Eine Smartwatch zusätzlich zum Smartphone: sinnlose Spielerei oder hilfreiches Tool?

Foto: LG / Google

Wenn erste Geräte einer neuen Produktkategorie veröffentlicht werden, stellt sich zunächst eine Frage: Bieten diese einen echten Mehrwert? Immerhin bringt eine technische Weiterentwicklung – und sei sie auch noch so beeindruckend – wenig, wenn sie im Alltag keinen realen Nutzen zeitigt.

Wozu?

Solche Fragen müssen sich natürlich auch die Hersteller von Smartwatches gefallen lassen, die derzeit so etwas wie eine erste Boomphase erleben – zumindest was das Interesse der großen Soft- und Hardwareunternehmen betrifft. Ein diesbezüglicher Meilenstein wurde vor wenigen Wochen absolviert. Da hat Google die erste Version seines Wearables-Betriebssystems Android Wear veröffentlicht – von Samsung und LG gibt es bereits die passende Hardware.

Skepsis

Seitdem hat auch der Autor dieser Zeilen eine LG G Watch im täglichen Einsatz, und dies als zuvor bekennender Skeptiker, was die reale Nützlichkeit von Smartwatches im Alltag anbelangt. Einen Monat später sind diese Zweifel zwar nicht zur Gänze verschwunden – sie haben sich aber doch deutlich abgemildert. Denn wie sich zeigt, erweist sich das Konzept Smartwatch in der Google'schen Auslegung als überraschend hilfreich. Nicht zuletzt deswegen, da Android Wear gar nicht versucht, eine eigenständige "Computeruhr" zu sein, sondern viel mehr als Erweiterung für das Smartphone konzipiert ist.

Benachrichtigungen

Die Kernstärke ist dabei fraglos die Übernahme der Benachrichtigungen vom Smartphone. Ein flinker Blick auf die Smartwatch reicht, um einschätzen zu können, ob die aktuelle Benachrichtigung wirklich wichtig ist oder – wie in vielen Fällen – vorerst ignoriert werden kann. Dies ist gerade unterwegs sehr nützlich: muss so doch nicht dauernd das Smartphone hervorgeholt werden. Zudem lassen sich unwichtige Nachrichten mit einer simplen Wischgeste umgehend entfernen, womit sie auch am Smartphone nicht mehr dargestellt werden. Auf diese Weise wird also gleich eine Art Vorauswahl für später getroffen, am Smartphone bleibt nur das wirklich Wichtige übrig.

Interessanter Effekt

In der Alltagsnutzung stellte sich dadurch ein interessanter Effekt im Nutzungsverhalten des Autors ein. Die Frequenz, mit der das Smartphone aus der Tasche geholt wurde, reduzierte sich signifikant – und damit auch die Gefahr, sich im Smartphone zu "verlieren". Immerhin passiert es leicht einmal, dass nach dem eigentlichen Überprüfen einer Benachrichtigung plötzlich der Drang nach "mehr" die Überhand gewinnt und die Periode der Smartphone-Nutzung deutlich länger wird als eigentlich geplant.

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Weitere – subjektive – Highlights des Smartwatch-Alltags: der Einsatz als simple Fernsteuerung für Musik und Videos, das Mitverfolgen von Hangout-Diskussionen samt Bildanzeige und Ortsmarkern sowie die Einbindung eingehender Anrufe. Letzteres mag zunächst absurd klingen, weil zum Telefonieren ohnehin das Smartphone bemüht werden muss. Aber erstens stimmt das bei der Nutzung eines Headsets nicht, und zweitens ist es manchmal auch einfach nur nützlich, zu wissen, wer gerade anruft. Immerhin kann ein gerade nicht so dringliches Gespräch auch direkt von Smartwatch aus abgelehnt werden.

One Notification to rule them all

Das größte Problem mit der Übernahme von Benachrichtigungen auf der Smartwatch ist eher genereller Natur – und wird vielen auch ganz ohne Wearables bekannt vorkommen. Kommt hier doch jetzt noch ein weiteres Gerät hinzu, das vibriert, wenn eine Mail eingetroffen ist. Hier ist Google gefordert, eine smarte Lösung zu finden, bei der zuverlässig wirklich nur ein Gerät Ton oder Vibration von sich gibt. Und hier würde sich eine Smartwatch eigentlich als die logische Wahl anbieten, immerhin wird sie beinahe durchgehend direkt am Körper getragen, insofern werden Vibrationen sehr zuverlässig wahrgenommen.

