Es wäre ein ganz normaler Donnerstag in Ulan-Ude, in der sibirischen Republik Burjatien in Russland, wäre da nicht der Besuch von Wladimir Putin. Rasch wurde die Stadt auf Vordermann gebracht und vom Müll befreit, früh am Morgen ließ die Stadtverwaltung Straßen im Zentrum sperren, Polizisten nahmen Aufstellung. Doch der Stadtrand blieb davon unberührt, dort herrscht Alltag.

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"Tengeri" ist auf einem Haus in Ulan-Ude zu lesen - das bedeudet "Himmel".


Eine Handvoll Menschen betritt ein kleines einstöckiges Haus: "Tengeri" ist auf dessen Dach zu lesen - "Himmel". Nach kurz Zeit ist ein ritueller Gesang zu hören: Der erste Schamane ist eingetroffen. Radna Daschizyrenowa und ihre Schwester Ajdarchan kommen dazu. Auch sie sind Schamaninnen - Radna, was auf Tibetisch "Schatz" bedeutet, seit etwa fünf Jahren, Ajdarchan seit einem Jahr.

Seit der Steinzeit

Archäologen und Ethnologen gehen davon aus, dass in diesem Teil Sibiriens und vor allem um den Baikalsee schon seit der Steinzeit Schamanismus praktiziert wird. Ab dem 17. Jahrhundert wurde in Burjatien zudem der Buddhismus durch mongolische und tibetische Lamas verbreitet, später wurde diese Religion auch offiziell anerkannt. Darunter hat der Schamanismus zunächst nur gelitten, in der UdSSR wurden Schamanen aber verfolgt. Es gab hier jedoch immer Menschen, die das Wissen und die Traditionen um die spirituellen Praktiken heimlich bewahren konnten.

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Der Baikalsee mit seiner Insel Olchon gilt den Schamanen als heilig, weil sich dort 13 Himmelsgötter aufhalten sollen.
Foto: Corbis / Bruno Morandi


Die beiden Schwestern tragen je zwei Toli, einer silbern, einer golden. Es sind runde Schamanenspiegel, die böse Geister abwehren sollen. "Früher hatte ich Angstzustände, wollte nicht mehr außer Haus gehen, brach alle Kontakte ab. Ich hatte eine Vision: Mein ältester kranker Bruder würde sterben. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich das vorhersehen kann", erzählt Radna. Ihr wurde gesagt, sie müsse eine Schamaneninitiation erhalten. Die 36-Jährige wusste zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, was Schamanismus ist, und bekam noch größere Angst. "Ich wehrte mich!"

Nach der dreitägigen Initiation ging es ihr besser. "Man kann nicht Schamane werden, man wird als Schamane geboren", sagt sie. "Also fing ich an zu praktizieren. Ich brauche zehn bis 18 Minuten, um in Trance zu fallen. Wenn man wieder da ist, fühlt man sich anfangs geschwächt, aber schon bald ist man von Energie erfüllt. Die Geister geben uns Kräfte", sagt sie.

Der singende Mensch

Die Burjaten sagen zu den Schamanen "Boo" - das bedeutet der singende Mensch. Alle Schamanen singen, um ihre Anliegen an die Götter heranzutragen. Während des sogenannten Kamlanie, des spirituellen Rituals, stellt ein Schamane oder eine Schamanin Kontakt zu den Göttern, Ahnen und Geistern her. Dabei fallen sie in rituelle Ekstase, um die Götter um Unterstützung bei ihren Vorhaben zu bitten. Sie verwenden dafür ein spezielles Kostüm, dessen Ornamente und Farben allesamt unterschiedliche Bedeutungen haben, sowie Glöckchen, eine Schamanentrommel, verzierte Schlägel, Rasseln und natürlich den Gesang.

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Ab dem 17. Jahrhundert wurde in Burjatien der Buddhismus durch mongolische und tibetische Lamas verbreitet, später wurde diese Religion auch offiziell anerkannt.


Radna klagt über die aktuelle Situation der Schamanen in der Baikal-Region: "Der heutige Buddhismus ist uns gegenüber negativ eingestellt. Dabei beten wir doch unsere Wurzeln an und keine Statue. Vor meiner Initiation hatte ich viele Freunde unter den Lamas, danach brachen sie allerdings den Kontakt zu mir ab."

2003 wurde in Ulan-Ude die schamanistische Organisation Tengeri gegründet. Einer der Gründungsväter war "der Lehrer" - Hochschamane Bair Zyrendorschijew. "Er möchte hier ein Zentrum für alle Schamanen Russlands schaffen und den weltweit ersten Schamanen-Tempel bauen. Die Regierung unterstützt uns finanziell ein wenig. Tengeri ist die sich am schnellsten entwickelnde schamanistische Organisation. Wir haben mehrere Filialen, etwa in Berlin", sagt Radna.

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2003 wurde die schamanistische Organisation Tengeri gegründet. Heute ist sie die am schnellsten wachsende schamanische Gemeinschaft in Russland.


Auf ihrem Gelände in Ulan-Ude stehen eine Jurte, ein paar fertige Häuser und noch mehr Rohbauten. Das Dach des Hauptgebäudes zieren, neben dem Organisationsnamen, ein aufwändig gestalteter Dreizack und zwei in der Sonnenform angefertigte Spiegel. Davor steht eine Art Holzverschlag mit blauen Tuchstreifen, Geweihen und Tierschädeln. Die Geister sollen durch den Holzverschlag durchgehen können. Er wird von neun speerartigen Holzsäulen, an die die Geister ihre Pferde binden, umstanden.

