Velikić: "Als Leser mag ich Bücher, in denen man ganze Epochen findet. Die Werke der Literatur sind die einzigen Territorien, in die wir immer zurückkehren können. Aus diesem Grund ist Literatur auf längere Sicht gesehen, mächtiger als Tagespolitik."

Foto: Nebojsa Babić

STANDARD: Herr Velikić, "Bonavia" heißt Ihr neuer Roman. Das ist der Name eines Grand Hotels in Rijeka und bedeutet "gute Reise". Steht dieser Titel symbolisch für die Heimatlosigkeit Ihrer Figuren?

Dragan Velikić: Meine Figuren reisen durch eine Region, die einmal ein Staat war. Es ergeht ihnen wie Graf Franz Xaver Morstin, dem Protagonisten in Joseph Roths Novelle Die Büste des Kaisers. Sie zwängen sich unter einen gemeinsamen Nenner, der ihnen noch zur Verfügung steht, und das ist die Politik. Der Boden ist kleiner geworden, nicht aber der Himmel.

STANDARD: Haben die jugoslawischen Zerfallskriege die Menschen heimatlos gemacht?

Velikić: Dafür gibt es viele Beispiele. Jugoslawien war eine EU im Kleinformat. Allerdings war es wirtschaftlich immer schwach, und das war ein Nachteil. Es ist wie beim Fußball. Da ist es auch besser, wenn in einer Liga viele gute und große Clubs spielen.

STANDARD: Bogdan Bogdanovic, der einstige Bürgermeister von Belgrad, lebte während der Kriege im Exil in Wien und fühlte sich da sehr zu Hause. Die serbische Kultur sei eng mit Wien verbunden, sagt er. Sie haben als serbischer Botschafter auch lange in Wien gelebt ...

Velikić: Nach der Wiederherstellung der serbischen Staatlichkeit vor 200 Jahren waren Wien und Venedig die wichtigsten Zentren für die Entwicklung der serbischen Kultur und nicht etwa Moskau oder St. Petersburg. Im Übrigen war die serbische Provinz Vojvodina zwei Jahrhunderte lang Teil der Habsburgermonarchie. Die moderne serbische Kultur und Politik konnten nur dank der aufklärerischen Ideen entstehen, die gebildete Serben der Habsburgermonarchie für sich entdeckt und nach Serbien gebracht hatten.

STANDARD: Ihr Roman spielt in drei Städten: Belgrad, Budapest und Wien - sehr ähnliche Städte mit prunkvollen Gebäuden und engen Gassen. Empfinden Sie eine Gemeinsamkeit der drei Städte?

Velikić: Die Gemeinsamkeiten dieses Raumes, der einst die k. u. k. Monarchie war, findet man in Architektur, Kunst und Kultur sowie in einer Reihe von Alltagsgewohnheiten. In den Städten Budapest, Wien, Semlin, das heute ein Teil Belgrads ist, Novi Sad oder Subotica zahlte man mit demselben Geld, verwendete dieselben Briefmarken und füllte dieselben Formulare aus. Innerhalb einer einheitlichen Rechtsprechung und eines einheitlichen Post-, Militär- und Polizeiwesens existierten verschiedene Städte. Und als nach den historischen Erschütterungen neue Staaten auf den Ruinen der alten errichtet wurden, hielten sich Bräuche und Gewohnheiten wie blinde Passagiere, die sich der Zollkontrolle entziehen. Zuverlässiger als Daten in den Geschichtsbüchern zeugen sie von den vergangenen Zeiten.

STANDARD: "Das gute alte kranke Europa", heißt es in Ihrem Roman. Verkörpern diese Städte Europa?

Velikić: Ohne Zweifel, obwohl Serbien lange Zeit vom Rest Europas isoliert war. Verweist man als Grund für diese Isolierung auf den Nationalismus, dann ist das zu unbestimmt. Denn in Ungarn existiert auch ein Nationalismus. Es ist die Lage Serbiens an der tektonischen Grenze zwischen Ost und West, die die entscheidende Rolle spielt. An dieser Lage hat sich bis heute nichts geändert. Die Zerrissenheit zwischen proeuropäischen und prorussischen Optionen zieht sich als eine Konstante durch die serbische Politik. In Krisenzeiten übernimmt Serbien häufig die Rolle eines russischen Gibraltars auf dem Balkan. Die Unterstützung, die Serbien bei entscheidenden historischen Ereignissen von Russland erhält, führt dazu, dass es sich zeitweise von Europa entfernt.

STANDARD: Aber Serbien strebt einen EU-Beitritt an ...

Velikić: Ich bezweifle nicht, dass die Serbische Fortschrittspartei, die die Regierung Serbiens stellt, ernsthaft mit der EU verhandelt. Man darf aber nicht vergessen, dass sie bei den Parlamentswahlen am 16. März zu fünfzig Prozent die russische Karte bekommen hat, weil die Mehrheit ihrer Wähler glaubte, dass sie zwar mit der Europäischen Partei verhandeln müsse, ihr Herz aber für Russland schlage. Der letzte Ausweg ist Dubai. Es würden Millionen aus den Arabischen Emiraten kommen, versprach der Parteivorsitzende Aleksandar Vučić, der neue Ministerpräsident Serbiens. "Belgrad auf dem Wasser", lautete deshalb das Motto seines Wahlkampfs. Die Arabischen Emirate würden dieses Belgrader Projekt einer City auf dem Wasser nach dem Vorbild Dubais finanzieren. Ich fürchte, dass das Motto für unsere Zukunft eher "Serbien bei Wasser und Brot" lauten wird.

