"Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, ein besserer Mensch zu werden": Daniel Glattauer, der erfolgreichste österreichische Schriftsteller.

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STANDARD: Ihr neues Buch handelt von einer anonymen Spendenserie. Wie und wo sind Sie auf diese Thematik gestoßen?

Daniel Glattauer: Im Flugzeug während einer Deutschlandlesereise vor zweieinhalb Jahren. Da habe ich eine kurze Zeitungsnotiz über eine anonyme Person gelesen, die in Braunschweig hohe Geldsummen an Hilfebedürftige und wohltätige Organisationen schickt, von denen sie soeben aus der Lokalpresse erfahren hatte. Das Markante an dieser Meldung: Sie war die einzige positive. Ein paar Tage später war ich selbst in Braunschweig. Nach der Lesung unterhielten wir uns lange über die anonyme Spendenserie. Wir fragten uns: Wer macht so was? Und warum anonym? Da dachte ich: Eigentlich ein spannendes Thema für einen Roman.

STANDARD: Die Geschichte rund um die anonyme Spendenserie spielt im journalistischen Milieu, das Sie mitunter auch kritisch beäugen, in dem Sie aber mehr als 20 Jahre tätig waren. Haben Sie sich da ein bisschen in den Redaktionsalltag zurückgeschrieben, vermissen Sie die Zeitungswelt?

Glattauer: Ich bin schon ein bisschen altersweitsichtig, da sehe ich die Dinge aus einer gewissen Distanz eben schärfer. So ist es auch mit dem Journalismus. Wenn man drinnensteckt, kommt man - oft aus Zeitnot und Stress - gar nicht zum Hinterfragen, was man da eigentlich tut, welchen Mechanismen man gehorcht, wonach man seine eigene Leistung beurteilt. Das fällt einem nach fünf Jahren außerhalb der "Zeitungswelt" schon etwas leichter. Und doch: Mein Herz hängt noch immer an diesem Beruf und dem Büroalltag, überhaupt wenn ich sehe, wie schwierig die Bedingungen geworden sind, unter denen meine Ex-Kollegen heute ihren Job machen müssen - oder "dürfen".

STANDARD: Mit dem Buch sprechen Sie ganz nebenbei auch viele kontroverse, aber sehr gesellschaftsrelevante Themen an, wie z. B. Migration, Alkoholismus oder Patchworkfamilie. War Ihre Ausbildung zum Lebensberater, die Sie im vergangenen Jahr abgeschlossen haben, schon Recherche für dieses neue Buch?

Glattauer: "Recherche" wäre der falsche Ausdruck. Bei einer Ausbildung fließt etwas ins Gehirn rein, beim Schreiben fließt etwas aus dem Gehirn raus. Das eine beeinflusst das andere. Hätte ich statt der Beraterausbildung den Segelschein gemacht, hätte ich vermutlich ein anderes Buch geschrieben. Oder vielleicht gar keines.

STANDARD: Ihr Protagonist Geri Plassek, ein Journalist, ist einer, der auch sehr plötzlich zu viel öffentlicher Aufmerksamkeit kommt und mit Erfolg erst umzugehen lernen muss. Haben Sie, als Sie diese Geschichte geschrieben haben, etwas aus Ihrer eigenen Biografie verarbeitet?

Glattauer: Wahrscheinlich. Mit Erfolg umgehen zu lernen ist die zweitschwierigste Disziplin. Schwieriger ist es nur, mit Misserfolg umgehen zu lernen. Der eine Tunnel ist grell ausgeleuchtet, sodass man geblendet ist und herumtapst. Der zweite ist so finster, dass man seine eigenen Schritte nicht mehr sieht. Durch beide Tunnel muss man irgendwie durch.

STANDARD: Macht Erfolg glücklich?

Glattauer: Nur wenn man ihn teilen kann, sodass andere auch was davon haben. Erst dann hat man nämlich nachhaltig selber was davon.

STANDARD: Zweiter oder eigentlicher Held Ihrer Geschichte ist der 14-jährige Manuel, auch gewissermaßen ein Geschenk an den Protagonisten, der in seinem Leben nicht nur mit dem Alkohol kämpft. Wird man durch Kinder ein besserer Mensch?

