"Worüber immer sie schreibt, sie öffnet uns die Augen für historische Vielfalt und kulturelle Vielgestalt, für den Reichtum an Lebensformen und Eigenheiten, die jeder Einzelne in sich birgt und der der Gesellschaft nützen könnte, wenn sie ihn achten würde": Ljudmila Ulitzkaja.

Foto: Annette Pohnert/Carl Hanser Verlag

Ljudmila Ulitzkaja ist eine Meisterin in der schönen Kunst der Verschwendung. Was sparsamen Autoren und Autorinnen, die mit ihren Einfällen und Ideen, Figuren und Geschichten berechnend haushalten, für drei, vier Bücher ausreichte, das genügt ihr gerade für ein einziges. So freigebig und großzügig geht sie zu Werke, dass sie die Leser ein ums andere Mal das Staunen darüber lehrt, wie viel Welt in einem einzigen Buch Platz hat.

Erzählt sie von heutigen Menschen, zeichnet sie nicht nur deren einprägsames Charakterbild, sondern holt auch ein, was von ihren Eltern, von deren persönlichen Hoffnungen und politischen Illusionen in Erfahrung zu bringen ist, sie unterrichtet uns von den Krankheiten und Leidenschaften der Großeltern, von deren Lebensträumen und den Umständen ihres Todes, von Tanten, die zeitlebens Unglück mit ihren Liebhabern hatten, und von all den berühmten und berüchtigten Büchern, die einst der Großonkel begeistert gelesen hat. Im Geflecht der Familien und im Netz der Freundschaften zeigt Ljudmila Ulitzkaja, wie die große Geschichte aus lauter kleinen Geschichten gemacht wird und das Tun und Unterlassen des einen Menschen Folgen für den Lebenslauf vieler anderer zeitigen kann.

Ihre Romane sind epische Kolossalgemälde, wie sie in Russland nicht nur Leo Tolstoi geschaffen hat, von dem sie gleichwohl gelernt haben könnte, wie man von Individuen so erzählt, dass sie gänzlich unverwechselbar sind und in ihnen doch zugleich die Epoche selber kenntlich wird. Worüber immer sie schreibt, sie öffnet uns die Augen für historische Vielfalt und kulturelle Vielgestalt, für den Reichtum an Lebensformen, Eigenheiten und Eigenschaften, den jeder Einzelne in sich birgt und der der Gesellschaft nützen könnte, wenn sie ihn achten und fördern würde und nicht als störenden, gefährlichen Wildwuchs zu beseitigen trachtete.

Freude an weltoffener Vielfalt

1996 hat Ulitzkaja einen monumentalen Familienroman, Medea und ihre Kinder, veröffentlicht, in dem die Freude an der weltoffenen Vielfalt in der alten Medea eine bezwingende Gestalt angenommen hat. Der Roman spielt auf der Krim, einer Region, die von alters her nie von einer Nationalität allein besiedelt wurde. Hören wir, dass irgendwo in einem Staat, einer Region mehrere Ethnien, Sprachgruppen, Religionsgemeinschaften aufeinandertreffen, erwarten wir heute stets die böse Nachricht, dass sie sich - und sei es in blutigen Zerfallskriegen - trennen möchten. Ulitzkaja hingegen hat einen russischen Roman geschrieben, der von Griechen, Armeniern, Juden, Ukrainern, Georgiern, Litauern, Russen und Tataren bevölkert wird, und was sie an der Krim preist, das ist eben diese ethnische und kulturelle Vielfalt, die fast schon eine herrliche Tendenz zur nationalen Unübersichtlichkeit hat.