STANDARD: Wird Europa nach zwei Weltkriegen, einer jahrzehntelangen Teilung und Bürgerkriegen noch einmal eine Chance bekommen? Oder bleibt es "krank"?

Velikić: Ich bin überzeugter Europäer, auch wenn die EU sich in einer Krise befindet. Die Menschen vergessen schnell, wie es früher war. Man muss dankbar sein für die Vorteile, die die 28 Mitgliedsstaaten genießen. Ich bin froh, dass Serbien auf dem Weg in die EU ist. Aber es wird noch zehn Jahre dauern. Serbien befindet sich in der Lage der Bremer Stadtmusikanten. Diese sympathischen Tiere haben ihr Schicksal auf dem Weg nach Bremen verwirklicht. Wer weiß, was mit Serbien passieren wird. Es ist auch möglich, dass Serbien nie nach Bremen kommt.

STANDARD: Milo Dor sagte in Bezug auf die k. u. k. Monarchie, "allein die Tatsache, dass alle diese Völker unter einem Dach gewohnt haben, hat etwas zustande gebracht, das wir heute mitteleuropäische Kultur nennen". Er betonte, dass die Kultur das einzig wirklich Gemeinsame sei, auf das wir uns auch in Zukunft berufen könnten ...

Velikić: Unbedingt. Als ich den Mitteleuropapreis bekam, habe ich Mitteleuropa mit dem Wiener Kaffeehauses verglichen. Alfred Polgar beschrieb die Kaffeehausbesucher als Menschen, "die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen". Das ist die Topografie Mitteleuropas: viele Völker, jedes an seinem Tisch, aber gemeinsam im selben Kaffeehaus.

STANDARD: Das Fortwirken der Vergangenheit, familiäre Lügen und Beschönigungen spielen in Ihrem Roman eine Rolle. Steht den Familien in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens die Aufarbeitung der Vergangenheit noch bevor?

Velikić: Das hängt nicht vom Land oder der Zeit ab, wo und wie man lebt. Alle Familien auf der Welt haben Leichen im Keller. Als Kinder waren wir von so vielen Schatten umgeben. Ich habe mich oft gefragt, warum ich mich so deutlich an gewisse Bilder und Sätze von damals erinnere. Etwas Wichtigeres hat sich an diese Bilder und Sätze angelehnt - die Möbel unseres Unterbewusstseins. Sie bilden den Stoff für das Schreiben.

STANDARD: Inwieweit hat die Literatur zur Aufarbeitung der Zerfallskriege beigetragen?

Velikić: Viele Schriftsteller haben zu den Zerfallskriegen beigetragen. Der Anteil der Schriftsteller am Krieg ist eine alte Geschichte. Was ist dazu zu sagen, dass im Verlauf des Ersten Weltkrieges Künstler und Journalisten als Mitglieder des k. u. k. Kriegspressequartiers tätig waren oder der im Wiener Kriegsarchiv gebildeten Literarische Gruppe angehörten, die die Aufgabe hatte, rühmenswerte Taten zu bewahren. Literaten wie Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, Robert Musil, Franz Werfel und Egon Erwin Kisch wirkten in der Gruppe mit.

STANDARD: "... das wahre Schreiben beginne da, wo das Erfinden aufhöre ..." Ist das eine Aufforderung an die Schriftsteller, sich der Wirklichkeit zuzuwenden?

Velikić: Je älter ich werde, desto weniger erfinde ich. Der Stoff meiner Literatur stammt aus meiner Erfahrung. Wir haben zuckerfreie Süßigkeiten, fettfreien Käse, koffeinfreien Kaffee und eine kalorienarme diätische Literatur ohne Erleben. Das ist das Phänomen eines soliden Schriftstellers mit großen Auflagen, aber ohne erkennbaren literarischen Wert. Authentische Literatur kommt immer aus persönlichem Erleben.

STANDARD: Am Ende Ihres Romans erzählen Sie Ihre Geschichte ...

Velikić: Das letzte Kapitel handelt von der Geschichte meiner Eltern. Ich erzähle, wie sie einander kennenlernten und das Leben zusammen verbrachten. Das ist der Ausgangspunkt meiner Fiktion in den vorangehenden acht Kapiteln.

STANDARD: Verstehen Sie sich als Chronist Ihres Landes?

Velikić: Mein Land ist der Raum, in dem ich mich zu Hause fühle, und dieses Zuhause ist viel größer als das Land Serbien. Als Leser mag ich die Bücher, in denen man ganze Epochen findet. Die Werke der Literatur sind die einzigen Territorien, in die wir immer zurückkehren können. Aus diesem Grund ist die Literatur, auf längere Sicht gesehen, mächtiger als jede Tagespolitik. Musils Wien oder das Triest von Italo Svevo sind immer erreichbar.

STANDARD: Haben Sie schon einen weiteren Roman in Planung?

Velikić: Seit zwei Jahren schreibe ich an einem neuen Roman. Er handelt großteils von meiner Mutter, der Stadt Pula in den Sechzigerjahren und der Geschichte der österreichischen Familie Hüttenrott, die einige Inseln in der Region Rovinj im Besitz hatte. (Ruth Réné Reif, Album. DER STANDARD, 12./13.4.2014)