"Das Leben kennt die zweite Chance oft nicht", sagt Philosoph Konrad Paul Liessmann über das Scheitern, das nicht immer "produktiv" ist.

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STANDARD: Sie haben als Thema der Vortragsreihe "Fachdidaktik kontrovers" an der Universität Wien im Sommersemester den Titel "Schöner scheitern - zur Pädagogik des Misslingens" ausgewählt. Wie scheitert man denn schöner?

Liessmann: Nun, der Titel dieser Vortragsreihe ist natürlich bewusst ein wenig provokant formuliert. Scheitern, das muss einmal klargestellt werden, ist an sich etwas Unangenehmes: Ein Ziel, ein Vorhaben wurde nicht erreicht, eine Intention wurde verfehlt, die Wirklichkeit war stärker als die gute Idee, die Liebe zerbrach am Alltag, es fehlte das nötige Glück. Solches Scheitern aber gehört zum Leben, niemandem gelingt auf Anhieb alles. Aber man muss auch sehen, dass in unserer erfolgsorientierten Kultur genau dieses Faktum ignoriert wird. Alle - Experten, Trainer, Berater, Coaches - versprechen: Wenn man nur ihren Rezepten folgte, gäbe es kein Scheitern. Schöner scheitern: Das meint vorerst, diese Erfahrung überhaupt erst wieder ins Bewusstsein zu holen und unvoreingenommen zu thematisieren.

STANDARD: In der griechischen Mythologie war das Scheitern des Helden ja quasi unausweichlich. Die Literatur liebt das Scheitern, die Versager, das Misslingende - von Leo Tolstoi über Thomas Mann, Franz Kafka bis Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard, um nur einige zu nennen. Auch die Musik ist voller tragischer Helden und gescheiterter Existenzen, denken wir an Tom Waits. Kann man vom Scheitern anderer lernen oder nur vom eigenen?

Liessmann: Ich denke schon, dass vor allem die Literatur Gelegenheit gäbe, sich mit der Logik des Scheiterns auseinanderzusetzen und davon auch zu lernen. Natürlich: Bestimmte Erfahrungen kann man nur selbst machen, und irgendwann wird jeder einmal auch scheitern. Aber es ist gut und lehrreich zu lesen, welche Varianten, Konstellationen des Scheiterns, aber auch welche Reaktionen darauf es geben kann - von Rebellion bis Resignation, von hartnäckigem Trotz bis zur Verzweiflung. Der klassische Bildungsroman, der ja an Schulen und Universitäten nicht mehr vermittelt und gelesen wird, war ja immer auch als eine Schule des Scheiterns gedacht, die aber zeigte, wie man am Scheitern wachsen kann. Und manchmal kann es ja auch tröstlich sein zu erfahren, dass es auch anderswo Figuren gibt, denen nicht alles so glatt aufgeht, wie es uns unsere Wohlfühlkultur vorzuschreiben scheint.

STANDARD: Liegt das vernachlässigte Scheitern in der Bildungstheorie bzw. Erziehungswissenschaft auch daran, dass die Pädagogik quasi autosuggestiv fast notorisch optimistisch ist oder sein muss, zumal sie doch immer postuliert: Wenn es um die Kinder geht, geht es um die/unsere Zukunft, also um alles?

Liessmann: Es ist ja paradox: Während ständig darüber geklagt wird, was unser Bildungssystem alles nicht leistet, wo es überall versagt, was alles falsch läuft, ist die Thematisierung des Scheiterns im Bereich der Bildung und Pädagogik ein Tabu. Ich habe für diese Vorträge etliche Absagen von renommierten Erziehungswissenschaftern mit dem Hinweis bekommen, Scheitern komme in ihrem Forschungskontext nicht vor. Da fragt man sich: In welcher Welt leben diese Menschen? Wäre unser Bildungssystem auch nur halb so schlecht, wie von manchen ständig behauptet wird, müssten ständig alle scheitern: Die Lehrer an den Schülern, die Schüler am Stoff, die Schule an den Lehrern, die Behörden an den Schulen, die Eltern an den Kindern und so weiter. Und natürlich ist der Alltag von den kleinen und großen Erfahrungen des Scheiterns geprägt, und das ist einfach normal. Gleichzeitig wird eine Bildungskonzeption propagiert, die dieses Scheitern systematisch ausschalten will: Jeder erreicht alle Lernziele, niemand wird zurückgelassen, jedes Talent wird entdeckt und entfaltet, niemand macht einen Fehler, und macht er ihn doch, wird er toleriert, um das Kind nicht zu traumatisieren. Das kann nur zu einer Selbstillusionierung führen, zu einem Potemkin'schen Bildungsdorf.

STANDARD: Auffällig ist auch, dass die Konjunktur des Scheiterns als produktive Kraft in den vergangenen Jahren vor allem aus der Managementerbauungsliteratur oder aus dem ökonomischen Kontext gekommen ist. Stichwort: "Fehlerkultur". Was hat das zu bedeuten?

