Christine Chubbuck

Quelle: Channel 40 / Youtube

Was nach dem 15. Juli 1974 in den Zeitungen stand: Christines Nachrichtenchef etwa war überzeugt, niemals zuvor habe jemand so etwas im Fernsehen gemacht. Als Reporterprofi wollte sie die Erste sein.

Foto: Sarasota Herald Tribune

Ehe Richard Nixon im August 1974 die Schmach zuteil wird, sich aus dem Weißen Haus verabschieden zu müssen, sorgt eine Ausgabe der Guten-Morgen-Show "Suncoast Digest" für den Aufreger dieses amerikanischen Fernsehsommers.

Am Morgen des 15. Juli bestellt die Moderatorin Christine Chubbuck, trotz ihrer beim Sender Channel 40 wohlbekannten Skepsis in Bezug auf gewaltorientierte Berichte, im Kontrollraum Filmmaterial zu einer Schießerei, die tags zuvor im Zentrum von Sarasota, Florida, stattgefunden hat. Als Christine im Rahmen einer Meldungsübersicht zur Filmeinspielung überleitet, bekommt sie Zeichen, dass es technische Probleme gibt, worauf die üblicherweise auf Präzision versessene TV-Journalistin - zur Überraschung des versammelten Teams - regelrecht belustigt reagiert.

Ein lauter Knall bauscht ihr langes Haar auf 

Das Gesicht auf ihr Skript gerichtet, liest sie: Gemäß der Politik hier bei Channel 40, Ihnen das Neueste ... Christine blickt auf und lächelt unsicher in die Kamera ... aus der Abteilung Blut & Eingeweide live und in Farbe zu servieren ... jetzt schaut sie wieder in ihr Skript, als ließe sie sich von dem leiten, was da geschrieben steht ... bringen wir Ihnen eine weitere Premiere. Sie schaut jetzt wieder in die Kamera, die Unsicherheit von vorhin ist etwas Herausforderndem gewichen ... Einen Selbstmordversuch.

Christines rechter Arm, der unter dem Pult verschwunden war, kommt wieder zum Vorschein. In der Hand hält sie einen Revolver Kaliber '38. Sie richtet die Waffe an die Unterseite ihres Hinterkopfes und drückt ab. Ein lauter Knall bauscht ihr langes Haar auf wie ein unerwarteter Windstoß den Rock einer Sexbombe.

Sie ist jemand, der man so etwas zutraut

Christines Oberkörper fällt nach vorn auf das Pult und gleitet langsam aus dem Fernsehbild, das zu diesem Zeitpunkt bereits sich selbst überlassen ist, weil diejenigen, die eben noch Kameras und Monitore bedient haben, zu ihrer Kollegin ans Moderatorenpult gestürmt sind. Die erste Aufgebrachtheit wird von etwas geradezu Wütendem bestimmt.

Einige der Anwesenden halten Christines Tat für einen üblen Scherz. Sie ist jemand, der man so etwas zutraut. Erst angesichts ihres blutüberströmten Körpers wandelt sich sämtliche Empörung in Bestürzung. Auf dem Moderatorenpult wird das blutgetränkte Skript von Christines Selbstmordversuch gefunden, das auch ihre Einlieferung ins Krankenhaus vorsieht, wo sie wenig später stirbt.

In dem Skript verabschiedet Christine sich von ihren KollegInnen und versichert, dass sie getan habe, was sie habe tun wollen, und zwar auf eine Art und Weise, dass alle es sehen können.

Hey, schaut mal her! 

Etwa einen Monat später - Christine wäre jetzt 30 Jahre alt geworden - schätzen ihre KollegInnen ihre Tat unterschiedlich ein (Quelle: Sally Quinn, Washington Post, August 1974). Ein Redakteur meint, Christine wollte damit sagen: Ist es das, was ihr wollt, Leute? Blut und Eingeweide? Bitte schön, hier ist es. Christines Nachrichtenchef ist überzeugt, niemals zuvor habe jemand so etwas im Fernsehen gemacht: Als Reporterprofi wollte sie die Erste sein. Der Schnittmeister mutmaßt, Christine wollte: in aller Munde sein und - was früher oder später unumgänglich geworden wäre - es sich ersparen, ihr privates Leben auf die Reihe zu kriegen.