Die alte Medea ist kinderlos, aber so etwas wie die Stammmutter eines Clans, der unaufhörlich wächst, indem er Menschen, die aus allen möglichen Richtungen kommen, integriert. Medea ist glücklich, dass ihre Nichten und Neffen, die alljährlich zu ihrem Geburtstag aus Amerika oder von sonst wo auf die Krim zurückkehren, die Familie stetig um neue, angeheiratete Nationalitäten bereichern, um lebensfrohe Italiener oder filigrane Koreanerinnen. Glaubhaft lebt Medea vor, dass Menschen verschiedener ethnischer Herkunft und kultureller Tradition einander nicht misstrauisch oder feindselig begegnen müssen, sondern ihr alltägliches Zusammenleben auch als beglückend erfahren können.

Das ist in einer politischen Sonntagspredigt freilich leichter zu behaupten, als dass es sich in einem Roman, der auf Wahrscheinlichkeit gründet und Wahrhaftigkeit zum Ziele hat, im Großen der Handlungsführung zeigen und im Kleinen der stimmigen Details erweisen ließe. Ulitzkaja bringt es jedoch zuwege, dass wir ihre andere Geschichtsschreibung, die sich von der offiziellen und gar der propagandistischen unterscheidet, für die wahre halten, und ihr glauben, woran zu glauben sie nicht bereit ist aufzuhören: dass all die verschiedenen Bewohner der Krim, mit ihren unterschiedlichen Sprachen und Religionen und ihren voneinander stark abweichenden historischen Erfahrungen Angehörige derselben Familie sind, die da Menschheit heißt. Und dass diese Familie, in der so viel Eifersucht herrschen und Zwietracht reifen kann, eines Tages zu sich selber finden wird.

In ihrem Glauben daran, dass die Menschen sich nicht auf ewig ihre Gegenwart streitig machen und einander so um ihre Zukunft bringen werden, ist Ulitzkaja freilich keine Autorin, die die Realität schön schriebe und verschwiege, was im 20. Jhd. Menschen getan haben und Menschen angetan wurde. Fast alle ihrer erzählenden Werke reichen in die Tiefe der stalinistischen Zeiten hinab und bieten scharfsichtige Analysen der Gegenwart. Ihre Kritik an autoritären Herrschern ist unerbittlich wie jene an der Bürokratie von einst, die die Verheißungen des Kommunismus zunichte machte, und der medialen Hochrüstung von heute, mit der nationalistische Großmannssucht unter die Leute gebracht wird. Ulitzkaja ist eine politische Autorin, allerdings nicht aus freien Stücken, hat sie doch einmal gesagt: "Ich kann Politik nicht leiden, aber die Situation zwingt mich, politisch zu sein."

Das galt schon für ihre, fast könnte man sagen: erzwungenen literarischen Anfänge. Denn Ulitzkaja ist erst auf Umwegen, die zu gehen nicht einfach waren, Schriftstellerin geworden. 1943 nahe Jekaterinenburg geboren und in Moskau aufgewachsen, studierte sie Biologie und arbeitete danach als Genetikerin an einem universitären Institut. Als Mitglieder ihrer Forschungsgruppe in Verdacht gerieten, verbotene Literatur zu verbreiten, wurde diese aufgelöst. Ulitzkaja hat ihre Arbeit als Naturwissenschaftlerin in der bleiernen Ära Breshnews beenden müssen und, da sie keine Anstellung als Genetikerin mehr fand, in den siebziger Jahren ein zweites, ein geisteswissenschaftliches Studium begonnen und sich im Übrigen der Familie mit ihren zwei kleinen Söhnen gewidmet. Damals erst begann sie zu schreiben, und erst Anfang der Neunzigerjahre konnte sie, was sie schrieb, auch veröffentlichen. Inzwischen hat sie eine Vielzahl von Romanen und Erzählsammlungen publiziert, die häufig eine weibliche Figur im Zentrum haben; etwa die frühe Novelle Sonetschka, deren gleichnamige Heldin, ein bezaubernd traumverlorenes Wesen, unverdrossen das Glück sucht und es, nach einem schönen wie schmerzlichen Aufenthalt in der Realität, dauerhaft einzig in der Traumwelt der Literatur findet.