In einem der Häuser wird bald eine weitere Kamlanie-Zeremonie stattfinden. Einem Burjaten soll dabei "das Schlechte abgerissen werden" , erklärt Radna: "Wenn sich jemand schlecht benimmt, sich betrinkt oder schimpft in einem Gebiet, in dem lokale Geister - die Sabdagen - herrschen, wird er von diesem Wesen ergriffen. Sie dringen in ihn ein, verdrängen seine Seele und er wird krank."

Buddhistischer Schal, christlicher Rosenkranz

Die heutige Séance sei gefährlich, warnt Radna. Der Kranke, um die 45 Jahre alt, wirkt bedrückt und verloren. Der Schamane Munko Baldanow hat bereits eine Sammlung von Dingen vorbereitet zur Verehrung und Bewirtung der Geister: Auf dem Tisch liegen ein Brokat-Ballen, ein Hemd, eine blaue Khata - der buddhistische Begrüßungsschal - und ein christlicher Rosenkranz. Dazu eine Flasche Wodka, eine Packung Tee, eine Pfeife, eine Schachtel Zigaretten. Auf einem Teller liegen Kräuter, die angezündet werden. Die Geisterbeschwörung kann beginnen.

Der Schamane fängt zu trommeln an, ruft 13 Götter und die Ahnen an. Er sitzt mit dem Rücken zu dem Mann und singt burjatische Beschwörungen vom Blatt ab. Wenn die Geister angekommen sind und gespeist haben, verfällt er in Trance. Er trommelt schneller und schneller, singt immer lauter - bald wird es unerträglich laut. Das Häuschen scheint zu bersten, der Schamane rülpst.

Geister-Transportmittel

Munko Baldanow trägt dem Geist seine Bitte vor, wieder singend: "Dem Mann geht es sehr schlecht, verlasse ihn! Lass diesen Menschen in Ruhe, nimm die Geschenke und geh! Er hat seine Schuld eingesehen, er hat verstanden, dass man die Herrscher der Gegend nicht stören darf. Wir haben dir Geschenke vorbereitet, nimm sie!"

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"Arschan" gilt den Schamanen als heilkräftiges Wasser. Dazu werden in einem verkohlten Eimer Kräuter gekocht.


Dem Geist wird auch ein Transportmittel angeboten. Eine Art "Steppenroller" - eine große Wattekugel, die mit goldenem und silbernem Lametta umwickelt ist. Unterdessen heizt Radna den Ofen an und beginnt Arschan, heilkräftiges Wasser, vorzubereiten. Dazu werden in einem verkohlten Eimer Kräuter gekocht.

Munko atmet schwer, faucht, brüllt wie ein Tier. Seine Glöckchen klingen. Irgendwann setzt er seine Kopfbedeckung ab und berührt den Rosenkranz. Damit will er prüfen, ob alles gutgegangen ist. Dann geht er nach draußen. Sein Gesicht ist rot, er atmet schwer und raucht eine Zigarette. Dem kranken Mann werden einstweilen Gesicht und Hände mit Ruß beschmiert, um ihn für den Geist unattraktiv zu machen. Radna setzt Munko eine andere Kopfbedeckung auf, das Ritual wird fortgesetzt.

Schöpflöffel voller Heilwasser

Plötzlich wirft sich Munko auf den Boden. Radna betet, Munko singt: "Wofür brauchst du diesen Menschen? Hier sind Speisen und ein schönes Transportmittel, geh!" Danach wird die Wattekugel verbrannt. Der Patient muss einige Minuten lang mit einem Schöpflöffel im Heilwasser rühren und den Oberkörper freimachen. Der Schamane taucht seine zwei Spiegel in das Wasser, befiehlt dem Patienten, sich zu bücken und tief zu atmen.

Mit einem in Heilwasser getränkten Saunabesen schlägt der Schamane unerwartet und mit voller Kraft auf den Rücken des Mannes. Der schreit. Daraufhin wird er ins Gesicht und auf die Brust geschlagen. Dennoch soll der Patient konzentriert auf die Kerze auf dem Tisch schauen. Dabei wird die Seele des Mannes von Munko in den gesäuberten Körper zurückgerufen.

Den Baikalsee spritzen

Erst nach einigen Stunden verlässt der Mann, begleitet von einem anderen Schamanen, das Haus. Unter dessen Aufsicht wirft der Patient die Gaben - Lebensmittel und Getränke - in alle Richtungen. "Spritzen" nennt man das, es ist die Danksagung an die hiesigen Geister und den Baikalsee. Der See und seine Insel Olchon gelten als besonders heilig, weil sich dort 13 Himmelsgötter befinden.

Nach dem Ende des Rituals tauchen Raben auf und stürzen sich auf das Essen. Die Szene wirkt banal und mystisch zugleich. Der Geheilte bekommt letzte Anweisungen, bezahlt und geht dankbar fort. Wladimir Putin ist angeblich noch in der Stadt, das Zentrum weiterhin gesperrt, der beseelte Mann muss über Umwege nach Hause fahren. (Alexandre Sladkevich, Rondo, DER STANDARD, 14.08.2014)