Im Grunde war es ihr Herzenswunsch, zu heiraten und eine Familie zu gründen, meint die Sportredakteurin Andrea. Getötet habe Christine sich, um damit zu sagen: Hey, schaut mal her! Der Moderator der Börsenkurse wiederum empfand Christine als eine emanzipierte Frau, einen Quälgeist ... beinahe männlich. Was sie machte, war ein Job für Männer, nur machte sie ihn besser als ein Mann. Sie war präzise und effizient. Da war nichts Weibliches an ihr. Ihr Selbstmord überrascht ihn nicht unbedingt.

Das Wasser, ihr Freund

Auch Christines Mutter wundert sich nicht über den Selbstmord ihrer Tochter. Allerdings hätte sie erwartet, Christine würde ins Wasser gehen. Das Wasser war ihr Freund, sagte sie, es hätte durchaus auch ihre letzte Ruhestätte werden können. War das Nachrichtenstudio ebenfalls ihr Freund? Ihre Mutter meint, Christine wollte etwas sagen wie: Hallo Welt, ich bin schon die ganze Zeit über hier. Wie wäre es mit einem Date, Samstagabend?

Gegenüber ihrem jüngeren Bruder kündigt Christine ihren Selbstmord zwei Tage vor der Tat an. Das vom Bruder offerierte Gespräch verschiebt sie jedoch auf später und bestärkt damit den Eindruck, sie meine das - wie so oft - symbolisch.

Leidenschaft für das Niederträchtige und Gemeine

Christine Chubbuck ist eine jener Anfang der 1970er-Jahre rar gesäten weiblichen TV-Gastgeber. Sie hat in Boston Film- und Fernsehtechnik studiert und ist anschließend nach Sarasota gezogen, weil ihrer Familie im nahe gelegenen Siesta Key ein Haus gehört, das bislang als Feriendomizil diente. Christine heuert beim lokalen Fernsehsender an, um praktische Erfahrung zu sammeln und zu zeigen, was sie kann.

Dieser über den Äther versandten Bewerbung kommt die kürzlich entflammte Leidenschaft des Senders für alles, was niederträchtig und gemein ist, nicht unbedingt gelegen. Bereits mehrfach hat sie sich abfällig über die immer offensichtlichere Tendenz des Senders in Richtung Boulevard blutig inszenierter Gewalt ("blood & guts", wie Christine es nennt) geäußert.

Gewaltfrei zumindest zum Frühstück

Aber was bleibt Bob, dem Chef von Channel 40, anderes übrig? Den Trend, sämtliche Nachrichtenblöcke mit sensationellem Bildermaterial anzureichern, hat er nicht erfunden, und die Zuseher akzeptieren ihn, was sich an der Vehemenz ablesen lässt, mit der sie sich in Befragungen dagegen aussprechen. Seine ehrgeizigste Redakteurin hingegen setzt auf gesellschaftlich relevante Themen und eine angemessene Berichterstattung. Zumindest das Frühstücksfernsehen soll gewaltfrei bleiben.

Bob hingegen will, dass möglichst alle etwa 10.000 Apparate im Sendebereich bereits morgens eingeschaltet werden. Die in den letzten drei Jahren von ihm aufgebaute Station (WXLT-TV) gehört zum ABC-Imperium, und in diesem werden jene ZuseherInnen gezählt, die nicht zusehen, obwohl sie eigentlich zusehen könnten.

Endlich ein Einlenken

Als Christine ankündigt, eine ihrer Sendungen dem Thema Selbstmord widmen zu wollen, meint ihr Chef darin ein Einlenken seiner 29-jährigen Redakteurin zu erkennen. Eine Sendung über Selbstmord scheint sowohl dem blutrünstigen Bob als auch der verantwortungsvollen Christine, die von vielen für ihre kluge journalistische Arbeit geschätzt wird, Spielraum zu bieten.

Wie viele ihrer KollegInnen betrachtet Christine ihre Tätigkeit in der Provinz als Sprungbrett für eine Karriere bei einem größeren Sender. Weibliche Gastgeber von Vormittagsshows stellen eine Option für die Zukunft dar. Bei Channel 40 hat Christine die Chance, sich als solche zu bewähren, ohne knapp bekleidet das regional zumeist heitere Wetter aufzusagen. In der Branche müsste sie dafür im Grunde beneidet werden. Sie muss nicht hübsch, sie darf attraktiv sein.

Scheinheiligkeit des Mediums

In letzter Zeit hat Christine jedoch das Gefühl, je länger sie bei Channel 40 bleibe, desto unwiderruflicher würde man sie mit sensationsgeilem Boulevardjournalismus assoziieren und von dort, wo die Stimme der Vernunft gefragt ist, nach Möglichkeit fernhalten.

