Wie mensch auf das Gegenüber wirkt, hängt nicht nur von mensch ab, sondern auch vom Gegenüber, auf das gewirkt wird. Ein Problem, das manche Leute dabei haben, ist, dass sie bezüglich ihrer Geschlechtsidentität von anderen nicht so wahrgenommen werden, wie sie sich selbst empfinden. Umso größer das Erfolgserlebnis, wenn mensch doch passt, also durchgeht als das Geschlecht, das dem Identitätsgeschlecht entspricht. Für die meisten Cis*Personen eine Selbstverständlichkeit, für manche Trans*Leute immer wieder ein Grund zum Jubeln: Passing ist jedenfalls ein Privileg, das nicht allen zuteil wird.

Es ist bereits nach elf Uhr am Samstagabend, und als notorischer Zuspätkommer habe ich wie immer zu wenig Zeit, mich noch fertigzumachen, ohne die anderen allzu lang warten zu lassen. Also schnell Schranktür auf, um nach etwas "Passendem“ zu suchen. Dieser augenscheinlich nur auf Eitelkeit beruhenden Entscheidungssituation liegt jedoch eine etwas andere Not zugrunde: Genauer gesagt suche ich nach Kleidung und Accessoires, durch die ich, Trans*Typ noch vor seiner Hormontherapie, trotzdem passe – denn allein die Vorstellung, schon wieder von irgendwem als Mädchen statt als Junge gelesen zu werden, verdirbt mir jetzt schon die Feierlaune.

Foto: Mike


Lesen und gelesen werden

Passing (von engl. "durchgehen“, wird auch englisch ausgesprochen) bezeichnet im Trans*Jargon das erfolgreiche Auftreten beziehungsweise Wahrgenommenwerden als Zugehörige*r jenen Geschlechts, auf welches die Transition abzielt. Die Beschäftigung mit dem eigenen Auftreten kreist dabei oftmals um Fragen wie: Wie kleide ich mich, wie bewege ich mich, wie spreche ich, um richtig gelesen zu werden? Dabei gilt es, grob gesagt, sich jene körperlichen Eigenschaften anzueignen, die dem Identitätsgeschlecht entsprechend konnotiert sind, und sich von jenen Attributen zu trennen, die es nicht sind.

Dieses Prozedere kann mitunter ganz schön aufwendig sein: Viele Trans*Frauen etwa trainieren lange ihre Stimmen, um diese höher und somit "weiblicher“ klingen zu lassen. Viele Trans*Männer binden teils unter Schmerzen ihre Brust ab, um sie flacher und dadurch "männlicher“ aussehen zu lassen. Die verständnislosen Reaktionen einiger (Cis*)Personen, die sich mit solchen Fragen in der Regel nicht auseinandersetzen müssen: “Wieso tust du dir das alles bloß an?“, oder sogar: "Es muss dir doch einfach egal sein, wie die Leute dich wahrnehmen!“

Wozu das Ganze?

Die Strategien hinter Passing verdeutlichen sehr stark die Drag-Dimension von Geschlecht im Allgemeinen, die uns demnach alle betrifft. Auch Cis*Frauen können etwa durch ihr Outfit und ihre Gangart beeinflussen, ob sie sehr feminin oder etwas burschikoser wirken wollen. Cis*Männer können ebenfalls durch ihre Kleidung und Haltung einen auf Macho machen oder eher soft rüberkommen. Nicht selten werden so Rückschlüsse auf das Geschlecht, zu dem wir uns hingezogen fühlen, geschlossen, was natürlich gezielt eingesetzt werden kann. Eine falsche Einordnung kann hingegen frustrierend sein – besonders, wenn sie dauerhaft passiert.

Nicht zu passen kann heteromensch sich also vorstellen, wie ständig und tagtäglich von allen und jedem als schwul oder lesbisch gesehen, so genannt und demnach auch so behandelt zu werden, ohne es zu sein – nur ein bisschen weitreichender. Denn abgesehen vom hohen identitätskonstituierenden Stellenwert, der "unserem“ Geschlecht seit unserer Geburt zugeschrieben wird, bestimmt unsere Sexualität nicht, mit welcher Anrede (Herr/Frau) und welchen Pronomen (sie/er) wir ständig angesprochen und vor anderen bezeichnet werden – unser Geschlecht, dank seines genannten Stellenwerts, hingegen schon.

Als Mann ständig als Frau gelesen und benannt zu werden oder umgekehrt, passiert allerdings den wenigsten Cis*Personen – als Mensch mit quasi hundertprozentigem Passing ist es somit leicht zu sagen: "Das muss dir doch wohl egal sein, wie andere dich sehen oder nennen – steh doch drüber“, womit jegliche geschlechtliche Fremdbezeichnungen legitimiert werden.

Allerdings, dass es keine Rolle spielen sollte, wie Menschen einander wahrnehmen, klingt an sich tatsächlich nach einem vernünftigen Ansatz – mensch müsste solchen Sprüchen somit fairerweise entgegnen: "Das muss dir doch egal sein, wie du mich siehst – steh doch drüber über deine Art, mich zu sehen und einzuordnen, und hör endlich auf, mich demnach mit falschen Worten zu bezeichnen, dazu hast du wohl kein Recht, egal, wie du mich siehst!“ Denn nur selten werden auf der Seite des lesenden Gegenübers Versuche in die Richtung unternommen, die eigene, seit frühester Kindheit gelernte Lesart von "männlich“ und "weiblich“ so zu hinterfragen, dass auch Frauen und Männer mit weniger gutem Passing als solche bezeichnet, anerkannt und wahrgenommen werden.

Solange sich die Wahrnehmung nicht ändert, ändern sich eben die Wahrgenommenen. So stehe ich also am Samstagabend noch viel zu lange vorm Spiegel, bis ich zumindest mich selbst von meinem männlichen Aussehen überzeuge, bevor ich mich unter andere "Lesende“ wage. Denn der Aufwand und die Schmerzen, die das Abbinden der Brust, die Laser-Entfernung von Barthaaren oder jegliche "geschlechtsangleichende" operative Eingriffe verursachen, sind allemal erträglicher, als die ständige Falschbezeichnung, die unrechtmäßige Fremdbestimmung, die Einschreibung falscher Worte in unsere Körper.(Mike, dieStandard.at, 28.7.2014)