Realität

Bisher ist es allerdings bei Android Wear so, dass sowohl Smartphone als auch Smartwatch das Eingehen einer neuen Nachricht signalisieren, meist in einem kurzen zeitlichen Abstand. Wer will, kann zwar schon jetzt über eine Einstellung in der Companion App der Smartwatch diese Aufgabe alleine zuteilen, dies führt allerdings dazu, dass am Smartphone wirklich durchgängig sämtliche Benachrichtigungen deaktiviert werden. Und zwar auch, wenn die Smartwatch gar nicht in der Nähe ist. Spätestens wenn deswegen der erste Anruf verpasst wird, werden wohl die meisten dieses Option wieder deaktivieren.

Infoflut als Problem?

Ganz allgemein gilt: Was schon im Smartphone- und Desktop-Alltag wichtig ist, wird bei einer Smartwatch essenziell – es sollte wohlüberlegt sein, für welche Events man Benachrichtigungen aktiviert. Immerhin nervt es in Windeseile, wenn das Handgelenk alle paar Sekunden vibriert – mal abgesehen davon, dass der reale Nutzen dann gegen null tendiert. Das kann derzeit vor allem für jene zum Problem werden, die sehr viele Mails in die eigene GMail-Inbox erhalten. Gute Filter helfen hier, trotzdem gilt es abzuwarten, ob dieser Infoüberfluss mit der steigenden Anzahl von Apps nicht zu einem grundlegenden Problem für Wearables werden könnte.

Auch kein Ausweg

Zwar gibt es bei Android Wear einen “Silent Mode”, mit dem das Vibrieren und Einschalten des Bildschirms bei einer neuen Benachrichtigung deaktiviert werden kann. Dessen dauerhafte Nutzung ist freilich keine sinnvolle Lösung – geht damit doch ein entscheidender Teil der Nützlichkeit solch einer Smartwatch verloren.

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Von Google viel beworben sind die Möglichkeiten der Spracheingabe. Immerhin können darüber nicht nur Suchanfragen gestellt werden – wer will, kann auch Mails und SMS diktieren, Reminder setzen oder mit Dritt-Apps interagieren. Der Autor selbst muss aber eingestehen, dass er all dies praktisch nie nutzt, und sieht sich damit als Teil der schweigenden Mehrheit.

Im Test funktioniert die Spracheingabe zwar mittlerweile – zumindest auf Englisch – wirklich hervorragend, trotzdem ist es nicht sonderlich angenehm, in der Öffentlichkeit Sprachanfragen an ein elektronisches Gerät zu stellen. Diese soziale Hürde wird noch erhöht, indem Google von den Nutzern verlangt, mit der Phrase "Ok, Google" allen Ernstes einen Markennamen zur Initiierung der Kommunikation zu verwenden.

Google Now

Eine weitere Stärke von Android Wear ist hingegen die Einbettung der Informationen von Google Now. Wie schon am Smartphone gilt dabei, dass die reale Nützlichkeit dieses Services stark vom eigenen Alltag abhängt.

Wer beispielsweise viel unterwegs ist, wird Google Now schnell zu schätzen wissen, etwa wenn automatisch Hotel-Check-in-Informationen oder auch das Wetter für den Zielort einer Reise angezeigt werden. Besonders nett: Bei einigen Fluglinien wird der QR-Code eines mobilen Boarding Pass automatisch übernommen, sodass dann die Uhr zum Einsteigen benutzt werden kann.

Implementationsdefizite

Leider hat Google bei der aktuellen Version von Android Wear gerade in Hinblick auf "Now" etwas gepatzt. Allzu leicht kann es passieren, dass diese Infoschnipsel mit einem unbedachten Swipe gelöscht werden. Umgekehrt ist es aber reichlich mühsam, eine einmal entfernte Karte wieder zurückzubekommen. Wer etwa die Google-Now-Wettervorschau weggewischt hat, muss schon eine Sprachsuche nach dem lokalen Wetter initiieren, um die betreffende Karte – mit einigen Minuten Verzögerung – wiederzuerhalten. Hier wird sich Google für weitere Versionen etwas einfallen lassen müssen, um den Nutzern solcherlei Frustrationen zu ersparen.