Glattauer: Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, ein besserer Mensch zu werden oder besser gesagt der Gleiche zu bleiben und seine guten Seiten zur Entfaltung zu bringen. Allein geht gar nichts, immer sind Mitmenschen daran beteiligt, egal ob Kinder oder Erwachsene. Für meinen antriebslosen Protagonisten brauchte ich eine Figur, an der er sich hochziehen können würde, für den er bereit war, Verantwortung zu übernehmen. Da ich beim Schreiben gern in die Welten von Kindern und Jugendlichen eintauche und ihre oftmals ungeschminkte Sprache liebe, habe ich mich für einen 14-Jährigen entschieden.

STANDARD: Sie selbst haben einmal erzählt, dass Sie auf Lesereisen zu viel trinken. Warum ist Alkohol in Österreich so ein Tabuthema?

Glattauer: Ist es tatsächlich noch ein Tabuthema? Ich erlebe beides: einerseits die selbstverständlichen Saufgelage von Jugendlichen in den Dorfwirtshäusern Niederösterreichs, die mit nahezu sportlichem Ehrgeiz betrieben und geduldet werden. Andererseits den erhobenen Zeigefinger der Medizinpolitik, die uns das jahrzehntelang gesellschaftlich anerkannte "Einen-über-den-Durst-Trinken" plötzlich als Volkskrankheit Nummer eins präsentiert und uns jedes Sechzehntel Wein aufrechnet. Mein Fall sind weder Kampfsäufer noch moralisierende Asketen. Ich bewege mich gern in der Mitte - ohne nähere Angaben von Alkoholmengen.

STANDARD: Glauben Sie, dass Ihre Figur Geri es geschafft hat, ganz vom Alkohol loszukommen?

Glattauer: Nach 335 Buchseiten noch nicht wirklich. Aber die Richtung, die er eingeschlagen hat, gibt Anlass zur Hoffnung.

STANDARD: Sie haben mittlerweile über viereinhalb Millionen Bücher verkauft, und Ihre E-Mail-Romane werden weltweit gelesen. Sie haben in einem Interview von sich selbst weniger als Literaten, sondern als kommerziellem Buchschreiber gesprochen. Gilt diese Zuordnung noch immer?

Glattauer: Es liegt nicht an mir, die Zuordnung zu treffen. Eines ist klar: Meine Bücher verkaufen sich gut, also sind sie offensichtlich "kommerziell". Im deutschsprachigen Feuilleton gibt es meiner Meinung nach einen ziemlich elitären Begriff von "Literatur", da passen meine Bücher nicht hinein. Ich lege bei aller Ernsthaftigkeit der Themen großen Wert auf Unterhaltung und Sprachwitz, außerdem ist meine Art zu schreiben eher gefühlsbetont als rational, das mögen Literaturrezensenten nicht gar so gern. Ich bemühe mich jedenfalls, meinen eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. "Literarischer" kann ich es nicht.

STANDARD: Was möchten Sie mit Ihren Büchern bewirken?

Glattauer: Ich möchte nichts bewirken, sondern etwas erreichen - und zwar mein Publikum. Ich bin nicht der Autor, der verstören, provozieren oder gar dozieren will. Ich verfolge keine Mission, will niemanden verbessern oder zum Umdenken bewegen, das steht mir nicht zu. Mein Publikum soll beim Lesen meiner Geschichten spannende, unterhaltsame Stunden mit nachdenklichen und emotional starken Phasen erleben können. Und es soll sich selbst im Buch suchen und wiederfinden können.

STANDARD: Wird der Druck auf Sie als Bestsellerautor von Buch zu Buch größer, oder nimmt er ab?

Glattauer: Ich verspüre überhaupt keinen Druck mehr. Es ist mir schon einiges voll aufgegangen, dafür bin ich dankbar. Jetzt kann ich in Ruhe und ohne wirtschaftliche Sorgen weiter die Bücher schreiben, die mir wichtig sind, auf die ich Lust habe und in denen ich meinen Stil entfalten kann. Geschenkt habe ich - über den Zeitraum von einem Jahr - so entspannt und konzentriert geschrieben wie noch kein Buch davor.

