Aber fangen wir mit dem Alltag an. Zu einem Zeitpunkt, als keiner von uns von dem Unglück wusste und wir uns nach dem Wachau-Marathon in Krems sammelten und erholten.

So wirklich konnte da keiner sagen, wieso. Aber als Christoph es aussprach, wollte niemand widersprechen: "Ein bisserl zaach war es schon." Wirklich gut gegangen war es keinem von uns - unabhängig von Strecke, Leistungsklasse und Zielen.

Obwohl der Wachau-Marathon einer jener Läufe ist, auf die sich alle einigen können: ein gut zu laufender, sympathischer Bewerb. Ein Event, der gleichzeitig schnell und chillig ist. Bei dem man vorher weiß, dass man den Veranstalter auf den und für die letzten drei Kilometer verfluchen wird - und der von Jahr zu Jahr mehr zum Familien- und Freundetreffen wird.

Foto: Thomas Rottenberg

Nicht, dass das heuer anders gewesen wäre. Nicht, dass wir den Lauf anders angegangen wären als sonst: als Probelauf. In den letzten Jahren war die Halbdistanz in der Wachau in meinem Freundeskreis immer der Test für unsere größeren Herbst-Marathons: vor zwei Jahren Palma, im Vorjahr Berlin, heuer New York.

"Schau, was geht", steht im Tainingsplan. Dass ich formmäßig nicht dort bin, wo ich sein sollte, wusste ich. Aber dass es dann danach - wie Christoph sagte - "zaach" gewesen sein würde, hat damit nichts zu tun.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber der Reihe nach: Der Wetterbericht hatte seit Tagen die Apokalypse vorhergesagt. "Saukalt, starker Wind, monsunartige Regenfälle" war der kleinste gemeinsame Nenner. Ich laufe gern bei Regen. Kühle bis kalte Bedingungen sind mein Freund. Westwind, wenn man in der Wachau flussabwärts läuft? Soll blasen! Nur das Davor und das Danach sind grausam. Aber Primaloft- und Gore-Jacke kann man ja ins Kleidersackerl stopfen.

Foto: THomas Rottenberg

Start ist um zehn. Die Wolken hängen tief, ab und zu ein paar Tropfen. Die Temperaturen angenehm, der Wind ein Lüfterl. Wenn überhaupt. Vor dem Start denkt niemand über so etwas nach: Frierend und notdürftig mit einem aufgeschlitzten Müllsack und einem Wegwerf-Shirt "bekleidet" auf den Startschuss warten mag niemand. Schön, wenn es anders kommt.

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Auch wenn der Event Wachau-Marathon heißt, tut niemand so, als wäre das Hauptfeld auf der 42-Kilometer-Strecke: Von 8.700 Startern und Starterinnen waren 4.905 für den Halbmarathon gemeldet. Viele Menschen - aber doch nicht so viele, dass echtes Geschubse herrschen würde.

Foto: Thomas Rottenberg

21 Kilometer sind heute die Volkslaufdistanz: Wer nicht mit dem Kopf durch die Wand will und sich beim Start nicht von falschem Ehrgeiz mitreißen lässt, weil man halt überholt wird, sollte die Distanz bewältigen können. Vorausgesetzt, er oder sie hat sich vorbereitet. Und ist gesund, pumperlgesund: Auf den tragischen Beweis, wie verheerend eine Fehleinschätzung sein kann, hätte jeder gerne verzichtet. Dazu später mehr.

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Ich hatte mir genau nichts vorgenommen. Außer: Spaß haben. "Wenn du dich quälst, könnten auch 1:30 drin sein", hatte meine Trainerin Sandrina Illes gesagt. Ich stehe nicht auf Quälen. War von den Wochen zuvor verunsichert. Aber 1:40 sollten gehen. Locker. Eigentlich.

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Und so trabte ich fröhlich dahin. Alles fein. Christoph hatte mich nach den ersten hundert Metern abgehängt. Erwartungsgemäß. Aber wenn man mit 5.000 anderen durch die Wachau rennt, trifft man jede Menge Leute. Manche lachen beim Überholen: "Jö, bitte ein Selfie! Komm ich jetzt in deinen Blog?"

Foto: Thomas Rottenberg

Dieser Kollege war aber zu schnell: Ich konnte nicht fragen, wo es diese Hose zu kaufen gibt. (Für Infos bin ich dankbar …)

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Natürlich gibt es Wichtigeres als Outfit und Styling: Grundbedürfnisse. Die Versorgung klappte dort, wo ich vorbeikam, perfekt.