Der große Roman Das grüne Zelt spürt den Lebenswegen von drei Gymnasiasten der vierziger und fünfziger Jahre nach, die, reich begabt ein jeder, alle im Leben scheitern, wobei sie es noch im Scheitern auf ihre Weise zu meistern hoffen. Zum Scheitern gehört auch der Verrat, erst an den eigenen Überzeugungen und Idealen, dann an Kollegen, Freunden, der Geliebten, ein Verrat, der den Verräter selbst nicht glücklich macht, sondern ihm ein elend verpfuschtes Leben beschert. Den drei Freunden zur Seite gestellt sind drei Freundinnen, denen es, in der Liebe, im Beruf, im Alltag, der von politischen Verwerfungen verdüstert ist, recht ähnlich ergeht.

Was sie alle beschädigt: dass sie in einem Zeitalter der Angst leben, in dem der Freund den Freund bespitzelt, eine unbedachte Bemerkung fatale Wirkung haben kann und noch die besten Eigenschaften des Menschen missbraucht werden können. Um diese sechs Figuren ist eine gewaltige Zahl an Nebenfiguren postiert, allesamt mit einer Fülle an individuellen Merkmalen und einem besonderen Lebenslauf ausgestattet, an denen Ulitzkaja exemplifiziert, dass Angst und Trotz, Verrat und Widerstand tausendfach ineinanderwirken und am Ende das ausmachen, was man später als eine Epoche des Terrors erkennen wird.

Vor zwei Jahren hat Ulitzkaja ihre Landsleute öffentlich aufgefordert, ihre Erinnerungen an die Zeit von 1945 bis 1953 niederzuschreiben und ihr zu schicken. Tatsächlich erhielt sie reichliche Post von Städtern und Dörflern, Frauen und Männern, Intellektuellen und Angehörigen der werktätigen Klasse, die sich an die Jahre zwischen dem siegreichen Ende des für die Sowjetunion so verlustreichen Krieges und dem Tod Stalins errinnerten. Was bezweckte die Autorin mit diesem Projekt, das sie unter dem Titel Morgen wird das Glück sein veröffentlichte, eine von ihr zur großen Collage geordnete Sammlung heterogener Erinnerungsstücke? Fast alles, was Ulitzkaja an Staat und Gesellschaft Russlands heute zu kritisieren hat, hängt damit zusammen, dass sich in Russland, so ihre Diagnose, noch kaum ein historisches Gedächtnis der Nation ausgebildet hat. Über den Stalinismus ist das große Schweigen verhängt, und das, obwohl es fast keine russische Familie gibt, in der er nicht Lücken geschlagen hätte.

Und doch, oder gerade deswegen, weil er jede Familie bis ins Innerste betroffen und die Gesellschaft mit Verbrechen, Angst, Schuld überzogen hat, ist der Stalinismus nie als Gedächtnisraum von Millionen Familien entdeckt worden; darum ist über ihn auch bis heute kein gesellschaftlicher Konsens erreicht worden, werden vielmehr in Zeiten der Krise oder der nationalen Euphorie immer wieder seine vermeintlich positiven Seiten beschworen. Indem sie die Russen ihrer Generationen aufforderte, sich zu erinnern, an jene Jahre, in denen der der UdSSR aufgezwungene Krieg mit seinen Hekatomben von Toten endlich zu Ende war und der doch gegen die unablässig neu erfundenen Feinde im Inneren weitergeführt wurde, wollte Ulitzkaja dazu beitragen, dass dieses Schweigegebot aufgehoben werde, das Abermillionen über sich selbst verhängt haben.

