Fotografin Donata Clovis fotografierte während der Mailänder Möbelmesse in der ganzen Stadt Künstler, Museumsdirektoren, Passanten und natürlich Designer hinter Tellern des Ateliers Fornasetti. Die Teller stehen für das Design, das vorherrschende Thema in den Köpfen der Besucher, aber auch der Einwohner Mailands - ganz besonders während der Messezeit (8. bis 13. April ).

Foto: Donata Clovis
Foto: Donata Clovis
Foto: Donata Clovis

Dolce Vita sieht anders aus. Wer zum ersten Mal nach Mailand reist, wähnt sich oft im falschen Film - laute Straßen, hohe Häuser, so gut wie keine öffentlichen Plätze, an denen man draußen in der Sonne seinen Aperitif schlürfen kann.

Obwohl es nur wenige hundert Kilometer sind, die Mailand und Rom voneinander trennen, liegen zwischen beiden Städte Welten. Zieht einen die politische Hauptstadt mit ihrer extrovertierten Schönheit sogleich in den Bann, braucht es für die wirtschaftliche Hauptstadt Italiens meist mehrere Anläufe.

Rege Bautätigkeit

Dennoch gibt es die Mailänder Schönheit. Man muss sie nur entdecken. Hinter Mauern, wo anderswo nur Parkplätze zu vermuten sind, liegen opulente Gärten, malerische Innenhöfe oder versteckte Restaurants. "Es entspricht nicht der Mailänder Art, alles nach außen zu kehren, um zu zeigen, wer man ist. Es gibt den Reichtum und die Fülle. Doch man muss erst eine Tür öffnen, um diese unglaublichen Schätze zu entdecken", sagt Piero Lissoni. Der Mailänder Architekt, Designer und Art-Director dirigiert die kreativen Geschicke von mehr als einem halben Dutzend prominenter Designmarken, darunter Porro, Boffi oder Living Divani, und unterhält sein Studio in einer früheren Seidenfabrik im Stadtteil Brera.

Nur wenige hundert Meter weiter ragt das neue Milano empor: Die gläsernen Hochhäuser rund um die Porta Nuova, das größte Entwicklungsprojekt der Stadt. Es wird viel gebaut an diesen Tagen in der Stadt, die sich anlässlich der bevorstehenden Expo 2015 eine rundum erneuerte Skyline geben wird. "Man hat den Eindruck, als wenn die neuen Gebäude direkt aus Houston nach Milano gebracht wurden. Nehmen Sie diesen runden Turm mit der seltsamen Spitze. Was soll das?", echauffiert sich Piero Lissoni über den neuen Unicredit-Turm. Das gläserne Ungetüm des argentinischen Architekten César Pelli erhebt sich bedrohlich über die historischen Dächer der Stadt und könnte tatsächlich auch in Texas, China oder Dubai stehen.

Es ist auffallend ruhig an diesem Tag in Piero Lissonis Studio, obwohl die Mailänder Möbelmesse vor der Tür steht. Wenn Anfang April mehr als 300.000 Besucher zur weltweit wichtigsten Designveranstaltung strömen und die 1,3-Millionen-Stadt für eine Woche aus allen Nähten platzt, herrscht eine fünfte Jahreszeit. "Die ganze Stadt ist elektrisiert, und überall gibt es neue Orte zu entdecken, die nicht nur die Ausländer, sondern häufig auch die Mailänder noch gar nicht kennen", sagt Giulio Cappellini, Chef des gleichnamigen Möbellabels. Dass Mailand diese Rolle einnimmt, war nicht immer so.

Verbindung zur Stadt

Bis in die 1990er-Jahre galt noch die Kölner Möbelmesse als erste Adresse für die Präsentation der Neuheiten. Doch die Vergabepraxis für die Ausstellungsflächen in Halle 11, für Jahrzehnte das Mekka designorientierter Unternehmen, glich einem undurchschaubaren Sumpf. Als die wachsende Zahl an italienischen Ausstellern immer häufiger das Nachsehen hatte, setzte man auf Mailand. Der Salone del Mobile, der 1961 als lokale Messe begonnen hatte, erfuhr daraufhin einen rasanten Aufschwung.