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Nur: Im Renntempo aus einem Becher zu trinken habe ich nicht wirklich drauf. Flasche und Futter nehme ich auf gut "gecaterten" Strecken unter 30 Kilometer nicht mit. Aber Christoph macht es richtig: ein kurzes Stück Trinkrucksackschlauch, und die Sache mit dem Verschlucken ist ausdiskutiert.

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Aber irgendwas passte nicht. Mein Mindset war anders. Ich lief zwar kurz/kurz, aber nicht die luftigste Version. Andere liefen lang/lang. Nur: von Regen keine Spur. Von Wind sowieso nicht. Und die Sonne begann sich durch die Wolken zu graben. Malerisch zwar, aber ich bekam eine Vorahnung.

Foto: Thomas Rottenberg

Egal: Den Bewerb, bei dem ich mir nicht die Frage stelle, warum ich das tue, habe ich noch nicht gefunden. Andererseits: Blair-Witch-Wachau hat was.

Foto: Thomas Rottenberg

Natürlich täuschte ich mich: Der Tunnel bei Dürnstein ist nicht lang genug und der Hügel nicht hoch genug, dass an den Enden tatsächlich unterschiedliches Wetter herrschen könnte. Aber eines war klar: Das war kein Regentag.

Foto: Thomas Rottenberg

So schön die Wachau ist: Irgendwann hat man sie beim Laufen gesehen. So etwa ab Kilometer 13, der Wende hinter Dürnstein: links Weingärten, dahinter Hügel. Rechts der Fluss. Vor mir die Straße.

Foto: Thomas Rottenberg

Und auf der geht es Richtung Krems. Nur: Wieso werfen wir plötzlich Schatten? Wieso trieft mein Shirt? Wieso komme ich mir vor wie im Dampfbad? Der neben mir stöhnt: "Spinn ich, oder ist es so schwül, als käme ein Gewitter?"

Foto: Thomas Rottenberg

Der Kollege sponn keineswegs: Die Sonne hatte sich durch die Wolken genagt und trocknete jetzt die Straße auf. Es dampfte. Die Eliteläufer waren längst im Ziel angekommen - und im Feld trennte sich Spreu von Weizen, weil jetzt der unangenehmste Teil kam: Krems.

Ungelogen: Im Vorjahr habe ich auf diesen drei Kilometern erwachsene Männer weinen gesehen. Kotzen sowieso. Aber da war noch etwas: Spätestens jetzt spürte jeder, dass es drückend schwül war.

Foto: Thomas Rottenberg

Das Blöde mit Krems ist nämlich: Sobald man in der Stadt ist, sieht man das Ziel. Man läuft darauf zu. Und dann kommt die Sache mit dem Stallgeruch: Irgendwer gibt Gas, und wie die Lemminge ziehen alle mit. Glücklich, wer da mit Pacemaker unterwegs ist: Der Profi läuft für den Kunden und "schützt" ihn oder sie vor Idiotie und Gruppendruck-Phänomenen.

Foto: Thomas Rottenberg

Krems ist tückisch: Man schlägt Haken. Weg vom Ziel. Hinein in die Stadt. Dann wieder zurück. Man hört das Ziel. Man sieht es. Man spürt es. Aber man ist noch lange nicht da.

Foto: Thomas Rottenberg

Dann kommt die Zielgerade. Aber vom Ziel weg - während einem andere Läufer entgegenkommen: Die sind im Endspurt. Das steckt an. Nur …

Foto: Thomas Rottenberg

… schlägt die Strecke jetzt wieder - zack - einen Haken. Hinein in die Stadt. Und das, wo die Sehnsucht anzukommen längst den Kopf überstimmt hat. Der sagt nämlich: "Runter vom Gas! Es sind noch zwei Kilometer." Bloß: Auf den Kopf zu hören wird jetzt immer schwieriger.

Foto: Thomas Rottenberg

Das ist der Punkt, an dem es passiert. Im besten der schlechten Fälle torkelt man mit letzter Kraft auf einen Sanitäter zu, sagt "Aus. Ende. Finito" und kann sich aus eigener Kraft hinsetzen oder hinlegen. Dann übernehmen die Profis. Eine Freundin von mir hat das heuer gerade noch geschafft. Das kann passieren. Jedem. Besonders, wenn es plötzlich drückend schwül ist.

Im schlechteren Fall - hier im Bild - rennt man ein paar Meter zu weit. Und schafft es nicht selbst bis zum Sani. Aber sie sind da, binnen Sekunden. Man sieht sie die ganze Zeit entlang der Strecke. Das beruhigt und ist einer der Gründe, warum ich diesen Lauf mag.

