Roth: "Ich denke nicht, dass alles nur aus Zufällen entstanden ist, und ich glaube nicht, dass die Menschen jemals werden ableiten können, wofür das Weltall steht, warum wir auf dieser Welt sind."

Foto: Philipp Horak

STANDARD: Herr Roth, drei Jahre, nachdem Sie den Schlussstrich unter Ihre beiden großen Zyklen gesetzt haben, lassen Sie den zur literarischen Figur gewordenen Schriftsteller unter dem Namen Philipp Artner erneut auftreten - und sterben. Soll dieser Roman Ihr Vermächtnis werden?

Roth: Nein. Von dieser Figur des Schriftstellers habe ich mich getrennt. Philipp Artner tritt im ersten Buch meines Romans als eine Person auf, die zerfällt. Mit einer Unbekannten erfährt er noch einmal ein Wiederaufleben seiner Sexualität. Dann erfolgt seine Auflösung. Sein Zuhause, seine Beziehungen zerfallen und seine Schreibkraft lässt nach. Die Explosion, die sich am Ende des ersten Buches ereignet, ist sein Ende. Es könnte auch sein, dass diese Auflösung nicht wirklich stattfindet, sondern Artner sie im letzten Moment seines Lebens nur denkt, oder dass er alles gerade schreibt.

STANDARD: "Grundriss eines Rätsels" betiteln Sie den Roman. Unter Rätseln verstand man im Mittelalter ein verschlüsseltes Sprechen vom Unerklärlichen. Weist das den Weg, wie der Roman zu lesen ist?

Roth: Nein, im Laufe des Lebens steht man immer wieder vor Rätseln. Die Naturwissenschaften sind, was die Erforschung des Universums betrifft, erst am Anfang und, so besehen, noch hinter den Mythen und Märchen zurück. Ich schildere dieses Rätsel als etwas Alltägliches, um zu zeigen, dass jedes Leben auf der Erde ein Rätsel ist. Aber ich greife aus der Alltäglichkeit Momente heraus, die etwas mit Erinnerung zu tun haben. Das Rätsel des Daseins ist ein Gemisch aus Erleben, Sehen, Erfahren, Träumen, Erinnerung.

STANDARD: Um Erinnerung geht es in jenen Büchern Ihres Romans, in denen Sie darlegen, wie Philipp Artner in der Erinnerung seines Sohnes, seiner Geliebten, seiner Ehefrau und des Germanisten Vertlieb Swinden bewahrt wird. Ist das Erinnern eine Form der Unsterblichkeit?

Roth: Wenn ich auf den Zentralfriedhof in Wien gehe, liegen dort zum Großteil Vergessene. Nach spätestens 50 Jahren tritt dieses Vergessen ein. Nur Schöpfer der Kunst, Wissenschaftler und Gestalten der Landes- oder der Menschheitsgeschichte können dem für eine kürzere oder längere Zeit entkommen. Es wäre hilfreich, wenn Menschen sich der Tragödie, vergessen zu werden, auch im Hinblick auf ihre Mitmenschen stärker bewusst wären. Würden sie öfter daran denken, dass der andere auch nur das Leben auf der Erde hat und sich bemühen, ihn zu verstehen, bräuchte man keine Ideologien und hätte auch zur Religion andere Zugänge. Ein Element, weshalb es Religionen gibt, ist das begrenzte Wissen der Menschen. Wir haben keine wirkliche Vorstellung vom Aussehen des Universums und seiner Grenzen. Vielleicht gibt es aber auch nichts zu verstehen.

STANDARD: Dann gäbe es auch kein Rätsel des Daseins ...

Roth: Das sehe ich wieder "spirituell". Ich denke nicht, dass alles nur aus Zufällen entstanden ist, und ich glaube nicht, dass die Menschen jemals ableiten werden können, wofür das Weltall steht, warum wir auf dieser Welt sind.

STANDARD: Als Vertlieb Swinden auf dem Land den Spuren des toten Schriftstellers nachgeht, findet man sich in einem Gemälde von Hieronymus Bosch wieder. Die ländliche Welt ist angereichert mit Symbolen aller Art. Da sind Fische und Schlangen. Da wird ein Blutkuchen gegessen. Und da werden drei Tschetschenen ermordet aufgefunden. Wofür steht diese Welt?

