Wo Peter McDonald (li.) Selbstverantwortung fordert, ortet Jan Pazourek (re.) verfehlte Prävention, weil die Gesellschaft als Krankmacher ignoriert wird.

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STANDARD: Herr McDonald, Sie versichern Unternehmer, Freiberufler und Neue Selbstständige. Das sind acht Prozent der Österreicherinnen und Österreicher. Ihre Versicherten müssen weniger Selbstbehalt zahlen, wenn sie bestimmte Gesundheitsziele erreichen. Was ist die Idee hinter diesem Modell?

McDonald: Wir haben das Programm vor zweieinhalb Jahren mit der Ärztekammer entwickelt. Der Hintergrund ist, dass Österreicherinnen und Österreicher mehr als 21 gesunde Lebensjahre durch Krankheiten verlieren, das sind um 1,5 Jahre mehr als der OECD-Schnitt. Da sehen wir Handlungsbedarf. Wir bieten unseren Kundinnen und Kunden daher an, sich einem freiwilligen Gesundheitscheck bei ihrem Vertrauensarzt zu unterziehen und sich mit ihm gemeinsam individuelle Gesundheitsziele zu setzen. Das betrifft die Bereiche Bewegung, Alkohol- und Nikotinkonsum, Blutdruck und Gewicht. Die kann man einerseits selbst beeinflussen, und sie sind andererseits große Krankheitstreiber. Dieses Engagement für die eigene Gesundheit soll belohnt werden.

STANDARD: Wie soll man diese Gesundheitsziele denn erreichen? Wer überprüft, ob ich tatsächlich das Rauchen eingestellt habe?

McDonald: Nach dem Gesundheitscheck folgt das ärztliche Beratungsgespräch. Die SVA bietet zum Beispiel Rauchern verschiedene Unterstützungsprogramme zum Aufhören an, sogenannte No-Smoking-Camps. Oder im Bereich Bewegung: Ein Drittel der Österreicherinnen und Österreicher macht gar keinen Sport - auch da liegen wir unter dem EU-Schnitt. Bei Nichtsportlern geht es zunächst einmal darum, Bewegung in den Alltag zu integrieren, in die Gänge zu kommen. Die Leute müssen nicht zu Marathonläufern werden. Beim Alkohol ist es ähnlich: Auch da wird mit dem Arzt ein gesundes Maß vereinbart. Ein Achtel Rot am Abend ist gesund, eine Flasche Schnaps nicht. Die Ziele sind sehr individuell.

STANDARD: Herr Pazourek, wie gefällt Ihnen der Vorschlag, individuelle Gesundheitsziele finanziell zu belohnen? Glauben Sie, dass man Menschen auf diese Weise zu gesunder Ernährung, mehr Bewegung oder zum Nichtrauchen erziehen kann?

Pazourek: Ich finde es in Ordnung, dass in der SVA die Selbstbehalte reduziert werden. Wir haben in der Sozialversicherung über dieses Programm diskutiert, es gibt Argumente dafür und dagegen. Es wäre aber problematisch, aus diesem SVA-Programm allgemein die Schlussfolgerung zu ziehen, dass in der Präventions- und Gesundheitsförderung ausschließlich mit finanziellen Belohnungs- oder Bestrafungssystemen gearbeitet werden soll. Generell gibt es einen Trend in der Diskussion um Prävention und Gesundheitsförderung, international und neuerdings auch in Österreich, der mir gar nicht gefällt. Ich nenne ihn die Re-Ideologisierung der Präventionspolitik.

STANDARD: Was verstehen Sie unter Re-Ideologisierung?

Pazourek: Es gibt seit den 1960er-Jahren einen breiten Konsens darüber, dass man in der Gesundheit eine ausgewogene Mischung aus Verhaltens- und Verhältnisprävention braucht. Die Wissenschaft hat klar gezeigt, dass Gesundheit und Gesundheitschancen von Menschen auch nicht nur im Medizinsystem erzeugt werden. Ob ein Mensch gesund bleibt oder krank wird, das wird auf vielen Ebenen beeinflusst. Es gibt aber Kräfte, die sich ausschließlich auf Verhaltensmaßnahmen fokussieren und damit einen ganz verengten Blick auf Gesundheitschancen erzeugen. Da geht Verhältnisprävention verloren, man individualisiert und personalisiert die Zuständigkeit für Gesundheit. Das gipfelt in Aussagen wie: "Jeder ist für seine Gesundheit selber zuständig." Als ob es ausschließlich in meiner persönlichen Gestaltungsmacht läge, ob ich einen Gallenstein bekomme, oder ob es in der Verantwortung meiner Frau läge, dass sie ein Mammakarzinom ausbildet. Das ist ein Rückfall in die 1960er-Jahre.

STANDARD: Herr McDonald, wie sieht denn die Belohnung der Sozialversicherung konkret aus, wenn jemand sein Gesundheitsziel erreicht?

