Gerald Posselt über Brutalität, die zum Symbol wird, wie im aktuellen Fall von IS-Terroristen: Sie nehmen ihre Gäueltaten auf und verbreiten sie im Netz.

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STANDARD: Wurde das Verhältnis zwischen Sprache und Gewalt bisher in der Philosophie zu wenig beleuchtet?

Posselt: Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurde das Verhältnis von Sprache und Gewalt als ein äußerliches Verhältnis betrachtet, ja sogar als ein Gegensatz: Gewalt beginnt dort, wo die Sprache verstummt. Gegen diese Auffassung spricht die sprachliche Gewalt, mit der wir tagtäglich zu tun haben und die wir am eigenen Leib erfahren - von einfachen Beleidigungen und Drohungen über Formen sprachlicher Diskriminierung bis hin zur Verhetzung. Wir können mit sprachlichen Äußerungen nicht nur die Welt beschreiben oder Tatsachen behaupten, sondern auch andere verletzen.

STANDARD: Wie kann man sich diesen verletzenden Aspekt der Sprache genau vorstellen?

Posselt: Wir gehen davon aus, dass sprachliche Gewalt eine eigenständige Form der Gewalt darstellt, die nicht auf physische Gewalt reduziert werden kann. Dahinter steht die These, dass sich weder Sprache ohne Berücksichtigung von Gewalt noch Gewalt ohne Berücksichtigung von Sprache angemessen verstehen lassen. Weder gibt es eine vollkommen gewaltfreie Sprache noch eine absolut sinnlose Gewalt. Das heißt: Gewalt ist immer schon in normative Sinn- und Bedeutungszusammenhänge eingebettet.

STANDARD: Auf welche Ansätze in der Philosophie greifen Sie zurück?

Posselt: Dass Rede gewaltsam sein kann, hat bereits die antike Rhetorik klar erkannt. Aber erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts haben Autoren wie Jacques Derrida und Michel Foucault - ausgehend von Friedrich Nietzsche - das Verhältnis von Sprache und Gewalt systematisch untersucht. So geht Derrida von einer "ursprünglichen" Gewalt in der Sprache aus, die mit jedem Benennungsakt einhergeht. Und Foucault untersucht die Prozeduren der Ausschließung und der Regulierung, die festlegen, wer sprechen darf und was gesagt werden kann. Die Soziolinguistik und die feministische Linguistik haben gezeigt, dass auch in unserer alltäglichen Kommunikation Macht- und Gewaltverhältnisse am Werk sind.

STANDARD: Woran mangelt es diesen Ansätzen Ihrer Meinung nach?

Posselt: Es gibt zwei Hauptlinien: Einerseits wird versucht, sprachliche Gewalt auf den Handlungscharakter der Sprache zurückzuführen. Wenn Sprechen ein Handeln mit Worten ist, wie die Sprechakttheorie gezeigt hat, dann ist es auch plausibel, dass Sprechen verletzen kann. Andererseits geht man davon aus, dass es eine Gewalt gibt, die der Sprache selbst inhärent ist. Sprache wird hier als ein System von Normen und Konventionen gedacht, die bestimmen, was sagbar ist und was nicht.

STANDARD: Aber das fasst doch sowohl sprachliche Gewalt als auch gewalttätige Sprache schon sehr konkret.

Posselt: Ich denke, dass beide Ansätze zu kurz greifen: Man kann sprachliche Gewalt nicht allein aus dem Handlungscharakter der Sprache erklären, ohne die Berücksichtigung der Strukturen und Konvention, die dieses Sprechen möglich machen. Ebenso wenig gibt es eine strukturelle Gewalt in der Sprache ohne die Sprecher und Sprecherinnen, die diese Strukturen im konkreten Sprechen reproduzieren. Man muss beide Dimensionen in den Blick nehmen.

STANDARD: Mit welchem Ziel?

