Erode - Wenn die Sirenen zu heulen beginnen, übertönen sie für eine Minute sogar das Hupen und Geschrei auf den Straßen von Erode. In der südindischen Stadt reagiert allerdings niemand mehr auf das laute Signal. Um 8 Uhr morgens und um 8 Uhr abends ist das Sirenenheulen nur noch ein Relikt aus einer anderen Zeit, als es noch keine Uhren gab und so die Schichtwechsel in den Fabriken signalisiert wurden.

Die Fabriken in und um Erode gibt es immer noch, vor allem Textilerzeugungen und Spinnereien. Die indische Baumwollindustrie ist mit drei Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt einer der wichtigsten Industriezweige des Landes und findet vor allem im Süden statt. Der blühende Wirtschaftszweig dürstet nach Arbeitskräften und vor allem die Spinnereien nach kleinen, beweglichen Fingern. Gefunden werden die Arbeitskräfte in den ärmlichen Dörfern. Sie sind weiblich, müssen ihre Familien unterstützen und sind meist minderjährig.


Eine Arbeiterin in einem Maschinengang einer Spinnerei ein Indien. (Foto: Bianca Blei)

Verbotene Zahlungen

Die Mädchen tragen den klingenden Namen "Sumangali", was auf Tamil so viel wie "glückliche Braut" bedeutet. Denn obwohl Mitgiftzahlungen in Indien verboten sind, lebt der Brautpreis im Alltag des Subkontinents weiter. Die Fabrikbesitzer bieten für arme Familien einen auf den ersten Blick verlockenden Ausweg: Die minderjährigen Mädchen werden für drei bis fünf Jahre in die Fabriken geschickt, leben dort in Hostels, bekommen drei Mahlzeiten am Tag, und am Ende der Arbeitszeit wird eine durchschnittliche Prämie von 30.000 indischen Rupien (rund 350 Euro) versprochen. Nach groben Schätzungen soll es 200.000 Sumangali-Mädchen alleine im südlichen Bundesstaat Tamil Nadu geben.

Als Jeya zwölf Jahre alt war, machte ihre Familie das Mädchen zu einer Sumangali. Der alkoholkranke Vater und die körperlich kranke Mutter konnten keiner geregelten Arbeit nachgehen. Wie zuvor ihre ältere Schwester wurde die heute 17-Jährige in eine der Spinnereien von Erode geschickt. Ein Bus der Fabrik holte die neu angeworbenen Mädchen vom Dorfplatz ab.


Die 17-jährige Jeya musste drei Jahre in einer Spinnerei arbeiten. (Foto: Bianca Blei)

Harte Unterstützung

Für die nächsten drei Jahre sollte Jeyas Wille, ihre Familie zu unterstützen, auf eine harte Probe gestellt werden. Das Kind musste Zwölf-Stunden-Schichten in den stickig-heißen Hallen der Spinnerei arbeiten. Während ihrer Schicht durfte sie nur zweimal auf die Toilette gehen. Selbst als sie ihre Periode bekam, wurden die Vorschriften nicht gelockert. Im Hostel lebte sie mit 30 Mädchen in einem zwölf Quadratmeter großen Raum. Die Kinder mussten sich zwei Klos und zwei Badezimmer teilen.

Wollte Jeya die Stimme ihrer Eltern hören, war das nur einmal im Monat möglich, und außer "Hallo" durfte sie ihnen nichts erzählen. Wenn die Familie zu Besuch kam, durfte sie nur vor dem Tor stehen bleiben, Gespräche wurden von den Wachmännern abgehört. Ihr Tageslohn von 130 Rupien (1,50 Euro) wurde zu einem Teil für Unterkunft und Verpflegung einbehalten. Auch Krankenhausaufenthalte mussten davon bezahlt werden. Den Rest schickten die Kinder nach Hause. Konnte ein Mädchen nicht arbeiten, weil es zu erschöpft war, erhielt sie zudem keinen Lohn. Nach den drei Jahren wurden Jeya lediglich 15.000 Rupien (176 Euro) ausbezahlt.


Nach der 10. Klasse brach Manimegalai die Schule ab. (Foto: Bianca Blei)

Keine Zeit zu atmen

Die 19-jährige Manimegalai erzählt von den gleichen Erfahrungen. Sie wurde mit 15 Jahren eine Sumangali. Nach der 10. Klasse brach sie die Schule ab, da ihr Vater Herzprobleme bekam. Das Geld, das ihre Mutter mit Zigarettenrollen verdiente, reichte nicht mehr aus, um die vier Kinder zu ernähren. Manimegalai musste arbeiten gehen. Gemeinsam mit ihrer Schwester willigte sie in einen vierjährigen Vertrag ein. Doch schon bald stellte sie fest, dass "selbst die Maschinen besser als wir behandelt wurden". In den Mahlzeiten fanden sich Würmer, und prinzipiell hatten die Mädchen nur 15 Minuten Zeit für das Essen.