Sie sieht sich dabei zu, wie sie zu einem Typ Journalistin wird, den sie von jeher verabscheut, hilft sie doch mit, jene Scheinheiligkeit des Mediums TV, die es ermöglicht, dabei zu sein und sich gleichzeitig zu distanzieren, bereits an den Frühstückstisch zu bringen. Als unlängst einer ihrer Beiträge zugunsten der Berichterstattung über eine Gewalttat gekürzt wurde, flippt sie völlig aus, was nicht nur dem Nachrichtenchef, sondern im Nachhinein auch ihr selbst unverhältnismäßig vorkommt.

Amoklauf gegen die eigene Person

Bald nachdem Christine nach Siesta Key gezogen ist, folgt ihre Mutter, die sich von Christines Vater getrennt hat. Mit ein wenig Abstand verlegen auch ihre beiden Brüder ihren Wohnsitz nicht nur in das ehemalige Feriendomizil der Familie, sondern in dasselbe Haus. Erst der jüngere, dann der ältere, ein Innenausstatter, der die neue Wohnsituation der Rumpffamilie gestalterisch prägt.

Als Christine sich, ihre TV-Show als Bühne benützend, vor laufender Kamera in den Kopf schießt, um gegen die wachsende Sensationslüsternheit des Senders, für den sie arbeitet, und die offensichtliche Akzeptanz dieser Entwicklung seitens ihres Publikums zu protestieren, ahnt kaum jemand etwas von irgendwelchen Zusammenhängen dahinter.

Das verbindet ihre Tat mit jener Art von Berichterstattung, gegen die sie Anklage erhebt. Eine Berichterstattung, die sich die sehenswerten Aspekte herauspickt und so erschreckend wie möglich inszeniert. Eine weitere Facette der Absurdität von Christines Amoklauf gegen die eigene Person.

Sensationsgeile Blutküche

Zunächst könnte man glauben, die frustrierte Journalistin reduziere ihren Protest auf schiere Drastik, vergleichbar einer verzweifelten Kriegsgegnerin, die sich mit Benzin überschüttet, um zu zeigen, dass sie es ernst meint. Christine hingegen weist darauf hin, dass das gemeinhin als harmlos geltende Frühstücksfernsehen im Begriff ist, sich in eine sensationsgeile Blutküche zu verwandeln - und ein Großteil der Zuseher diesem Umwandlungsprozess tatenlos ... zusieht.

Was verblüfft, ist die Widersprüchlichkeit, ausgerechnet via Fernsehen mit Spektakularität vor Spektakularität abschrecken zu wollen. In einer solchen Konstellation gewinnt immer das Medium, dessen Integrität keineswegs davor zurückschreckt, sich selbst stellvertretend für einen Großteil seiner Zuseher einer Schwäche für die dunklen Seiten des Lebens zu überführen. Merkwürdig, dass Christine das außer Acht lässt. Ausgerechnet das Fernsehen als Plattform für einen solchen Protest zu benützen könnte man als Versuch bezeichnen, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.

Noch ein Quäntchen Würde

Benützt Christine das Medium Fernsehen als Hochhaus, von dem herunterspringend einem Leben zumindest im Tod noch ein Quäntchen Würde verliehen werden soll? Oder avanciert der Newsroom zu Christines Artemistempel? Einen solchen, nämlich den in Ephesos, zündet der Hirte Herostratos etwa 350 Jahre vor unserer Zeitrechnung an, um durch diese Tat berühmt und durch diese Berühmtheit unsterblich zu werden. Das für seinen frevelhaften Akt der Zerstörung verhängte Urteil, das vorsah, weder seinen Namen noch was er getan habe jemals wieder zu erwähnen, hat sich als ebenso wenig nachhaltig erwiesen, wie es Christines Kamikazeaktion gelingen kann, dem Fernsehen eine Lektion zu erteilen.

Einige Zuseher und Zuseherinnen achten vielleicht ein, zwei Wochen darauf, ihr Frühstück bereits eingenommen zu haben, ehe sie das Fernsehgerät einschalten, andere wiederum warten insgeheim auf eine nur ansatzweise vergleichbare Protestnote. Im Einflussbereich des Fernsehens kommt dem Einzelnen bestenfalls die Funktion des Architekten jenes Tempels zu, der Herostratos' Wahnsinnstat als Brennstoff diente. Wie der heißt, weiß heute kein Mensch mehr.

