachvollziehen. Neben ihm sitzt seine Schwester, mit der er sich auf dem Schulweg wilde Geschichten darüber ausdenkt, in welcher Ecke der Welt sie sich bis zur Ankunft auf dem Pausenhof aufhalten und die ihm abends vor dem Schlafengehen heimlich (wir wissen von nichts) noch vorliest. Nach allem, was er weiß, ist seine Schwester toll. Und nach allem, was er gehört hat, ist seine Schwester ein Mädchen. Warum sollte es in seiner Welt also Sinn machen, den Begriff "Mädchen" als Beschimpfung einzusetzen? Oder um diese Frage mit dem US-Amerikaner Tony Porter noch schärfer zu formulieren:

"Wenn mir ein Bub erzählt, dass es ihn zerstören würde, ein Mädchen genannt zu werden -  was bringen wir diesem Buben dann über Mädchen bei?"

In Zuschreibungen gezwängt

Womit füllen Buben den Begriff "Mädchen", wenn sie ihn anderen Buben als Beschimpfung, als Erniedrigung und Ausgrenzung entgegen schleudern? Mit Schwäche, mit Gefühlsbetontheit, mit der Unfähigkeit zu körperlichen Auseinandersetzungen und mit Passivität. Sie tun es, weil wir sie dazu auffordern und damit zugleich Jungen und Mädchen um die Freiheit, sie selbst sein zu können, betrügen. Wir zwingen unsere Kinder, sich mit unseren Zuschreibungen von vorgeblich männlichem und weiblichem Verhalten zu maskieren und berauben sie damit der Erfahrung, dass alles, was sie denken und fühlen, Teil ihrer Menschlichkeit ist. Wir bringen unseren Kindern bei, sich vor einander zu verstecken. Das gilt insbesondere für die Buben, weil Emotionalität und Mitgefühl als Aspekte dessen definiert werden, was nach wie vor allzu oft als "das andere Geschlecht" markiert wird.

Wir geben ihnen vor, wie sie zu sein haben: Hör auf zu weinen! Lass das mit den Tränen! Nimm dich zusammen! Sei keine Pussy! Sei ein Mann!

Das ist es, was wir ihnen immer wieder eintrichern. Und anschließend sind wir auch noch so dreist, ihren Wunsch nach Anerkennung und ihr Bedürfnis nach Zuneigung als Bestätigung unserer Ansichten über Jungen zu missbrauchen. Wir erwarten von ihnen "bubentypisches" Verhalten, sind aber zugleich ganz schnell dabei, die Verantwortung dafür abzulehnen und alles ganz natürlich zu finden.

Wir manipulieren sie und wollen anschließend nicht die Manipulatoren gewesen sein. Das ist dann alles irgendwie von selbst passiert. In den Buben erfüllt sich nur ihre Natur. Mädchen sind eben so. Geschlechtsspezifisches Verhalten als selbsterfüllende Prophezeiung.

Fatale Fixierung auf Gegenseitigkeit

Die Gründe hierfür sind vielfältig. Einen will ich jedoch an dieser Stelle herausheben: Aus dem Bedürfnis der Mehrheit, von einem Menschen des gegenteiligen Geschlechts sexuell und/oder emotional vervollständigt zu werden, ist eine fatale Fixierung auf eben diese Gegenteiligkeit entstanden, die wir jeden Tag aufs Neue zeigen, erzählen, vorleben und einfordern. In dieser Welt sind Buben das Gegenteil von Mädchen. Genauso wie das Gegenteil von stark schwach ist und von richtig nun einmal falsch. Wenn ein Bub sich angenommen, wertgeschätzt und wichtig fühlen will und Mädchen das Gegenteil von Buben sind – wie hat sich dann seiner Meinung nach ein Mädchen zu fühlen? Wenn ein Mann findet, dass er den Respekt der anderen verdient hat – was verdient dann eine Frau? Das Beharren auf Gegensätzlichkeit macht uns unfrei und verhindert, dass wir uns in unserer Verschiedenheit angemessen wertschätzen.

So gegensätzlich sind wir nicht. Wir sind vor allem anderen gleich an Würde und Rechten und erst darüber hinaus voneinander verschieden. Wenn wir uns mehr darum bemühten, das unseren Kindern beizubringen, wäre schon alles Wesentliche zu Mädchen und Buben gesagt. (Nils Pickert, dieStandard.at, 29.1.2014)