Doch im Katastrophenfall können weder Sanitäter noch Arzt helfen. Genau dieser Fall trat heuer ein: Ein Läufer brach im Zielraum zusammen. Herz-Kreislauf-Stillstand. Obwohl der Notarzt sofort zur Stelle war, obwohl die Rettungskette fehlerlos funktionierte, obwohl da keiner etwas falsch machte, war der 39-Jährige nicht zu retten. Am Montag wurde dann offiziell und ärztlich bestätigt, dass eine "schwere internistische Vorerkrankung des Mannes" vorgelegen habe: Wer krank oder einfach nur noch nicht komplett wiederhergestellt in einen Wettkampf geht, spielt russisches Roulette - wenn es schiefgeht, haben die Ärzte keine Chance.

Foto: Thomas Rottenberg

All das passierte allerdings lange Zeit nachdem ich hier durch war: Ich erfuhr von der Tragödie erst am Abend. Daheim.

Als ich das Ziel erreichte, war ich einfach nur froh, endlich da zu sein: Es war, wie Christoph später sagen würde, "irgendwie zaach" gewesen. Nicht schlimm, nicht unangenehm - aber anders als sonst. Irgendwo bei Kilometer sieben oder acht war mir die Leichtigkeit abhandengekommen.

Die Zeit? Unterirdisch. 1:40:44. Auch wenn ich genau weiß, wo und wieso ich ein oder zwei Minuten liegengelassen habe (und sie jederzeit ebendort wieder ablegen würde): Das ist klar am Ziel vorbei.

Foto: Thomas ROttenberg

Im Zielraum wirkte kaum jemand frisch. Das ist normal. Und Teil des Reizes solcher Veranstaltungen. Man läuft ja auch, um sich an Grenzen heranzutasten. Und um vielleicht den einen Schritt weiterzukommen, den man eben doch schafft, gerade noch - wenn man weiß, was man tut. Absolut und ausschließlich eigenverantwortlich. Scheitern ist da immer eine Option. Aber wenn man die Signale des Körpers nicht ausblendet, blockiert der Körper in der Regel rechtzeitig. Wenn man gesund ist.

Foto: Thomas Rottenberg

Faszinierend ist aber auch zu beobachten, wie und wie rasch Menschen wieder zu Kräften kommen. Und wie intensiv "harmlose" Genussmittel wirken, wenn man sie quasi am Nulllevel zu sich nimmt. Da ist es wurscht, ob das Cola durch das lange In-der-Sonne-Stehen längst Tee ist ...

Foto: THomas Rottenberg

... oder ob man die picksüße Industrietorte oder geschälte Bananenstücke mit verschwitzt-klebrig-dreckigen Pfoten angreift. So würde man sonst nicht einmal Reifen wechseln. Aber hier und jetzt? Vollkommen egal - was wirkt, das gilt.

Foto: Thomas Rottenberg

Dem Wiederaufbau folgt die Analyse: "Irgendwie zaach", sagte Christoph. Niemand widersprach. Schuld? Immer die anderen. Hier also, eh klar, das Wetter. Wir einigten uns darauf, den Boten zu prügeln. Und fanden in Hans Bürger einen perfekten Verbündeten: Er werde, versprach der ORF-Innenpolitiker, "dafür sorgen, dass diese Prognosen unserer Wetterredaktion personelle Konsequenzen haben".

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Noch einmal: Weder Bürger noch sonst irgendwer wusste zu diesem Zeitpunkt, was wenige Meter weiter etwa zur gleichen Zeit geschah.

Natürlich ist alles, was man über so ein Rennen sagt, dann im Nachhinein egal und banal. Natürlich stellen sich dann Sinn- und Pietätsfragen. Und natürlich mache ich mich angreifbar, wenn ich sage, dass manche Dinge schlicht und einfach passieren. So tragisch sie sind.

Aber es gibt keinen Schuldigen: Weder der Veranstalter (im Bild: Wachau-Organisator Michael Buchleitner) noch sonst ein Verantwortlicher hat etwas falsch gemacht. Wir laufen auf eigene Verantwortung.

Foto: Thomas Rottenberg

Und auch, wenn das im Moment zynisch klingt: Man kann (und muss) aus solchen Ereignissen lernen: dass es Grenzen gibt, die zu kennen und zu respektieren wichtig und richtig ist. Dass man lernen muss, sich selbst im richtigen Augenblick Nein zu sagen, auch wenn man sich ein Jahr auf das Ja vorbereitet und gefreut hat. Und dass es trotzdem ein guter Lauf war. Auch - und gerade - weil er "irgendwie zaach" war. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 16.9.2014)

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