Gearbeitet wurde an sieben Tage die Woche, nur an hohen Feiertagen wie Diwali bekamen die Kinder frei und durften nach Hause fahren. Das Arbeitspensum war so hoch, dass die Gesundheit der Mädchen schwer litt: "Wir mussten in drei Minuten 520 Baumwollbällchen aus der Maschine holen. Wir konnten nicht einmal atmen. Schafften wir das nicht, wurden wir beschimpft und auch geschlagen", erzählt die junge Frau. Männliche Arbeiter erniedrigten zudem die Mädchen durch Sprüche und belästigten sie mit Griffen unter den Sari.

Das war schlussendlich auch der Grund, warum Manimegalais Vater seine Töchter nach eineinhalb Jahren aus der Fabrik holte. Ihre Schwester brach bei einem Besuch der Eltern weinend zusammen und erzählte von ihrem Leid. Von der versprochenen Prämie erhielten die Kinder nichts. Dass sie ein Recht auf diesen Lohn haben, erfuhren die Mädchen erst bei der indischen Hilfsorganisation Vaan Muhil, die sich für die rechtliche Vertretung von Sumangali-Mädchen engagiert.


Schutzbekleidung wird in den Fabriken nur unregelmäßig ausgegeben. (Foto: Bianca Blei)

Studie zur Arbeitssituation

Wie wichtig die Unterstützung ist, zeigt eine vor kurzem veröffentlichte Studie zur Arbeitssituationen von Frauen im südlichen Bundesstaat Tamil Nadu. Von der Development Education and Environment Protection Society durchgeführt und von der Katholischen Frauenbewegung Österreichs unterstützt, wurden für die Untersuchung 1.000 Frauen persönlich befragt.

Rund die Hälfte aller Befragten waren in Spinnereien tätig, 55 Prozent von ihnen in Arbeitsverhältnissen wie Jeya und Manimegalai. Sie werden als Lehrlinge beschäftigt und genießen damit keinen arbeitsrechtlichen Schutz wie Mindestlohn oder Krankenstandsbestimmungen. Deshalb blüht das Geschäft mit der Kinderarbeit seit rund 15 Jahren, auch unter dem Preisdruck der in- und ausländischen Firmen. Die Untersuchung zeigt zudem, dass 88 Prozent aller Befragten nur einen Teil der versprochenen Prämie nach drei bis fünf Jahren harter Arbeit ausbezahlt bekamen, zwölf Prozent erhielten gar nichts.


Staub und Baumwollfäden hängen in der Luft der stickigen Hallen. (Foto: Bianca Blei)

Langzeitschäden

Nicht nur die Erfahrungen, sondern auch die psychischen und physischen Langzeitschäden der Mädchen gleichen sich: Schlaflosigkeit, Depressionen, Lungeninfektionen und unregelmäßige Regelblutungen. Zudem haben viele Mädchen Schwierigkeiten, schwanger zu werden, und leiden unter starken Unterleibsschmerzen.

In den Spinnereien, von denen man sich erzählt, dass sie Sumangalis beschäftigen, dröhnen die Maschinen rund um die Uhr. Baumwollfäden hängen in der Luft, Schutzmasken besitzen die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht. Ein Kopftuch, um den Mund gezogen, soll den Staub von den Lungen fernhalten. Die Schutzhelme auf den Köpfen der Frauen sitzen schief, so als müssten sie sich erst an das Tragen gewöhnen.


Das Alter der Mädchen im Hostel lässt sich nur schwer schätzen. (Foto: Bianca Blei)

Schwester soll studieren können

Das Alter der Arbeiterinnen lässt sich nur schwer schätzen, während sie scheu durch die langgezogenen Maschinengänge huschen. Der Fabrikbesitzer versichert allerdings mit einem breiten Lachen, dass die Frauen alle 18 Jahren alt seien. Doch in den Arbeiterunterkünften erzählen Mädchen, dass sie jünger sind. Ein Kindergesicht erscheint immer wieder über der Brüstung des ersten Stocks. Hinaufgehen wird verboten. Der Kinderspielplatz vor dem Hostel soll für die ausschließlich erwachsenen Frauen Abwechslung bieten. Kontrollen werden nur selten durchgeführt, ausländische Konzerne überprüfen meist nur ihre Fertigungsstätten, Zulieferer von Garn entgehen ihnen.

Ihrer 13-jährigen Schwester will Jeya das Schicksal einer Sumangali ersparen. Deshalb arbeitet das Mädchen als Schneiderin in einer Fabrik in der Nähe ihres Dorfes. Sie arbeitet, um die Familie zu ernähren und der Schwester ein Studium zu ermöglichen. Gemeinsam mit den Lebensmittelrationen der Regierung kann die Familie so überleben. Von einer Zukunft als verheiratete Frau hat sie sich verabschiedet: "Niemand heiratet ein körperlich krankes Mädchen wie mich." Die Bezeichnung "glückliche Braut" wird für sie damit immer eine schmerzliche Erinnerung bleiben. (Bianca Blei, derStandard.at, 7.3.2014)

 
Die Stadt Erode im Süden Indiens, Bundesstaat Tamil Nadu. Größere Kartenansicht