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Die Flucht ins Frauenhaus steht für Opfer von häuslicher Gewalt oft am Ende einer langen Leidensgeschichte.

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Brüssel/Wien - In Europa sei Gewalt gegen Frauen "alles andere als ein Nischenthema", betont Morten Kjaerum, Direktor der in Wien angesiedelten Grundrechtsagentur der Europäischen Union (FRA). Er sagt das nicht ins Blaue hinein, etwa wegen des alljährlichen Frauentages am kommenden Samstag, dem 8. März - sondern auf Grundlage neuer Daten aus der umfangreichsten Erhebung, die weltweit je zu diesem Thema gemacht worden ist: einer repräsentativen Befragung in allen 28 Mitgliedstaaten der EU.

42.000 Frauen im EU-Raum befragt

Konkret ließ die FRA zwischen April und September 2012 unionsweit 42.000 Frauen im Alter zwischen 18 und 74 Jahren interviewen. Eigens geschulte Kräfte nahmen sich für jedes der persönlichen Face-to-Face-Gespräche rund 50 Minuten Zeit. Beauftragt war die britische Marktforschungsfirma Ipsos MORI, in Zusammenarbeit mit Kriminalitätsforschungsinstituten der EU und der Vereinten Nationen.

Gefragt wurde nach Erfahrungen mit körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt, daheim und in der Öffentlichkeit. Auch Stalking, sexuelle Belästigung und die diesbezügliche Rolle der neuen Technologien waren Thema, detto Gewalt- und Missbrauchserfahrungen der Frauen in der Kindheit. Die Resultate, die am Dienstag in Brüssel offiziell präsentiert wurden, zeichnen ein düsteres Bild.

Demnach haben 33 Prozent aller Frauen in der EU seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren: "Das sind 37 Millionen Frauen, mehr als in Italien leben", machte Kjaerum die Größenordnung klar. Fünf Prozent aller erwachsenen Frauen wurden Opfer einer oder mehrerer Vergewaltigungen, wobei die Täter oft auch Ehepartner oder Lebensgefährten waren. Kjaerum: "Das sind neun Millionen Frauen, mehr als Österreich insgesamt Einwohner hat."

43 Prozent der Befragten sind oder waren durch ihre aktuellen oder früheren Partner psychischer Gewalt ausgesetzt. 55 Prozent haben Formen sexueller Belästigung erlebt, wobei 75 Prozent der Frauen in leitenden Managementpositionen, aber nur 41 Prozent der Frauen, die noch nie eine bezahlte Arbeit ausübten, von derlei Erfahrungen berichteten. "Sexuelle Belästigung von Frauen in hohen beruflichen Positionen ist ein ernstzunehmendes Thema", sagte Joanna Goodey, Leiterin der Abteilung Freiheiten und Gerechtigkeit der FRA.

Missbrauch auch durch Fremde

33 Prozent der Befragten erzählten von körperlicher oder sexueller Gewalt in der Kindheit, zwölf Prozent von ausschließlich sexuellen Übergriffen, wobei die Täter zur Hälfte keine Angehörigen oder Bekannten, sondern fremde Männer waren. 18 Prozent wurden gestalkt, elf Prozent, vor allem Jüngere, schilderten unangemessene Annäherungsversuche in den neuen sozialen Medien, per E-Mail oder SMS.

Letzteres sei ein klarer Auftrag an Internet-Provider und Betreiber sozialer Medien, Maßnahmen zu setzen, um den "zu lange hingenommenen Sexismus" im Internet einzudämmen, kommentierte FRA-Direktor Kjaerum. Dass man mit Schritten gegen Rassismus und Antisemitismus hier offenbar rascher bei der Hand gewesen sei, habe ihn "doch überrascht".

Aber nicht nur im Internet, sondern insgesamt sei das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen bisher "unterschätzt" worden, und zwar unter anderem auch deshalb, weil selbst schwerwiegende Übergriffe nicht der Polizei oder Opferhilfen wie Frauennotrufen oder Frauenhäusern gemeldet würden - also in keiner Statistik Erwähnung finden. 67 Prozent aller Frauen, die Gewalt durch Partner und 74 Prozent, die Gewalt außerhalb einer Partnerschaft erlebt haben, behielten ihre Erlebnisse laut der FRA-Erhebung für sich.

Österreich im EU-Schnitt wohlauf

Österreich schneidet unter den 28 EU-Staaten im Vergleich relativ positiv ab (siehe Grafik) - auch wenn dies laut Goodey angesichts der insgesamt hohen Übergriffsraten kein Grund zum Feiern sei: Der Anteil von Frauen, die körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren mussten, liegt in Österreich bei 20 Prozent - um 13 Prozent niedriger als im EU-Durchschnitt.

Niedriger, wenn auch nicht so ausgeprägt, ist etwa auch die Häufigkeit körperlicher, sexueller und psychischer Gewalterfahrungen in der Kindheit (EU-Durchschnitt: 35 Prozent, Österreich: 31 Prozent), wobei hier die Häufigkeit physischer Übergriffe in der Kindheit mit 27 Prozent gleich hoch wie EU-weit ist.

Bemerkenswert öfter als in Österreich berichteten Frauen in Schweden, Finnland und Dänemark, in den Niederlanden, Großbritannien und Frankreich von Gewalterfahrungen, ein Umstand, der bei einem Hintergrundgespräch über die Erhebung in Wien vergangenen Freitag von den anwesenden JournalistInnen zum Thema gemacht wurde.

Viele Erklärungsmuster

Derlei Unterschiede seien auch anhand nationaler Erhebungen festzustellen, antwortete Goodey. Es gebe fünf mögliche Erklärungen dafür: "Erstens die je nach Land andere kulturell bedingte Bereitschaft von Frauen, über Gewalterfahrungen offen zu sprechen. Zweitens das Ausmaß von Gendergerechtigkeit: Je gerechter eine Gesellschaft ist, umso klarer wird Gewalt gegen Frauen als Problem erkannt. Drittens das Ausmaß, in dem Frauen in einem Land Risikosituationen ausgesetzt sind, etwa wenn sie außerhäuslich arbeiten oder ausgehen, oder aber meist daheim sind. Viertens die national unterschiedlichen Kriminalitätsraten sowie, fünftens, die in dem Land herrschenden Trinkgewohnheiten".

"Das Thema Gewalt gegen Frauen wird in Österreich noch nicht so offen diskutiert wie etwa in Skandinavien", sagt Maria Rösslhumer, die Geschäftsführerin des Vereins Autonomer Frauenhäuser. Hier seien weitere Kampagnen nötig, auch um die Anlaufstellen bekannter zu machen.

Auf derlei Schritte in den Ländern der EU setzt jetzt auch FRA-Direktor Kjaerum. Die Ergebnisse der Erhebung seien eine "dringende Aufforderung an EU-Staaten zum Handeln", etwa durch Ratifizierung der Instanbul-Konvention: des Europaratsübereinkommens zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Diesbezüglich steht Österreich gut da: Neben Italien und Portugal hat es die Konvention bereits ratifiziert, als einer von nur drei EU-Staaten. (Irene Brickner, DER STANDARD, 5.3.2014)