Nicht so leicht einzuschüchtern

Paul Hilbert, Jean-Paul Sartres Protagonist im Text Herostrat blickt zu Beginn von seinem im sechsten Stock gelegenen Appartement herab auf die Menschen, weil diese Perspektive seinem Gefühl moralischer Überlegenheit dem Durchschnitt gegenüber gerecht werde. Seine soziale Kompetenz geht gegen null (Ich war niemals sonderlich intim mit einer Frau). Ich möchte, beschließt er eines Tages, sie alle in Erstaunen versetzen. Er verfertigt einen Abschiedsbrief - wie der von Christine eher konzeptionell als persönlich abgefasst - und schickt ihn an 102 Schriftsteller, die ihn nach der von ihm geplanten Tat erhalten sollen (... Sie wissen besser als jeder andere, was das Geschreibsel der großen Blätter wert ist ...).

Paul bezeichnet sich selbst als Menschenfeind, der sechs (über so viel Schuss verfügt sein Revolver) wildfremde Menschen töten will. Einfach um zu beweisen, dass es so etwas wie puren Menschenhass gebe. Nach sechs Morden will Paul sich selbst töten, ehe seine Verfolger, aus denen, seiner Einschätzung nach, zu diesem Zeitpunkt rachsüchtige Menschenfreunde geworden sein dürften, seiner habhaft würden.

Daran scheitert Paul. Nachdem er einem Passanten in den Bauch geschossen hat, verbarrikadiert er sich in seinem Appartement, fällt jedoch schließlich lebend in die Hände seiner Häscher.

Mit dem ersten Schuss getroffen

Christine trifft bereits mit dem ersten Schuss dorthin, wohin sie treffen wollte, aber bei ihr handelt es sich auch um eine Frau, die angetreten ist, um sich in einem von Männern dominierten Beruf durchzusetzen. Außerdem handelt Christine on air. Darin unterscheidet sich der im Schwarzweiß existenzialistischer Literatur der 1930er-Jahre entworfene Paul, der vollmundig Taten ankündigt, die auszuführen ihm schlussendlich die Nerven fehlen, von der Gastgeberin im US-amerikanischen Farbfernsehen Anfang der 1970er.

Was aber prädestiniert Christine zur Protagonistin ihrer eigenen Strafaktion?

Die meisten Zuschauer dürften mit Erleichterung zu Kenntnis genommen haben, dass es auch eine ganz andere Story hinter diesem spektakulären Statement einer TV-Journalistin gibt. Handelt es sich möglicherweise gar nicht um einen Selbstmord um des Aufdeckens der Blutrünstigkeit des Fernsehens willen?

Dateless Wonders

Die 29-jährige Christine hat zum Zeitpunkt ihrer Tat noch niemals Sex mit einem Mann gehabt. Ihre Schwierigkeiten mit Männerbekanntschaften reichen zurück bis in ihre Highschool-Tage (Dateless Wonders heißt ihr ... Mädchen vorbehaltener Club). Die Jahre ihrer Ausbildung münden in eine Phase absoluten Alleinseins, spülen sie zurück in den Schoß ihrer Familie. Daneben hat Christine jedoch eine öffentliche Person herausgebildet, die im Newsroom wohnt und lebendig wird, sobald die Kamera läuft und ihr Gegenüber Gast in ihrem Studio ist.

Die Kamera macht sie zu einer Vertreterin ihres Publikums, lässt sie kritische Fragen stellen, nachhaken, dem ach so charismatischen Kommunalpolitiker, dem sich hedonistisch gebärdenden Unternehmer auf den Zahn fühlen. In der Gewissheit, eine das ganz normale Leben wertschätzende Genügsamkeit zu repräsentieren, fühlt sich Christine geborgen und - in der Illusion, hier sitze eine attraktive junge Frau, die nicht so leicht einzuschüchtern sei wie ... wie wir - kampfbereit.

Flucht vor dem Alter Ego

Außerhalb des Studios wartet jedoch eine ganz andere Christine. Eine in krassem Widerspruch zur knallharten Journalistin: weniger schlank als vielmehr schlaksig, gar nicht so clever, sondern besserwisserisch. Ein Quälgeist, beinahe männlich, mit einem Job für Männer, den sie besser erledigt als ein Mann, präzise und effizient, ohne etwas Weibliches an sich.