Wer Ulitzkaja liest, wird vieles lernen. Nicht nur über Russland, das im Westen notorisch verklärt oder verdammt zu werden pflegt, wie gerade jetzt, da die einen Moskau am liebsten wieder zur Weltmetropole des Bösen ausrufen würden, die anderen ausgerechnet Putins Zarenreich als letzte Bastion gegen den neuen, alten Faschismus beschwören, der sich mit Unterstützung der Europäischen Union und im Auftrag der Vereinigten Staaten ein Aufmarschgebiet in der Ukraine geschaffen habe. Politisch verficht Ulitzkaja, die es bedauert, so viel Energie auf die Politik lenken zu müssen, eine klare wie einfache Lehre, die doch so schwer zu beherzigen ist: Gegen den Mangel an Demokratie hilft kein Appell an die patriotischen Instinkte, die nationalistischen Gefühle, sondern einzig - mehr Demokratie. Nicht "gelenkte Demokratie", sondern Demokratie.

Westliche Medien, die sich so zu Komplizen der russischen Propaganda machten, haben es zu vermelden unterlassen, dass im Frühjahr zehntausende Russen gegen die Annexion der Krim demonstrierten; vor ihnen hat Ulitzkaja eine tapfere Rede gehalten, in der sie das kalte Spiel mit dem Nationalismus anprangerte und Demokratie verlangte. Diese ist weder ein Himmelsgeschenk, das einem Land kraft göttlicher Gnade zufällt, noch ein nationaler Besitzstand, der einem Land von niemandem mehr streitig gemacht werden könnte. Wenn Ulitzkaja Demokratie für und in Russland fordert, dann sollten wir es uns in Österreich verbitten, dass an die Spitze der Verstaatlichten Industrie ein Berserker der Privatisierung berufen wird, der von Österreich und der EU freimütig sagt - und ich paraphrasiere ihn hier nicht polemisch, sondern zitiere ihn wörtlich -, dass er sich von ihnen "schon ein bissl mehr russische Demokratur wünschen" würde. Nein, kein Land verdient es, von seiner Obrigkeit mit Demokratur abgespeist zu werden, aber offenbar ist auch keines davor gefeit, dass nicht einflussreiche Männer sich periodisch wünschten, diese einzuführen, um ihre Entscheidungen frei von demokratischen Belästigungen fällen zu können.

Wie ist es, um am Ende zum Anfang zurückzukehren, mit der alten Medea weitergegangen, mit jener Clanmutter, die ihre weit verstreute Familie alljährlich zu ihrem Geburtstag zurück auf die Krim beorderte? Nun, als sie starb, hat sie das mythische Haus der Familie nicht ihren Anverwandten, sondern einem jungen Tataren aus der Nachbarschaft hinterlassen. Die Tataren, eine seit Jahrhunderten auf der Krim ansässige Völkerschaft, waren unter Stalin im Mai 1944 binnen drei Tagen aus ihrer Heimat deportiert und in die asiatische Steppe verfrachtet worden. Fast die Hälfte der 200.000 Deportierten starb noch in den Viehwaggons, in die sie getrieben und über das Land gefahren wurden, oder in den ersten Wochen in der ihnen zugewiesenen Fremde. In den Jahren, die folgten, wurde die Krim auch von den dort ansässigen Griechen und Armeniern ethnisch gesäubert, sodass das historische Gleichgewicht der Nationalitäten kippte. Erst unter Gorbatschow durften die Tataren auf die Krim zurückkehren, auf der sie heute fast schon wieder als Fremde im eigenen Land leben. Das müsste nicht so sein, das wird auch nicht auf ewig so bleiben. Ljudmila Ulitzkajas Romane sind nicht nur bittere Bilanzen von staatlichem Unrecht und persönlichem Versagen, sondern auch ermutigende Aufrufe, ein Leben frei von Angst und nationalem Dünkel zu wagen. Im literarischen Bild nimmt sie diese Selbstbefreiung vorweg, die auch von der Obsession befreit, andere beherrschen und ihrer Rechte berauben zu müssen. (Karl-Markus Gauß, Album, DER STANDARD, 26./27.7.2014)