Liessmann: Leider kommen ja alle Ideen der Bildungsreformer aus der "Managementerbauungsliteratur", umgekehrt wäre es mir lieber. Mit der "Fehlerkultur" verhält es sich ähnlich. Natürlich war es falsch, immer nur die Fehler zu suchen und zu werten, und nicht das, was auch gelungen ist - wenn etwas gelungen ist. Andererseits: Lernen heißt auch - wenn auch nicht nur - aus Fehlern lernen. Fehlerkultur suggeriert, dass es einen toleranten Umgang mit Fehlern geben sollte. Nun muss man aber sagen, ein Fehler ist ein Fehler, weil dabei etwas falsch gemacht wurde, also etwas getan wurde, das man besser unterlassen hätte. Man kann - und dies wusste auch jede traditionelle Didaktik - aus der Frage, warum Fehler gemacht werden, welche Schwächen, Motive, Defizite oder Nachlässigkeiten dazu geführt haben, sehr viel lernen, und eine genaue Fehleranalyse gehört zu jedem Lernprozess. Dazu gehört aber auch der Mut, zuerst einmal zu sagen: Das ist falsch! Natürlich: Niemand macht gerne Fehler - es ist meines Erachtens aber nicht richtig, Kindern und jungen Menschen diese Erfahrung, dass sie eben auch Fehler machen, aus falsch verstandener Empathie zu nehmen.

STANDARD: Aber es gibt doch unbestritten auch Fälle von Scheitern, die nichts Kathartisches haben, sondern nur furchtbar sind und Dramen auslösen. Wo ziehen Sie die Grenze zwischen "produktivem" und einfach nur schrecklichem, zerstörerischem Scheitern?

Liessmann: Es gibt ein Scheitern, aus dem man nicht mehr lernen kann, weil es keine Möglichkeit der Wiederholung gibt. Im Leben ist das oft der Fall. In der Schule sollte dies gerade nicht der Fall sein. Hier sollten Fehler möglich sein, weil sie in gewisser Distanz zum Leben geschehen können und deshalb auch in einem gewissen Rahmen Wiederholungen, zweite Chancen möglich sind. Das Leben kennt diese zweite Chance oft nicht. Die Rede von der lebensnahen Schule ist so eigentlich grausam: Sie nimmt der Schule die Schutzfunktion, die sie den jungen Menschen gewähren kann. Dort, wo das Scheitern zu Tragödien führt, könnten nur mehr andere aus diesem Scheitern etwas Produktives gewinnen. Wie schwer das ist, zeigt die Geschichte.

STANDARD: Ist das Scheitern heute durch das Internet und die Social Media etc. auch dramatischer geworden, weil es eine ganz andere Öffentlichkeit erreicht, immer mehr Beobachter, die die Schande oder Schmach miterleben können?

Liessmann: Natürlich. Schulisches Versagen etwa oder das Scheitern in einer Beziehung, das früher enge Freunde und die Familie betraf, wird heute sofort zu einer halböffentlichen Angelegenheit, die, wie vieles im Social Web, oft auch noch hysterisiert wird. Andererseits flachen solche medialen Erregungskurven auch sehr schnell wieder ab und werden durch neue Hysterien ersetzt. Das ist für die Betroffenen aber nur ein geringer Trost. Vielleicht gehört es auch zu einem Projekt "Schöner scheitern" zu wissen, welchen Formen des Misslingens überhaupt der Charakter eines dramatischen Ereignisses zugesprochen werden kann und wo man die Kirche im Dorf lassen sollte. Gerade im Bildungsbereich haben sich Maßstäbe bis an die Grenze des Absurden verschoben, die Bedeutung, die etwa Pisa und dem damit verbundenen "Scheitern" zugeschrieben wird - wieder nur unteres Mittelfeld -, ist vollkommen überzogen.

STANDARD: Christoph Schlingensief hat mit seiner Partei "Chance 2000" das Motto "Scheitern als Chance" postuliert. Was lässt sich über Politik und Scheitern sagen? Nehmen wir zum Beispiel die weltweite Finanzkrise, oder noch näher: die Malaise um die Hypo-Alpe-Adria-Bank. Welche Form von Scheitern sehen Sie da? Oder war's einfach nur Gier und Unfähigkeit?

Liessmann: Die Hypo wäre ein Lehrstück des Scheiterns für eine große Bühne, das zeigen könnte, was es bedeutet, wenn schlechthin alle scheitern: die Banker mit ihren Spekulationen, das Land mit seiner Haftung, die Politik mit ihrer Verstaatlichung, die Berater mit ihren Ratschlägen, die kleinen Anleger mit ihren Hoffnungen. Jeder scheitert auf einer anderen Ebene, keiner kann einen Erfolg verbuchen, zahlen müssen wir alle. Wenn aber alle zahlen müssen, bekommt auch jemand das Geld, und das bedeutet: Es gibt schon auch diejenigen, die aus diesem Scheitern ihren Gewinn ziehen. Und das ist etwas, was wir nicht gerne hören wollen, schon gar nicht in der Pädagogik: dass das Scheitern der einen die Voraussetzung für den Erfolg der anderen sein kann.

STANDARD: Was war Ihr persönlich schlimmstes Scheitern?

Liessmann: Man könnte sagen, ich bin der geworden, der ich bin, weil ich in allem anderen gescheitert bin (lacht). Musik zum Beispiel. Wie sehr liebe ich sie, und doch habe ich es nie geschafft, ein Instrument zu spielen. Oder der Sport: Wie gerne wäre ich ein begnadeter Skifahrer gewesen - aber bei jedem Skikurs landete ich in Gruppe V, was in einer siebenten Klasse nicht nur einem sportlichen, sondern auch einem erotischen Todesurteil gleichkam. Da blieben für mich nur die Bücher. Aber auch hier scheiterte ich manchmal, aber dieses Scheitern lernte ich zu lieben: Ich benötigte vier verzweifelte Anläufe, um mit Jean Pauls Titan "fertig" zu werden. Aber ich habe es geschafft, und es war ein unvergessliches Erlebnis. Und mit meiner Kritik an den Irrtümern und Auswüchsen der Bildungsreformen werde ich natürlich auch scheitern. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 14.4.2014)