Während heute 70 Prozent der Aussteller aus Italien stammen, beträgt der Ausländeranteil der Besucher mehr als 65 Prozent. "Doch das Geheimnis für den Erfolg des Salone des Mobile ist die Verbindung zur Stadt. Sie sind untrennbar miteinander verbunden", sagt Claudio Luti, Inhaber des bekannten Kunststoffmöbel-Herstellers Kartell und derzeitiger Präsident des Mailänder Messeveranstalters Cosmit. Ein weiter Trumpf also für Mailand: Während sich in Köln alles auf die Messe konzentrierte, übertrug sich das Mailänder Geschehen auf die gesamte Stadt.

Mehr als 500 Ausstellungen und Veranstaltungen öffnen in diesem Jahr nicht nur die Türen zu barocken Palästen und verlassenen Industriearealen. Sie stürzen die Terminkalender der Besucher in ein verlässliches Chaos. Minutiös werden Uhrzeiten und Wege im Vorfeld koordiniert, als gelte es, den Ablaufplan für eine Oscar-Verleihung zu fixieren.

Kaum zu bewältigende Größe

Dass die Messe und ihre Begleitveranstaltungen inzwischen eine kaum noch zu bewältigende Größe erreicht haben, ist auch Claudio Luti bewusst. Dennoch kommt für ihn eine Zweiteilung wie in Paris, wo die Einrichtungsmesse Maison & Objet im Januar und September stattfindet, nicht infrage. "Die Energie in dieser Woche ist extrem wichtig. Wir würden sie verlieren, wenn wir den Termin aufteilen würden. Denn immer mehr Besucher kommen aus Übersee und müssten sich somit für ein Datum entscheiden", macht der Messechef deutlich. Das schlägt freilich zu Buche. Während der Umsatz der italienischen Möbelindustrie 2013 gegenüber dem Vorjahr um 4,5 Prozent auf 27,2 Milliarden Euro im Inland gesunken ist, konnten die Exporte um 5,2 Prozent auf 13,1 Milliarden Euro ansteigen.

Warum Mailand im Design die Nase vorn hat, erklärt einer der größten italienischen Designzampanos, nämlich Alberto Alessi, so: "Die italienischen Unternehmer können nicht nur Qualität und Kosten einschätzen, sondern besitzen eine Intuition für ästhetische Belange. Und dafür sind sie auch bereit, hohe Risiken einzugehen", sagt der Chef des gleichnamigen Designlabels. Auch Marken wie Cassina, Flos und B&B Italia zählten zu den frühen Pionieren des italienischen Designs. Die Entscheidungen, welcher Gestalter welches Produkt realisieren darf, wurden stets von den Unternehmern allein gefällt. Ein weiterer Grund für den Erfolg ist die Öffnung nach außen. Denn italienisches Design ist längst ein internationales Design.

"Schauen Sie sich an, wer all die wichtigen Designer der letzten 30 Jahre entdeckt hat: Es waren nicht die deutschen, französischen oder schweizerischen Firmen, sondern die italienischen. Sie gehen dafür ein extremes Risiko ein, und manchmal sterben sie, weil das Risiko zu hoch war", sagt Piero Lissoni. Und noch ein wichtiger Punkt geht an Mailand:

Karriere durch Giulio Cappellini

Viele prominente Designer wie Marc Newson, Jasper Morrison, Tom Dixon oder die Brüder Bouroullec haben beispielsweise Giulio Cappellini ihre Karriere zu verdanken, der ihnen in den 1980er-Jahren die ersten Aufträge verschaffte. Nachdem sein Unternehmen 2004 in finanzielle Schwierigkeiten geriet, operiert die Marke Cappellini nun unter dem Dach der Poltrona Frau Gruppe. Es ist eines der wenigen Beispiele, wie eine Übernahme auch ohne Schaden auf die kreative Ausrichtung erfolgt ist.