McDonald: Diejenigen unserer Versicherten, die ihre Ziele erreichen, haben für zwei bis drei Jahre beim Arztbesuch nur mehr den halben Selbstbehalt zu zahlen. Im Durchschnitt bleiben den Leuten so 65 Euro pro Jahr mehr im Geldbörsel. Mit diesem Programm haben wir bisher 45.000 Österreicherinnen und Österreicher dazu motiviert, sich mehr für ihre Gesundheit zu engagieren. Unsere Versicherten sind dem Projekt gegenüber sehr positiv eingestellt, das entnehmen wir Befragungen. Das ist gut, denn wir brauchen in Österreich in der Gesundheitspolitik einen Paradigmenwechsel weg von der Reparaturmedizin und hin zur Frage, wie wir die Menschen darin unterstützen können, möglichst lange gesund zu bleiben. Individuelle Gesundheitsziele helfen dabei, dass man nicht erst über Gesundheit nachdenkt, wenn man bereits krank ist.

STANDARD: Jan Pazourek hat beschrieben, wie sehr die gesellschaftlichen Verhältnisse die Gesundheit des Einzelnen beeinflussen. Wie kann man die miteinbeziehen, wenn man das Erreichen individueller Gesundheitsziele belohnt?

McDonald: Heute sind vier von fünf Krankheiten sehr stark durch den Lebensstil beeinflusst. Die Reparaturmedizin kann oft nur mehr wenig tun, um diesen Krankheiten zu begegnen. Hier muss man frühzeitig eingreifen, denn Vorsorgen ist besser als Heilen. Es ist wichtig, dass sich die Sozialversicherung als eine Einrichtung begreift, die nicht nur im Falle des Falles unterstützt. Die Versichertengemeinschaft springt ein, wenn ein Einzelner ein Problem hat und eine Operation oder eine Therapie braucht. Auf der anderen Seite darf die Solidargemeinschaft aber erwarten, dass jeder in seinem Bereich versucht, sich länger gesund zu halten.

Pazourek: Selbstverständlich ist es gut und positiv, das Potenzial der Menschen zu aktivieren, etwas zur eigenen Gesundheit beizutragen. Was aber ein absolutes Schreckgespenst für mich wäre, ist eine Gesellschaft, die all jene Menschen als Außenseiter betrachtet, die krank sind oder übergewichtig, weil sie ihre Eigenverantwortung angeblich nicht wahrgenommen haben. Das wäre ein völlig verfehltes Menschenbild. Ich glaube aber nicht, dass wir in Österreich so weit sind. In anderen Industriegesellschaften ist das viel brenzliger. Dort wird öffentliche Verantwortung und Solidarität systematisch zurückgefahren.

STANDARD: Warum ist es aus Ihrer Sicht problematisch, wenn in Gesundheitsfragen die Verantwortung des Einzelnen so stark betont wird?

Pazourek: Das Eigenverantwortungsparadigma sagt, dass jeder für seine Gesundheit selbst verantwortlich ist. Und dass er daher selber dafür zahlen muss. Früher war es so: Wenn einer krank war, musste er die finanziellen Folgen seiner Krankheit selber bewältigen. Wenn er nun arm war, hat er eine schlechtere Chance gehabt, wenn er reich war, hat er bessere Chancen gehabt. Es ist eine große Errungenschaft der Sozialversicherung, dass das Krankheitsrisiko vom Finanzierungsrisiko getrennt wurde. Egal, ob einer arm oder reich ist - wenn er vom Schicksal getroffen wird und Krebs kriegt, dann kommt die Solidargemeinschaft für die notwendigen Behandlungs- und Therapiekosten auf. Das ist die Idee hinter der Sozialversicherung.

McDonald: Ich glaube nicht, dass es völlig falsch ist, dem Einzelnen stärker bewusst zu machen, dass er selbst einen ganz wesentlichen Beitrag zu seiner eigenen Gesundheit leisten kann. Ich kann das Gesundbleiben nicht an den Arzt oder an die Solidargemeinschaft delegieren. Wir erreichen durch ein Modell, das auf einem finanziellen Anreiz aufbaut, unterschiedliche Einkommens- und Altersschichten. Seit der Einführung unseres Anreizsystems nutzen 40 Prozent mehr Menschen unsere Vorsorgeprogramme.

Pazourek: Jede Tendenz, die das Krankheitsrisiko und das Finanzierungsrisiko wieder zusammenführt, ist gefährlich. Ich kann nicht für etwas, das ich persönlich vielleicht zu 20 bis 30 Prozent beeinflussen kann, zu 100 Prozent haftbar gemacht werden. Wir müssen sehr aufpassen in der Diskussion um Prävention und Gesundheitsförderung, dass wir keinen Rückfall in die 1960er-Jahre erleben. Die Individualisierung und Personalisierung, die Einengung auf Verhalten und Lebensstil, das Ausblenden gesellschaftlicher Rahmenbedingungen sollte nicht Oberhand gewinnen.

STANDARD: Wie sehr wirkt sich persönliches Verhalten überhaupt auf unsere Gesundheit aus? Wird dieser Beitrag überschätzt? Das größte Gesundheitsrisiko ist bekanntlich, in eine sozial schwache Familie geboren zu werden.