Roth: Das ist unsere normale Welt. Ich schreibe nicht mithilfe von Symbolen. Es sind Gedanken. Man könnte auch aus dem urbanen Leben ein solches Hieronymus-Bosch-Gemälde entwickeln, wenn man die Gewalt als Vorlage nimmt, die in der Stadt ausgeübt wird. Auf dem Land sind die Charakteristika des Lebens nur besser überschaubar. Daher habe ich das Landleben gewählt. Wir befinden uns natürlich nicht ununterbrochen in Ausnahmesituationen. Aber wenn solche Situationen eintreten wie zum Beispiel zur Zeit des Christentums, als Menschen auf Scheiterhaufen verbrannt wurden, oder des Kommunismus unter Stalin, oder des Nationalsozialismus, in der Menschen infolge einer absurden Rassentheorie ermordet wurden, zeigt es sich, wozu der Einzelne als Täter fähig ist.

STANDARD: Heißt das, dass man diese Welt auch politisch deuten und bei der Ermordung der Tschetschenen, deren Namen dem hebräischen Alphabet entstammen, an den Holocaust denken kann?

Roth: Es ging mir darum anzudeuten, welche ungeheuren Möglichkeiten in einem Leben vorhanden sind. Im Roman zeige ich nur einige Perspektiven dieses Spektrums. Im zweiten Buch geht es um Gewalt. Die Tschetschenen stehen für alle Migranten, für Ausgestoßene, die in eine fremde Kultur geflüchtet sind und dort für ihre Religion, ihr Aussehen, ihr Fremdsein und dafür, dass sie nicht die Sprache verstehen, abgelehnt werden. Man schickt sie in eine ehemalige Volksschule. Am Leben dürfen sie nicht teilnehmen. Als drei von ihnen eine Witwe aus einem Dorf besuchen, die mit Flüchtlingen sexuell verkehrt, werden sie ermordet. Ich habe in diesem zweiten Teil nicht nur für die Tschetschenen, sondern auch für andere Namen und Bezeichnungen die Buchstaben des hebräischen Alphabets verwendet. Insofern ist das zweite Buch im Roman ein "unsichtbares" Denkmal für den Holocaust.

STANDARD: Zugleich ist Ihr Roman reich an Mythen und Bildern, wie sie am Übergang vom Mittelalter zur Renaissance in der Kunst zu sehen waren. Was fasziniert Sie an dieser Weltsicht?

Roth: Die Entdeckungen von Sigmund Freud, dass es ein Unbewusstes gibt, liegen erst 100 Jahre zurück - ein Sekundenbruchteil in der Menschheitsgeschichte. Mit Erstaunen müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass es in diesem Unbewussten mittelalterlich zugeht. Carl Gustav Jung erkannte archaische Strukturen darin.

STANDARD: Ist für Sie in den mittelalterlichen Himmels- und Höllendarstellungen, die Sie schildern, das Unbewusste erfasst?

Roth: Ich teile diese Vorstellungen von Himmel und Hölle nicht und stelle sie auch nicht dar. Der Mensch findet sowohl das Paradies als auch das Inferno auf der Erde. Meistens schafft er das Inferno selbst, weil er glaubt, den Garten Eden oder eine ewige Wahrheit gefunden zu haben und alle dazu zwingen will, mit ihm in diesem vorgeblichen Paradies zu leben. Die griechischen Tragiker haben das gewusst und in ihren Dramen dargestellt, wie Menschen Gutes wollen und Böses schaffen.

STANDARD: "... war doch Artner ein Schriftsteller gewesen, der das Böse in den Mittelpunkt seiner Arbeit gestellt" habe, lassen Sie den Germanisten Vertlieb Swinden denken. Ist dieser der Mystik zugehörige Begriff des Bösen aufschlussreich für unsere Weltdeutung?

Roth: Das Böse und der Hass sind etwas Reales. Sie sind eine Achse, um die sich die Geschichte der Welt und des Alltags drehen. Sie kommen im Kleinen wie im Großen vor, wie Liebe und Freundschaft. Die Figuren in meinem Roman lügen auch und verhalten sich falsch. Jede ist in einem Netz von Abhängigkeiten gefangen. Mir war es wichtig zu zeigen, dass die Menschen das, was sie haben, so lange als selbstverständlich betrachten, bis sie es verlieren.