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Auch sonst ist Android Wear an einigen Stellen der frühe Entwicklungsstand noch deutlich anzumerken. So erscheint es geradezu absurd, dass es bisher keine offiziellen Schnittstellen für die Entwicklung alternativen Uhrendesigns gibt. Zwar gibt es solche Alternativen trotzdem, Google rät von deren Entwicklung aber noch ab. Die fertigen APIs sollen erst mit dem Update auf Android L folgen.

Inkonsistent

Auch die Integration zusätzlicher Apps wirkt noch etwas undurchdacht. Der Launcher ist irgendwo in den Untiefen des Systems versteckt – auch wenn Drittsoftware hier Abhilfe bieten kann. Und das Zusammenspiel zwischen Smartwatch und Smartphone erweist sich ebenfalls als noch nicht wirklich konsistent. So werden beispielsweise auf der Uhr festgelegte Alarme ausschließlich auf dieser gespeichert, während Reminder auch vom Smartphone übernommen werden.

Stärken

Das Kernkonzept des User-Interfaces von Android Wear kann hingegen auch nach einigen Wochen Nutzung noch rundum überzeugen. Wo so manch anderer Hersteller noch immer versucht, ein Smartphone im Miniformat nachzubilden, setzt Google auf ein ebenso einfaches wie eingängiges Konzept. Vollständig auf Wischgesten basierend, gibt es hier keine kleinteiligen Elemente, die die Nutzung einer Smartwatch üblicherweise zum Geduldsspiel machen.

Plattform

Ein entscheidender Faktor für den Erfolg einer jeden neuen Plattform ist die Unterstützung durch Drittentwickler. Und hier hat Google durch das riesige Android-Ökosystem natürlich einen echten Startvorteil. So wurden denn in den letzten Wochen tatsächlich bereits zahlreiche Apps für Android Wear veröffentlicht, auch wenn deren Qualität natürlich noch stark variiert. Und doch sind bereits einige echte Perlen mit dabei, doch dazu mehr in einem Folgeartikel.

Hardwaredefizite

Während in Fragen Software mittlerweile die Grundlage für einen Erfolg von Wearables gelegt zu sein scheint, spielt natürlich noch eine andere Komponente eine entscheidende Rolle: die Hardware. Und bei dieser sieht der Status quo noch nicht ganz so gut aus.

Ein zentrales Problem ist die Akkulaufzeit, so werden etwa für die G Watch 36 Stunden angegeben, was sich im Alltag auch als recht realistische Schätzung herausstellt. Dies bedeutet in Konsequenz, dass es ein weiteres Gerät gibt, das jede Nacht aufgeladen werden muss. Dazu kommt, dass die Bildschirme der aktuellen Gerätegeneration noch nicht jene Qualität haben, die man sich für eine Uhr erhoffen würde. Bei direkter Sonneneinstrahlung lassen sich beide derzeit verfügbaren Geräte kaum lesen.

Foto: Andreas Proschofsky / derStandard.at

Vor allem aber müssen die Hersteller noch ordentlich am Design ihrer Smartwatches feilen. Ein Gerät, das dauernd am Körper getragen wird, muss noch einmal deutlich höheren ästhetischen Ansprüchen genügen als etwa ein – meist eingestecktes – Smartphone. Das Tragen einer Uhr ist für viele nicht zuletzt ein Modestatement, dieses Aspekts müssen sich die Smartwatchhersteller bewusst werden, wollen sie erfolgreich sein.

Bei den Geräten von LG und Samsung ist von einer solchen Einsicht jedenfalls noch nicht viel zu bemerken. Hoffnung macht hingegen die Moto 360, bei der sich der Hersteller ganz augenscheinlich wesentlich mehr Gedanken über Haptik und Ästhetik gemacht hat als seine Mitbewerber.

Einschätzung

Doch selbst wenn einmal Soft- und Hardware – gemeinsam – das nötige Niveau erreicht haben, heißt das natürlich noch nicht, dass Smartwatches auch von der breiten Masse angenommen werden. Derzeit ist die Zielgruppe jedenfalls noch fix in den Reihen der "Early Adopters" verhaftet. Nichtsdestotrotz: Mit Android Wear hat Google eine gute Basis geschaffen. Jetzt gilt es abzuwarten, was Hardwarehersteller – aber auch Mitbewerber – aus diesen Anfängen machen. (Andreas Proschofsky, derStandard.at, 17.8.2014)