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Dem olympischen Motto "Schneller, höher, stärker" setzt der Ernährungsalltag "Größer, höher, fetter" entgegen.

Foto: REUTERS/Toshiyuki Aizawa

Wien - Rund 380 Millionen Menschen leiden derzeit weltweit an Diabetes (Typ-1- und Typ-2-Diabetes). Die Tendenz ist stark steigend, neue Konzepte sind erforderlich, hieß es am Dienstag bei der Eröffnung des 50. Europäischen Diabetes-Kongresses (EASD; bis 19. September) mit rund 18.000 Teilnehmern in Wien.

"Vor hundert Jahren begann der katastrophale Erste Weltkrieg. Es gab rund 17 Millionen Tote. Im Jahr 2013 waren weltweit rund fünf Millionen Menschenleben durch die Folgen von Diabetes zu beklagen, wobei das Problem epidemisch anwächst", sagte Andrew Boulton, Präsident der Europäischen Gesellschaft für die Erforschung von Diabetes (EASD).

Don't supersize me

Boulton zeigte dazu das Dia des bis dahin größten Fastfood-Restaurants (McDonald's), das in London vor zwei Jahren eröffnet wurde. "Man muss sich vorstellen, dass das auf dem Gelände des Olympischen Parks unmittelbar vor den Spielen erfolgte." "Supersizing"-Fastfood-Konsum mit Extra-Fett- und Extra-Zucker-Kalorien (auch in den Getränken), Übergewicht und immobiler Lebensstil sind laut den wissenschaftlichen Erkenntnissen treibende Faktoren für die wachsende Zahl von Typ-2-Diabetikern (nicht-insulinabhängiger Diabetes).

Medizinisch müssen jedenfalls völlig neue Wege beschritten werden, um die Gefahr zu bremsen. Domenico Accili, aus Italien stammender und an der Columbia University in New York forschender Diabetologe: "Wir haben in den 1980er-Jahren geglaubt, wir könnten den Typ-2-Diabetes durch unser Wissen über die mangelnde Zuckerverwertung und die beobachtete behinderte Produktion und Freisetzung des körpereigenen Insulins knacken. Doch wir wissen heute, dass die Angelegenheit viel komplizierter ist."

Schwere Spätfolgen

Lange Zeit spiegelte sich dieses einfache Schema auch in den Wirkprinzipien der Medikamente, welche zur Behandlung der Zuckerkrankheit, speziell beim nicht-insulinabhängigen Diabetes (ehemals "Altersdiabetes") verwendet werden: Arzneimittel, welche entweder das Ansprechen auf das körpereigene Insulin verbessern oder die Freisetzung des Blutzucker-senkenden Stoffwechselhormons aus den Beta-Zellen in der Bauchspeicheldrüse erhöhen. Im Verlaufe der Typ-2-Zuckerkrankheit kommt es zunächst zu einer Insulinresistenz, dann als Gegenregulation zu einer Erhöhung der Insulinproduktion - und schließlich zum Zusammenbruch der Beta-Zellen.

Einen Teil der Problematik mit den Spätfolgen der Zuckerkrankheit - speziell durch die verstärkte Atherosklerose bedingte Gefäßschäden - konnten in den vergangenen Jahrzehnten einigermaßen unter Kontrolle gebracht werden. Durch eine schärfere Blutzuckereinstellung wurde laut dem Experten die Häufigkeit von Diabetes-bedingten Netzhautschäden (Retinopathie) und andere Komplikationen der kleinen Gefäße (auch: Nierenschäden) gesenkt.

Aber, so Accili: "Noch immer ist die Atherosklerose mit den Schäden an den großen Blutgefäßen (koronare Herzkrankheit, Schlaganfall, Amputationen im Fuß- und Beinbereich; Anm.) die häufigste Todesursache von Diabetikern. Daran sterben 40 Prozent der Zuckerkranken. Die Betroffenen haben für diese Krankheiten ein vierfach höheres Risiko als Nicht-Diabetiker."

