Angelika Reitzer: "Wir Erben". € 22,70 / 343 Seiten. Jung und Jung, Salzburg 2014

Foto: Jung und Jung

"Marianne wusste nicht genau, wie groß ihre Sehnsucht war und von welcher Gestalt." Gefühle wie Sehnsucht ließ sie erst gar nicht zu. Und sie wusste auch nicht mehr, wie es gekommen war, "dass sie annahm, sie wäre hier zuhause: die Baumschule, die Gewächshäuser, Folientunnel, Sortierhalle, ein riesiges Haus, eine alte Frau, ein Sohn, Liebhaber manchmal".

Den Beginn von Angelika Reitzers Roman Wir Erben markiert eine Zäsur im Leben von Marianne: der Tod der Großmutter, der Matriarchin des Lex-Hauses. Marianne fragt sich, wie es weitergehen soll, denn es geht zwar immer alles weiter, aber vielleicht gibt es ja auch für sie Möglichkeiten, die Richtung zu ändern. Sohn Lukas studiert in Wien, von ihrer letzten Beziehung Eric hat sie sich getrennt. Im Haus wird es immer stiller. Marianne lebt ein unbewegliches Leben, bestimmt von den Jahreszeiten und den jeweils notwendigen Arbeiten in der Baumschule. Sie weiß nicht, welche Angst größer ist: "Die vor der Veränderung oder die vor dem Immergleichen?" 

Gestrüpp von Namen

Angelika Reitzer erkundet auch in ihrem dritten Roman Wir Erben mögliche Existenzformen von Familie und rückt dabei wieder besonders die Frauen und Mütter in den Fokus ihres Interesses. Denn neben der Großmutter sind es die drei Töchter und ihre Kinder, die Familien bilden, während Männer in der Lex-Familie keine besondere Rolle spielen.

Nicht ganz einfach ist es, sich im Gestrüpp der Namen und Verwandtschaftskonstellationen der verzweigten Familie zurechtzufinden. Die Familienmitglieder sind ziemlich viel unterwegs, zumal Mariannes Mutter, die sich mit ihrem Anteil der Erbschaft ihren Wunsch nach einer einjährigen Weltreise in zwölf Länder erfüllen möchte und die Sesshaftigkeit ihrer Tochter und ihr "bleiernes Dasein im Haus ihrer Kindheit" nicht verstehen kann. Dennoch kehren alle gerne bei Festen ins Haus im fiktiven Ort Gumpendorf in der Nähe von Wien zurück. Marianne übernimmt von der Großmutter nicht nur den Betrieb der Baumschule, sondern auch die Rolle der "Mutterpflanze".

Angelika Reitzer kontrastiert Mariannes Verwurzelung mit der Schilderung des bewegten Lebens von Siri im zweiten Teil des Romans. Die Eltern fliehen mit ihren beiden halbwüchsigen Töchtern kurz vor dem Ende der DDR über Österreich nach Westdeutschland und kehren nach eher enttäuschenden Erfahrungen nach der sogenannten "Wende" wieder in ihre Heimat zurück.

Sie müssen allerdings damit zurechtkommen, dass die besten Freunde ihr Haus geplündert haben und nicht gewillt sind, ihnen die "Dinge" wieder zurückzugeben. Mehrere Übersiedlungen folgen, aber ein Gefühl von Zuhause will sich nicht mehr einstellen. Für Siri gibt es keine Erinnerungsorte für ihre Familiengeschichte, keine Häuser und Grundstücke. Aber auch sie hat ein Erbe angetreten, das der Entwurzelung.

Sie geht zum Studium zunächst in die Vereinigten Staaten, will bildende Künstlerin werden, fährt nach Japan, verliebt sich in einen österreichischen Bauern und landet schließlich mit einem anderen Mann und zwei Kindern in Weimar. Dort treffen sich im letzten Kapitel des Romans die beiden Frauen, die eine Freundschaft verbindet, nicht weil sie sich ähnlich, sondern weil sie so verschieden sind und jede im Spiegel der anderen das eigene Leben anschauen kann: "Sie hatten keinen gemeinsamen Ort, sie hatten Augenblicke, die sich als haltbar erwiesen."

Völlig unsentimental und schnörkellos entwickelt Angelika Reitzer ein Erzählgeflecht, das sich an der Kunst des Gartenbaus orientiert. Dass sie die Sprache der Gartenarbeit wunderbar beherrscht, hat sie schon in der Erzählung Streuobst in ihrem Band Frauen in Vasen bewiesen. In ihrem Roman Wir Erben gelingt Angelika Reitzer das Kunststück, die vielfältigen Analogien zwischen Schreiben und Gärtnern auszuloten, von der präzisen Schnitttechnik bis zur Geduld fordernden Detailarbeit. Und sie nützt das Handwerk des "Aufpfropfens", das Verbinden zweier verschiedener Pflanzen, als poetologisches Bild für die Konstruktion ihrer beiden Romanteile, die zunächst völlig unabhängig voneinander erzählt werden.

Angelika Reitzer traut sich literarisch zu Recht einiges zu, und dazu gehört auch, dass sie sich auf ein berühmtes literarisches Vorbild bezieht und es ganz eigenständig weiterschreibt. Denn gleich im ersten Romankapitel können wir Marianne beim Veredeln von Obstbäumen beobachten, wenn sie Edelreiser aufpfropft. Dass die Autorin dabei die Eingangsszene von Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften im Kopf hat, wird ganz nebenbei gegen Ende des Romans durch ein konkretes und ironisches Zitieren belegt.

Marianne schlägt Goethes Roman auf und fragt Siri, ob sie ein Buch mit diesem Romananfang lesen würde. Wie Eduard in den Wahlverwandtschaften liebt es auch Marianne, "die schönste Stunde eines Aprilnachmittags" mit dem Aufpfropfen zu verbringen.

Angelika Reitzer will als zeitgenössische Schriftstellerin nicht mehr wie Goethe aus einer allwissenden Perspektive erzählen, sondern erkunden, wie sein ästhetisches Konzept zur Darstellung von Wirklichkeit heute taugt. Sie stellt als "Erbin" Fragen, ohne Antworten zu geben, lässt offen, auf welchen Wegen die beiden Frauen weitergehen. Und wir können neugierig und gespannt auf die Wege sein, die Angelika Reitzer in ihren nächsten Büchern einschlagen wird. (Christa Gürtler, DER STANDARD, 15.3.2014)