Doch nicht alle Unternehmen haben die Krise der letzten Jahre unbeschadet überwunden. Selbst einige große Namen werden hinter vorgehaltener Hand bereits angezählt, und weitere Übernahmen gelten als unumgänglich. "Wenn ein Investor ein Weingut im Bordeaux übernimmt, wird er tunlichst darauf achten, die Weinexperten vor Ort zu halten. Im Design ist das nicht ganz so klar. Wenn alles verändert und dem Marketing unterworfen wird, entsteht eine gefährliche Situation", betont Alberto Alessi. Dennoch sieht er die Rolle von Mailand nicht gefährdet.

"Ich reise 200 bis 250 Tage im Jahr und spreche überall auf der Welt mit jungen Designern. Noch immer ist es der Traum für jeden Gestalter, mit einer italienischen Firma zu arbeiten", sagt Giulio Cappellini. Die Herausforderung für die nächsten Jahre liegt in seinen Augen darin, längerfristig zu planen und nicht auf schnelle Erfolge zu setzen. So habe sich der von Cappellini produzierte "Thinking Man's Chair" (1986) von Jasper Morrison in den ersten Jahren überhaupt nicht verkauft, während er mehr als zwanzig Jahre später verlässliche Umsätze bringt.

Schnellschüsse

Ein weiterer Aspekt betrifft die Öffnung des Designs: "Ich denke, dass wir in Zukunft viel an der Kommunikation verändern müssen. Noch immer haben viele Menschen Angst vor Design. Wir müssen zeigen, dass die Möbel nicht nur für Showrooms funktionieren, sondern ebenso im Alltag", so Giulio Cappelini weiter. Ob die Designer der Zukunft aus Italien, Frankreich oder China stammen, spiele weniger eine Rolle. Entscheidend sei vielmehr die Verlässlichkeit. "Leider denken viele junge Designer, dass es ausreicht, ein schönes Einzelstück zu entwerfen. Doch das stimmt nicht. Gutes Design bedeutet Kontinuität", erklärt Piero Lissoni, dem als Art-Director die Entscheidung obliegt, welcher Gestalter für seine Marken entwerfen darf.

Auf die Frage, ob ihn der Messebeginn nicht doch ein wenig aus der Fassung bringt, folgt zunächst ein kurzes Schweigen. Doch dann platzt es mit einem Mal aus ihm heraus: "Ich werde jedes Mal nervös wie eine Schlange. Die Produkte, die Stände, die Präsentationen: Ich stelle alles infrage. Gestern habe ich Claudio Luti angerufen und gesagt, dass ich die Farben von unserem neuen Stuhl für Kartell ändern möchte. Er meinte: Piero, bist du vollkommen verrückt? Mit Alberto Alessi habe ich das Gleiche gemacht. Ich werde zu einer Atombombe außer Kontrolle", erklärt der 58-Jährige.

Vielen seiner Kollegen ergeht es ähnlich, wenn in den letzten Tagen vor der Messe die konkrete Auswahl der Farben und Bezüge erfolgt. Doch auch darin zeigt sich eine Eigenart der Mailänder Unternehmen. "Sie kennen mich gut. Und wenn ich etwas in der letzten Minute ändern will, vertrauen sie mir. Schließlich bin auch ich es, der ein Risiko eingeht", sagt Piero Lissoni. Vor einigen Jahren ließ er den in weiß gehaltenen Showroom von Boffi am Abend vor der Eröffnung komplett schwarz streichen. Aus dem vermeintlichen Schnellschuss wurde eine längerfristige Strategie. Jeder Verkaufsraum der Küchenmarke ist seitdem in Schwarz gehalten - ganz gleich ob in Paris, Tel Aviv oder Hongkong. Der Erfolg des Designstandort Mailand ist nicht also nur einem Gespür für innere Räume geschuldet, sondern ebenso der Bereitschaft, inneren Stimmen zu vertrauen. (Norman Kietzmann, Rondo, DER STANDARD, 11.4.2014)