Posselt: Wir versuchen, einen differenzierteren Begriff sprachlicher Gewalt zu entwickeln, der sich nicht auf die Gegenüberstellung von direkter/indirekter, konkreter/abstrakter, personaler/struktureller Gewalt reduzieren lässt. Damit wollen wir auch Reflexionsarbeit für andere Disziplinen leisten. Gerade in der Gewaltforschung stellt sich die Frage nach einem einheitlichen Gewaltbegriff. Doch in dem Moment, in dem ich Gewalt definiere, vollziehe ich bereits selbst einen gewaltsamen Setzungsakt, der festlegt, was als Gewalt zählt und was nicht. Uns geht es darum, hier philosophische Grundlagenforschung zu leisten. Und wir wollen herausfinden, welche Möglichkeiten es gibt, sprachlicher Gewalt entgegenzutreten und andere Sprechweisen umzusetzen.

STANDARD: Was können soziale Medien zur Analyse von Sprache und Gewalt beitragen?

Posselt: Mit neuen Medien entstehen auch neue Formen symbolischer Gewalt, wie die Phänomene des Cyber-Bullying oder der Handygewalt zeigen. Hier wird die ausgeübte Gewalt mit der Handykamera aufgezeichnet und dann im Netz verbreitet. Die Gewalttat wird gewissermaßen nur Mittel zum Zweck für die symbolische Gewalt, die die Betroffenen durch die Verbreitung und Reproduktion der Bilder erfahren.

STANDARD: Heißt das, Gewalt wird auch ausgeübt, um Symbole zu erzeugen?

Posselt: Zumindest wird deutlich, dass selbst die sinnloseste Gewalt eine symbolisch-mediale Dimension besitzt. Man denke hier nur an die Anschläge von 9/11 oder aktuell an die IS-Terroristen im Irak, die ihre Gräueltaten per Video aufnehmen und im Netz verbreiten. Gewalt wird hier zu einer perfiden Strategie der Kommunikation.

STANDARD: Warum ist sprachliche Gewalt, insbesondere im Alltag, so schwer fassbar?

Posselt: Weil sie indirekt und verdeckt wirkt. Man kann im Nachhinein immer sagen: "Das hab ich nicht so gemeint" oder "Du warst doch gar nicht angesprochen". Das erklärt auch, warum sprachliche Gewalt juristisch so schwer zu handhaben ist - und warum gute Gründe dagegen sprechen, Formen von sprachlicher Gewalt oder Verhetzung immer an die Gerichte zu delegieren.

STANDARD: Welche?

Posselt: Die verletzende Kraft einer Äußerung lässt sich nicht allein aus der Intention erklären, mit der sie geäußert wird; auf diesen Aspekt konzentrieren sich häufig Gerichte. Wenn eine Äußerung verletzen kann, so nicht zuletzt, weil sie Traumata aufruft, die in einem Begriff historisch sedimentiert sind. Das zeigt sich besonders bei antisemitischen oder rassistischen Äußerungen: Die verletzende Kraft ist hier weniger in der Intention des Sprechenden begründet als in der Geschichte, die mit diesen Äußerungen aufgerufen wird.

STANDARD: Kann es so etwas wie Kriterien gegen verletzendes Sprechen geben?

Posselt: Mit eindeutigen Kriterien ist es schwierig. Asymmetrische Machtverhältnisse und der Aspekt der Öffentlichkeit spielen aber eine wichtige Rolle. Oft zielt sprachliche Gewalt darauf ab, der Sprache und dem Sprechen selbst ein Ende zu setzen und den anderen zum Schweigen zu bringen, zum Beispiel mit stereotypisierenden Zuschreibungen. Umgekehrt müssen wir aufpassen, nicht vorschnell bestimmte Formen des Sprechens der Zensur zu unterwerfen, weil es damit unmöglich wird, mit Sprache produktiv und kreativ umzugehen.

STANDARD: Gibt es konkrete Vorschläge für gewaltfreies Sprechen?

Posselt: Wenn sprachliche Gewalt darauf abzielt, sprachlos zu machen und jede Form der Wider- und der Gegenrede unmöglich macht, dann gilt es, Formen des Sprechens zu stärken, die uns ermöglichen, weiter-, anders- und gegenzusprechen. Ein solches Sprechen ist nicht völlig gewaltfrei, aber es erlaubt uns, gewaltfreiere Formen der Kommunikation zu erproben. (Beate Hausbichler, DER STANDARD, 13.8.2014)