STANDARD: Sie haben vor ein paar Jahren einmal zugegeben, dass Sie bei jedem neuen Buch Angst haben, Ihr Publikum zu enttäuschen. Gilt das noch immer?

Glattauer: Doch, in gewisser Weise gilt das. Und das ist vielleicht mein größtes Problem: Die E-Mail-Romane Gut gegen Nordwind und Alle sieben Wellen haben bei einem Riesenpublikum Erwartungen geschürt, die ich weder erfüllen kann noch will. Viele wollen einfach "noch so etwas", eine neue romantische Liebesgeschichte, am besten eine nach der anderen. Ihnen kann ich nur sagen: Tut mir leid, ich muss meine Bücher schreiben. Geschenkt ist eine Sozialgeschichte. Und der Ich-Erzähler Geri Plassek ist kein Mann, den sich Leserinnen neben sich im Bett vorstellen werden wollen.

STANDARD: Zum zentralen Buchmotiv Geben und Schenken gibt es unzählige schöne Zitate. Eines lautet zum Beispiel: "Reich ist, wer viel hat, reicher ist, wer wenig braucht, am reichsten ist, wer viel gibt." Sind Sie damit einverstanden?

Glattauer: So schön das Zitat sein mag - für mich klingt es zu missionarisch und idealisierend. Die erschütternd ungleiche Verteilung des Besitzes ist ja eines der brennenden Themen der Gegenwart. Schlimm ist, dass vielen sogenannten Superreichen oft gar nicht bewusst ist, dass sie es sind. Sie haben irrationale Existenz- oder Machtverlustängste und horten Geldsummen, mit denen ganzen Armutsregionen effektiv geholfen werden könnte. Natürlich bin ich für Reichensteuern jeder Art, aber sie können das Problem nicht an der Wurzel packen. Es müsste der Politik vielmehr gelingen, den Reichen das freiwillige Teilen und Hergeben mehr und mehr schmackhaft zu machen. Zum Beispiel indem diese mit öffentlicher Anerkennung belohnt werden. Funktioniert ja auch bei Licht ins Dunkel.

STANDARD: In diesem Zusammenhang drängt sich eine indiskrete Frage auf: Was machen Sie mit dem vielen Geld, das Ihre Bücher einbringen?

Glattauer: Ich versuche, es mir damit gut und anderen wenigstens etwas besser gehen zu lassen. Ich selbst habe keine großen materiellen Ansprüche, und Prestige-Objekte reizen mich überhaupt nicht. Je älter ich werde, desto öfter und dringlicher stelle ich mir jedenfalls die Frage nach dem Sinn. Auch beim Geldausgeben.

STANDARD: Warum ist soziales Engagement so wichtig?

Glattauer: Unter anderem deshalb, weil es uns selbst nicht gut geht, wenn es den Menschen neben uns schlecht geht.

Das war schon beim Monopoly-Spielen in der Kindheit so. Da war es absolut freudlos, wenn man alle Hotels und Häuser aufgekauft hatte, und die Mitspieler konnten die Miete nicht mehr zahlen. Wir haben dann die Spielregeln verändert, sodass keiner mehr bankrottgehen konnte. Und dann hat das Siegen auch wieder Spaß gemacht.

STANDARD: Hoffen Sie auf viele anonyme Spenden-Trittbrettfahrer zu Ihrer Geschichte?

Glattauer: Das wäre vielleicht vermessen. Aber es macht mir ein gutes Gefühl, das Augenmerk mancher Leser und Leserinnen auf die realen Geschehnisse in Braunschweig zu lenken. Da wurden in knapp drei Jahren bereits 260.000 Euro anonym gespendet. Noch immer weiß man nicht, wer es ist. Aber längst schon sind sich Beobachter sicher, dass da bereits mehrere Personen im Spiel sind. Man sollte die ansteckende Wirkung von Guttaten nicht unterschätzen. (Mia Eidlhuber, Album, DER STANDARD, 23./24.8.2014)