Medikamente stammen aus Kardiologie

Um die "makrovaskulären" Komplikationen des Diabetes, die "Verkalkung" von Herzkranzgefäßen, Halsschlagadern oder Beinarterien, bei Diabetikern in den Griff zu bekommen, wird sich auch die Diabetestherapie selbst neu ausrichten müssen, meinte Accili. Neue Prinzipien werden gesucht.

Zwar ist längst bekannt, dass die penible Kontrolle von Bluthochdruck und Cholesterinwerten bei Typ-2-Zuckerkranken ähnlich wichtig wie die Einstellung des Blutzuckerspiegels ist, doch die Wirkprinzipien bzw. Medikamente stammen bei Hypertonie und erhöhten Blutfettwerten alle aus der Kardiologie. Sie beeinflussen die ursächliche Diabetes-Erkrankung nicht direkt.

Accili und sein Team haben in jahrelangen Arbeiten im sogenannten Foxo-1-Gen einen möglichen Ansatzpunkt gefunden. Wird dieser Transkriptionsfaktor, der das Ablesen von Genen reguliert, aktiviert, produziert die Leber vermehrt Glukose. Gleichzeitig wird ein Schalter umgelegt, der wiederum statt der Verwertung des Zuckers dessen Umbau in "böse" Blutfette (LDL-Cholesterin) antreibt. Könnte man hier regulierend eingreifen, wäre man wohl am Ursprung vieler Diabetes-Probleme angelangt: bei der erhöhten Zuckerproduktion und den daraus resultierenden schlechten Blutfettwerten als großes Risiko für die Atherosklerose.

Das Foxo-Gen ist aber auch für die Insulin-produzierenden Beta-Zellen in der Bauchspeicheldrüse wichtig. Accili: "In gesunden Beta-Zellen ist es inaktiviert." Doch eine fehlerhafte Aktivierung könnte eine Mitursache für die bei Typ-2-Diabetikern im späteren Krankheitsstadium beobachtete Verringerung der Insulinproduktion durch die Bauchspeicheldrüse darstellen. "Die Beta-Zellen verlieren das, was sie zu Beta-Zellen macht. Sie sterben nicht ab, sondern stellen die Insulinproduktion ein. Normalerweise produzieren fünf bis zehn Prozent dieser Zellen kein Insulin, bei Typ-2-Diabetikern können es auch 40 Prozent sein." Scheinbar entstehen dabei aus Vorläuferzellen einfach kaum mehr jene Zellen, welche das Stoffwechselhormon herstellen und bei Bedarf ins Blutabgeben sollen.

Neue Ansätze

Abgesehen von Wirksubstanzen, welche an diesem möglichen Ziel für neue Therapien ihren Effekt entfalten könnten, gibt es aber mittlerweile auch radikal neue Ideen: So sollen Zellen im Darm dazu stimuliert werden, Insulin zu produzieren. Accili: "Wir haben aus differenzierten Hautzellen induzierte, pluripotente Stammzellen (iPS) gemacht und daraus Darm-Organoide gezüchtet, welche von menschlichem Darmgewebe nicht zu unterscheiden sind. Darmzellen können Insulin produzieren und in ziemlich physiologischer Art und Weise freisetzen." Brächte man solche Abläufe bei Zuckerkranken in Gang, wäre das eine potenziell revolutionäre Entwicklung.

Bei dem Kongress in Wien werden neben Grundlagenforschung auch hunderte klinische Studien präsentiert. Eine Neuentwicklung sind beispielsweise bestimmte orale Antidiabetika vom Typ der sogenannten GLP-1-Rezeptor-Agonist welche die Insulinfreisetzung nach Mahlzeiten fördern, mit besonders langer Wirkungsdauer. Noch experimentell ist hier der Wirkstoff Dulaglitide (Eli Lilly), der bereits in den USA und in Europa zur Anmeldung eingereicht worden ist. Patienten brauchen das Blutzucker-senkende Arzneimittel nur noch einmal wöchentlich unter die Haut injizieren. (APA/red, derStandard.at, 16. 9. 2014)