Eine der ersten Reaktionen, die ich von mehreren Seiten zu hören bekam, als ich mich als trans* geoutet hatte, warf mir eine gewisse Inkohärenz vor und lautete in etwa: "Aber du bist doch davon überzeugt, dass Geschlecht eh nur ein Konstrukt ist und es das alles gar nicht wirklich gibt. Und jetzt beugst du dich dem Ganzen dennoch, indem du es aktiv ändern möchtest!"

Ein Konstrukt, das nicht existiert

Es stimmt, dass ich davon überzeugt bin, dass Gender etwas "Gemachtes" und somit Veränderbares statt eine Naturgegebenheit und demnach unveränderlich ist. Dass es das alles daher aber gar nicht gibt, ist ein Schluss, der fälschlicherweise aus der Aussage "Geschlecht ist konstruiert und nicht naturgegeben" gezogen wird. Denn aus der Tatsache, dass etwas, durch wen oder was auch immer, erst produziert wird und demnach nicht a priori existiert, folgt doch keineswegs, dass das Produkt nicht existiert, wenn es eben ständig produziert wird.

Niemand würde etwa behaupten, Geld existiere nicht, obwohl es erst durch uns als Menschen, also nicht von Natur aus vorhanden ist. Und ich bin davon überzeugt, dass wir noch lange nicht in einer Gesellschaft leben, in der die "Produktion von Geschlecht" eingestellt ist, auch bekannt als Utopie namens Postgender-Gesellschaft. Ergo glaube ich keineswegs, dass es Geschlecht, obwohl konstruiert, in unserer Gesellschaft, wie sie jetzt ist, nicht gibt.

Ein Konstrukt ohne Gewicht

"Okay, aber", begann dann meist die Antwort darauf, "du findest es ja seltsam, dass Gender, obwohl es nur ein Konstrukt ist, einen so hohen Stellenwert hat, nicht wahr? Das steht ja wohl im Widerspruch zu der Tatsache, dass du dein Geschlecht ändern möchtest, denn das beweist ja, wie wichtig gerade dir dein Geschlecht ist! Wie kann dir ein bloßes Konstrukt so wichtig sein?"

Die Behauptung lautet also, dass mir als Trans*Person Geschlecht wichtiger sei als einer Cis*Person, die sich in ihrem ja wohlfühlt. Es wird mir quasi nahegelegt, Geschlecht ebenfalls einen weniger hohen Stellenwert zu geben – gerade mir, weil ich kritisiere, dass es ihn überhaupt hat. Es wirkt dabei so, als ginge die diesem Konstrukt beigemessene Wichtigkeit dabei nur von mir als Trans*Person aus, und für die Allgemeinheit hätte Gender eigentlich eh kein Gewicht. Dabei hat das "schwerelose" Konstrukt Gender von Beginn unserer Existenz an immense Auswirkungen auf unsere Identität, indem es diese permanent aufs Neue konstituiert:

"Ist es ein Mädchen oder ein Bub?", lautet demnach eine der ersten Fragen an unsere werdenden Eltern, lange bevor wir überhaupt so etwas wie ein Ich-Bewusstsein entwickelt haben. Kurz darauf wird die Geburtsurkunde – der erste amtliche Beleg für unsere Existenz – mit den wichtigsten Infos zu dieser versehen: unserem Namen (meist dem Geschlecht angepasst) sowie dem Geschlecht an sich (nur um sicherzugehen, falls der Name nicht eindeutig genug ist, sozusagen).

Wir lernen sobald das Sprechen und somit das Handhaben von Pronomen für unsere Mitmenschen (ein praktisches sprachliches Werkzeug), und dabei ebenfalls nach Geschlecht zu unterscheiden (eigentlich sprachlich weniger praktisch, diese zwei verschiedenen Formen). Damit längst nicht genug, wir lernen natürlich auch, ob wir bei fast jedem Formular zu unserer Person "weiblich" oder "männlich" anzukreuzen haben und uns mit "Herr X" oder "Frau Y" vorstellen – und auch, ob wir uns demnach in Jungs oder Mädchen verlieben sollen: Denn wenn Geschlecht schon alles durchzieht, dann erst recht unsere Sexualität.

Foto: Mike

Konstruierte Wirklichkeit ist dennoch Wirklichkeit

Gender ist ein Konstrukt, ja, genauso wie seine postulierte Unveränderlichkeit. Aber als solches hat es angeblich für die Allgemeinheit kein Gewicht? Naheliegender ist doch wohl, dass einem die Dimension, mit der diese Kategorie alles umfasst, nicht bewusst ist, wenn dabei nicht ständig ein Unbehagen verspürt wird. Oder, wieder in der Analogie mit dem Geld ausgedrückt: Wir würden doch nicht ernsthaft behaupten, dass Geld nicht wichtig wäre in unserer Gesellschaft, nur weil es ein Konstrukt ist und es Leute gibt, die keine Geldsorgen haben. Zu sagen, Trans*Personen seien die einzigen, denen Geschlecht so wichtig ist, ist wie zu behaupten, dass diejenigen mit Geldproblemen die einzigen seien, die überhaupt etwas auf Geld geben.

Außerdem kann mensch doch nicht erwarten, dass die seit der Geburt (oder bereits davor) konstruierte, aber dennoch vorhandene Geschlechterrolle von jedem Individuum dieser Gesellschaft als "dessen eigene Identität" akzeptiert wird. Besonders wenn Gender diesen besagten hohen Stellenwert hat, entsteht eben ein Unbehagen und ein meist großer Leidensdruck, wenn einem das "falsche" Geschlecht zugewiesen wurde. Die Tatsache, dass Menschen ihr Geschlecht "verändern" wollen, ist demnach eine logische Folge davon, dass Gender nach wie vor so wichtig ist – nicht umgekehrt. Und die Existenz von Trans*Identität ist darüber hinaus wohl der beste Beleg dafür, dass Geschlecht keineswegs unveränderlich ist, was eben eine wichtige Grundvorstellung über diese Kategorie ebenfalls als Konstrukt entlarvt.

Aber wir können auch dabei bleiben, dass Geschlecht eh nicht so wichtig ist. Demnach dürfte es aber auch nicht so wichtig sein, wenn ich es verändern möchte. Denn die Tatsache, dass es nach wie vor viel Widerstand gibt, wenn eine Person einen solchen Weg beschreitet, spricht ja nicht gerade dafür, dass die Allgemeinheit das Konstrukt Gender wirklich überwunden hat, wie so gern behauptet wird. Postgender können wir halt doch noch nicht leben – aber zumindest schon mal davon träumen. (Mike, dieStandard.at, 4.8.2014)