Bild nicht mehr verfügbar.

Eine freie Gesellschaft, die den Geschlechterdualismus überwunden hat, besteht nicht in einer geschlechtslosen Gesellschaft, sondern in einer geschlechtervielfältigen Gesellschaft.

Foto: APA/Friso Gentsch

These 1

Der wichtigste Punkt rund um das Thema "Gender" hat nichts mit Frauen zu tun, sondern ist die Kritik an der Sich-zur-Normsetzung des Männlichen. Frauen kommen allerdings insofern ins Spiel, als Feministinnen die ersten waren, die dieses Sich-zur-Norm-Setzen des Männlichen hinterfragt haben.

These 2

Der Einwand, dass Geschlechtsklischees generell abzulehnen sind, ist zwar richtig, kann aber leicht vom eigentlichen Punkt ablenken: Kein anderes Geschlecht als das Männliche hat sich jemals zur Norm gesetzt. Wobei "das Männliche“ nicht identisch ist mit "den Männern“. Es gab schon immer Männer, die diese patriarchale Ordnung kritisiert haben, und Frauen, die sie unterstützt haben.

These 3

Das wesentliche Merkmal des Patriarchats war nicht, Frauen und Männern bestimmte Klischees zuzuschreiben, sondern Differenzen unter Menschen (vor allem, aber nicht nur die Geschlechterdifferenz) hierarchisch im Sinne von "normal" und "defizitär“ zu interpretieren. Also nicht: "Männer sind so" und "Frauen sind so", sondern "Männer sind normale Menschen" (in vielen Sprachen gibt es für beides sogar nur ein Wort) und "Frauen sind eine defizitäre Sorte von Menschen" (wenn überhaupt). Dies bildet die Folie, vor der dann auch andere Unterschiede (Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Alter usw.) an einer angeblichen Norm gemessen und somit hierarchisiert werden konnten.

These 4

Die Betonung von biologistischen Klischees über Frausein und Mannsein wurde ideengeschichtlich erst bedeutsam, als diese Hierarchisierung der Geschlechter mit der Aufklärung und ihrem Postulat von der Gleichheit aller Menschen in Legitimationsschwierigkeiten kam. Die Überwindung dieser Geschlechterklischees („post-gender“) garantiert deshalb noch nicht die Freiheit aller Menschen und speziell nicht die Freiheit der Frauen. Post-Gender-Denken kann auch genau das Gegenteil bewirken, nämlich die erneute Behauptung des "Unwichtigseins" von Frauen.

These 5

Weibliche Freiheit lässt sich nicht dadurch erreichen, dass Frauen abgeschafft werden.

These 6

Unterschiede zwischen Menschen haben vielfältige Ursachen. Ob diese biologisch oder sozial bedingt sind, ist zwar interessant zu erforschen, aber letztlich nicht so wichtig. In einem politischen Sinne sind die interessantesten Differenzen ohnehin die selbst gewählten, diejenigen also, bei denen sich Menschen aktiv durch ihr Handeln von anderen Menschen unterscheiden.

These 7

Dass sich kein Mensch dabei völlig losgelöst von sozialer Herkunft, dem eigenen Körper, der ererbten Kultur oder anderen äußeren Beeinflussungen verhält, ist eine Binsenweisheit. Das "autonome Ich“ ist ein Konstrukt der männlichen (westlichen?) Philosophie. Menschliche Freiheit ist immer Freiheit in Bezogenheit, sie existiert nur zusammen mit Körperlichkeit, Natur und sozialer Zugehörigkeit.

These 8

Eine freiheitliche Politik besteht nicht in der Behauptung einer (immer nur abstrakt denkbaren) Gleichheit der Menschen, sondern in kreativen und dem jeweiligen Kontext angemessenen Wegen, mit der (real vorhandenen) Ungleichheit der Menschen umzugehen, ohne dass daraus Herrschaft entsteht.

These 9

Diese Ungleichheiten allein auf individuelle Unterschiede zurückzuführen, wie es unter dem "Post-Gender“-Begriff versucht wird, beinhaltet nicht nur die Gefahr, die prägende Kraft von Konventionen und gesellschaftlichen Normierungen zu ignorieren. Sie beinhaltet vor allem die Gefahr, die Normsetzung des Männlichen quasi durch die Hintertür wieder einzuführen. Männlichkeit und der "geschlechtsneutrale Mensch" sind historisch eins. Männlichkeit hat sich nie als einheitlich, sondern schon immer als vielfältig verstanden. "Einheitlich" im Sinne von Stereotypen wurden immer nur die "anderen", speziell die Frauen, definiert.

These 10

Eine wichtige feministische Strategie besteht deshalb darin, Differenzen unter Frauen anzuerkennen, sichtbar zu machen und öffentlich zu verhandeln. Die Praxis dazu ist die bewusste Pflege von Beziehungen unter Frauen und die Anerkennung weiblicher Autorität, und zwar ohne dabei von einem einheitlichen "Wir" der Frauen auszugehen. Nur so entsteht weibliche Freiheit. Wobei dies natürlich nicht ausschließt, dass Frauen auch Beziehungen zu Männern oder anderen Geschlechtern haben, sowohl privat als auch politisch.

These 11

Freies Frausein bedeutet weder die Angleichung an das Männliche noch die Abgrenzung davon. Zwischen Frauen und Männern besteht eine Differenz, aber diese ist nicht symmetrisch und definierbar, sondern sie zeigt sich immer nur in einer konkreten Situation (oder auch nicht). Frauen sind weder dasselbe wie Männer, noch sind sie anders als Männer. Sie sind, wie sie sind. Das Männliche ist kein Maßstab, weder im Positiven noch im Negativen. (Es kann aber durchaus Inspiration und Anregung sein).

These 12

Eine freie Gesellschaft, die den Geschlechterdualismus überwunden hat, besteht nicht in einer geschlechtslosen Gesellschaft, sondern in einer geschlechtervielfältigen Gesellschaft. Ob es zwei, drei, vier oder fünf Geschlechter gibt, ist nicht so wichtig und hängt von vielen Faktoren ab. Der entscheidende Punkt ist: Es darf nicht nur eines geben.

These 13

Nur auf Grundlage einer freien weiblichen (also geschlechtervielfältigen) Differenz ist es möglich, dass Frauen und Männer (und andere Geschlechter ebenso wie andere "Andere“) sich über die Gestaltung der gemeinsam bewohnten Welt verständigen, austauschen und darüber herrschaftsfrei verhandeln. Dabei ist jede Sichtweise, die auf eine angeblich allgemeingültige Norm pocht, abzulehnen. Es gibt keinen höheren Maßstab, dem sich alle unterordnen müssen. Das ist das Wesen des Pluralismus.

These 14

Der wesentliche Impuls des Feminismus für eine freie Gesellschaft besteht genau darin: Die Differenz aus der Falle ihrer hierarchischen und herrschaftsförmigen Interpretationen befreit zu haben. Freie Frauen, also solche, die sich weder an Stereotypen von Weiblichkeit orientieren noch das Männliche als Maßstab akzeptieren, haben die sexuelle Differenz (und damit die Differenz überhaupt) als politischen Verhandlungsfaktor in die Welt gebracht, mit dem zu rechnen ist.

These 15 

Diese Praxis ist aber nicht auf Frauen beschränkt. Auch Männer und alle anderen Geschlechter können – und sollten – sich daran beteiligen. Denn es geht nicht um Lobbyarbeit für Fraueninteressen, sondern um eine Welt, in der gutes Leben für alle Menschen möglich ist. (Antje Schrupp, dieStandard.at, 15.5.2014)