STANDARD: Eine Symbolfigur, die im Roman an mehreren Stellen auftaucht, ist der Affe. Im Mittelalter stand der Affe für weltliche Begierden. Im Fernen Osten war er dagegen ein Symbol der Weisheit. Wofür steht er in Ihrem Roman?

Roth: Er ist für mich keine Symbolfigur, sondern ein Tier. Der Affe ist intelligent, man spricht ihm menschliche Eigenschaften zu. Und vor allem war er im Mittelalter ein Zeichen dafür, dass der Mensch in Literatur und Kunst nur wie ein Affe die Natur, die Schöpfung, nachahmen kann.

STANDARD: Wie in Ihrem Gesamtwerk spielen auch in Ihrem Roman Krankheiten eine wesentliche Rolle. Eröffnen sie den Zugang zu anderen Wirklichkeiten, die bedeutsam für uns sein können?

Roth: Krankheit bedeutet oft Stillstand, bringt aber größere Klarsicht auf die Kleinigkeiten des Alltags. Anhand der Geisteskrankheiten in meinem Roman will ich zeigen, dass es neben unserer Wirklichkeit auch andere gibt. Das Wort "krank" ist nicht immer angemessen. Wir tragen viele Wirklichkeiten in uns. Wie wunderbar unsere Wirklichkeitserfahrungen sind, sehen wir, wenn wir ihre Vielfalt erkennen. Jedes Lebewesen hat seine eigene Wirklichkeit. Es ist nicht gesagt, dass gerade unsere die richtige ist.

STANDARD: Die Fragen nach dem, was bleibt nach dem Tod Philipp Artners, werden im Roman sehr drängend gestellt. Man könnte daraus eine große Angst herauslesen. Fürchten Sie sich, dass Ihr Werk die Zeit nicht überdauern könnte?

Roth: Für das Weiterleben seiner Arbeit kann man nichts unternehmen. Entweder ein Werk wird von der Zeit angenommen oder es verschwindet. Die Belohnung liegt im schöpferischen Akt selbst, dass man schreiben und publizieren kann und sich Menschen finden, die es lesen. Ich wollte nichts anderes im Leben als schreiben.

STANDARD: 2008 nahm sich der Schriftsteller David Foster Wallace das Leben und hinterließ tausende von Manuskriptseiten, die von einem Autor namens David Wallace handeln und den Satz enthalten: "David Wallace verschwindet - geht im System auf."

Roth: Das Gleiche kann man über Pessoa oder Kafka sagen. Jeder Schriftsteller, jeder Künstler geht irgendwann in seinem Werk auf. Nach seinem Tod sieht man erst, was er zurückgelassen hat.

STANDARD: Ihr Roman folgt biblischen Vorgaben. Er ist in Bücher gegliedert und erzählt vom Tod und von einer Art Auferstehung. Suchten Sie bewusst eine Anlehnung an das biblische Geschehen?

Roth: Die Bibel ist das Buch, das ich immer wieder lese, ohne dass ich einen religiösen Schluss daraus ziehe, aber einen ästhetischen und ethischen. Ich sehe in der Bibel eine Menschheitsgeschichte in Form mythologischer Beschreibungen. Mit zunehmendem Alter habe ich erst verstanden, dass es sich in der Bibel um verschiedene Bücher handelt, die von verschiedenen Autoren geschrieben wurden und stilistisch und inhaltlich eine phantastische Vielfalt ergeben. Man findet Psalmen, Chroniken, Gesetze. Eine einzelne Person wird von vier Menschen aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Da sind Elemente, wie sie die moderne Literatur von Faulkners Als ich im Sterben lag bis zu Joyce' Ulysses und Melvilles Moby Dick einsetzt. Es gibt den klaren Ausdruck, wie Camus ihn hat. Man stößt auf verrätselte Passagen und kafkaeske Schicksale. Auch mein Roman enthält mehr Rätsel als Lösungen. Es gibt aber die Absage an inhumanes Verhalten, Gewalt und Zerstörung. Alles andere sind Abklopfungen eines hohlen Baums, Fahndungen nach einer Schatzkiste. An deren Stelle findet man dann nichts oder stößt auf eine eingemauerte Leiche. Alles ist möglich. (Ruth Renée Reif, Album, DER STANDARD, 16.8.2014)