McDonald: Da gibt es kein Schwarz-Weiß, das ist eine Mischung aus verschiedenen Facetten. Wir versuchen, mit finanziellen Anreizen und starkem Marketing auch jene Gruppen zu erreichen, die sich sonst wenig für Prävention interessieren. Ein finanzieller Anreiz wirkt natürlich bei Menschen mit geringeren Einkommen höher als bei Besserverdienern. Aber ich würde mir wünschen, dass die gesamte Bundesregierung das Thema Gesundheit einmal unter dem Motto "Mit mehr Bewegung länger gesund bleiben" zu einem Jahresschwerpunkt ihrer Arbeit macht. Das könnte man so hoch hängen, wie man es in den 1980er-Jahren mit dem Umweltschutz getan hat. Gesundheit ist ja nicht nur Thema der Gesundheitspolitik.

Pazourek: Ich will nicht kleinreden, dass der individuelle Lebensstil bedeutend ist. Er beeinflusst die vermeidbare Sterblichkeit aber nur im Bereich von etwa zehn Prozent. Das Gesundheitssystem und der Medizinbetrieb haben auch nur rund zehn bis 30 Prozent Einfluss auf die vermeidbare Sterblichkeit. Der Medizinbetrieb und das eigene Verhalten beeinflussen in Summe also nicht einmal zur Hälfte, ob wir vor der Zeit sterben. Der Rest sind biologische Faktoren. Genetik. Also Dinge, die man nicht beeinflussen kann. Am stärksten wirken aber gesellschaftliche Einflussfaktoren auf unsere Gesundheit. Es mag sich dem Alltagsverständnis scheinbar erschließen, dass gute Spitäler und Ärzte uns alle gesund machen, genau das wird mit diesen Zahlen aber ziemlich zurechtgerückt.

STANDARD: Inwiefern beeinflusst die Gesellschaft die Gesundheit des Einzelnen, wenn es nicht dessen Verhalten oder Lebensstil ist?

Pazourek: Entscheidend sind die ökonomischen, sozialen und umweltbezogenen Rahmenbedingungen. Arbeitsmarktpolitik ist Gesundheitspolitik. Bildungspolitik ist Gesundheitspolitik. Die Medizin bespielt nur einen Teil. Man sollte bedenken: Der private Markt hat nicht dieselbe Gestaltungsmacht wie der öffentliche Sektor, wenn es darum geht, gesundheitsfördernde Lebensbedingungen zu erzeugen. Man braucht dafür politischen Gestaltungswillen. Ich bin nicht der Meinung, dass wir in der Gesundheit weniger Staat und mehr Privat brauchen, weil die Kräfte des Marktes angeblich Rahmenbedingungen erzeugen, die automatisch dazu führen, dass Gesundheitschancen gleich verteilt sind. Hier ist Politik gefordert, und zwar Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Bildungspolitik und Umweltpolitik. Man muss begreifen, dass es nicht förderlich ist, diese Verantwortung zu privatisieren. Das ist Aufgabe der öffentlichen Ordnung.

STANDARD: Wenn man nun weiß, dass das Verhalten des Einzelnen bei der Gesundheit nur einen relativ geringen Teil ausmacht - was wäre noch zu tun?

McDonald: Wir brauchen eine mentale Revolution im Bewusstsein: dass jeder seinen Beitrag leisten kann, um länger gesund zu bleiben. Wir als Sozialversicherung der gewerblichen Wirtschaft differenzieren nicht zwischen gesund und krank, alle können bei unseren Programmen mitmachen, denn die Weichen für die Gesundheit von morgen werden heute gestellt. Deswegen ist es uns auch so wichtig, schon die Kinder zu erreichen.

Pazourek: Natürlich gibt es bestimmte Verhaltensweisen, die Gesundheitsrisiken bergen. Und individuelle Verhaltensweisen sind dem Grunde nach modifizierbar. Aber die Vorstellung, dass Individuen keinen Sozialisationsrucksack hätten, dass sie in keinem Milieu und in keinem gesellschaftlichen Wertegefüge leben, dass der Einzelne völlig autonom ist, das ist ein Wunschtraum. Die Menschen sind nicht so selbstbestimmt. Daher braucht es gesellschaftliche Rahmenbedingungen, um eine breite und diversifizierte Gesundheitsförderung aufzubauen.

STANDARD: Die gesündesten Gesellschaften sind sozialmedizinischen Studien zufolge jene, in denen Vermögen und Einkommen am gleichmäßigsten verteilt sind. Was heißt das für Österreich?

Pazourek: Auch hierzulande wächst die soziale Ungleichheit, und die Tendenz ist bedenklich. Es ist Aufgabe der Politik, hier gegenzusteuern. Es hilft die ganze Gesundheitspolitik nichts, wenn uns in diesem Bereich nichts gelingt.

McDonald: Wir haben gerade auch in Krisenzeiten in der Sozialversicherung der gewerblichen Wirtschaft die Leistungen ausgebaut. Damit haben wir mittlerweile eine weitgehende Gleichstellung zwischen Selbstständigen und Unselbstständigen in den Krankenversicherungsleistungen erreicht. (Lisa Mayr, DER STANDARD, CURE, 19.8.2014)