Sie lungert auf dem Parkplatz herum, weil sie es allein nicht einmal zustande bringt, in ihrem gelben VW Käfer nach Hause zu fahren, wo ihre Familie bereits mit ihr rechnet. Auf der Flucht vor diesem Alter Ego, längst nicht mehr in Hinblick auf den großen Karrieresprung, stürzt sich die TV-Redakteurin in ihr nächstes Projekt.

Die Illusion der Illusion

Etwa ein Jahr zuvor wurde Christine ein Eierstock entfernt und dafür der Rat hinterlassen, falls sie an eine eigene Familie denke, sollte sie sich innerhalb der nächsten zwei Jahre darum kümmern. Bislang hatte jene Christine, aus der keine Journalistin geworden war, an kaum etwas anderes gedacht. Ein Jahr ist bereits um, eines im Zeichen einer rückwärtsgewandten Entwicklung. Dasselbe Jahr hat noch dazu jenen ominösen 30. Geburtstag bis an Christines Studiotür rücken lassen. Die Tür eines provinziellen, schlecht ausgestatteten Studios, aus dem heraus sie sich an provinzielle, leicht zu beeinflussende, mit sämtlichen Vorurteilen ausgestattete Familienmenschen richtet.

Mit 30 und ohne einen Lebensgefährten - nicht einmal einen verflossenen, der womöglich der Karriere hätte weichen müssen, als sie entschieden hätte, sich in den Dienst der Aufklärung zu stellen - sieht sie ihre Glaubwürdigkeit in sämtlichen TV-Augen schwinden. Die Illusion der Illusion. Die Aufklärung befindet sich in den Händen von Metzgern, deren blutrünstige Argumentation sich darauf stützt, dass die Zuseher nichts dagegen haben, gelegentlich Blut statt Milch in ihre Cornflakes zu gießen.

Als der Nachrichtenchef sich kurz vor Christines Selbstmord statt des üblichen Gemeckers mit einem Wutanfall konfrontiert sieht, der ihn in seiner Drastik überrascht, rechnet sie bereits mit ihrem Unvermögen insgesamt ab. So unverhältnismäßig ihre Wut erscheint, so unverhältnismäßig wird ihr letztes Lächeln ausfallen, als sie hört, die von ihr angeforderte Filmeinspielung könne nicht ausgestrahlt werden.

Ungeschönte Lebensnähe

Christines Beiträge werden beschnitten, von ihren 20ern ist gerade noch ein Monat übrig, der Film läuft nicht, das Licht geht aus. Ihr Vorschlag mit der Sendung über Selbstmord hingegen stößt auf Wohlgefallen. Mit ein bisschen gutem Willen, heißt es, ließe sich ein Kompromiss zwischen ihrem sozialen Kram und dem Anspruch des Senders schließen, den Zusehern ungeschönte Lebensnähe, Todessehnsucht und Fleischlichkeit zu liefern. Christine jedoch ist alles andere als ein Mensch der Kompromisse.

Fungiert die frustrierte Last-minute-Zwanzigerin bei dieser Frühstücks-TV-Hinrichtung als das perfekte Kanonenfutter für die allerletzte Reportage einer frustrierten TV-Journalistin? Um die Endzwanzigerin ist es nicht schade, die Reporterin hingegen habe sich einen aufsehenerregenden Abgang verdient. Die Journalistin diktiert auch den Abschiedsbrief, die Familie geht leer aus. Als Hinrichtungsstätte fungiert das Nachrichtenstudio, Henkerin und Verurteilte sind eine Person, die Zuschauer sind die Geschworenen und die Zeugen. Die Berichterstattung erfüllt einen ganz besonderen Publikumswunsch. Für diejenigen, die im Anschluss daran Trost benötigen, hat sie eine Geschichte auf Lager: von einer, die nicht mehr leben wollte, die, wie ihr Medium, für herkömmliches Mitleid unempfänglich sei.

Zum Abschluss habe sie einen Warnschuss in den eigenen Kopf abgegeben. Eine Warnung, wohin so viel Verkorkstheit führen kann. Eine Madame Bovary des Farbfernsehens, die einen Schierlingsbecher mit vergiftetem Caffè Latte kippt, wie den, mit dem jene zwei Geschäftsfreunde (der Privatsparer und sein Anlageberater) anstoßen, die sich in Sylvia Plaths Gedicht Death & Co begegnen. Two, of course there are two. / It seems perfectly natural now --- / The one who never looks up, whose eyes are lidded / And balled? Like Blake's. / Who exhibits ... heißt es dort. (Hanno Millesi, DER STANDARD, 12.7.2014)