Ruth Kaufmann: "Jugend kann aus der Geschichte lernen."

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Das Grazer Mädchen Ruth wuchs in einem Haus mit ihren Eltern, ihrem Bruder und weiteren rund 50 Menschen auf. In jeder der Wohnungen war sie "willkommen und zu Hause. Im ersten Stock war eine russische Familie, da hab ich Teig für die gefüllten Teigtaschen ausgestochen, die haben Jiddisch gesprochen. In einer anderen Wohnung gab es Borschtsch, das hab ich auch geliebt."

Als Kind waren für Ruth Kaufmann die "eintätowierten Zahlen auf den teilweise schon runzligen Unterarmen" genauso "normal" wie die Tatsache, dass ihre Großmutter Dora ihre Wohnung niemals verlassen hatte. "Ich habe nicht darüber nachgedacht, warum."

Das Haus stand neben dem Grundstück der 1938 von den Nazis niedergebrannten Synagoge am Grazer Grieskai. Die Menschen darin waren - einschließlich der Eltern Kaufmanns - Holocaustüberlebende. Mehr als 2000 Juden zählte die Gemeinde vor dem Krieg, nur etwa 50 danach. Erst 2000 wurde die Synagoge wiedererrichtet.

Es wurde nicht geredet

Heute weiß die erfolgreiche Psychotherapeutin vieles, was sie als Kind nicht wusste. Auch durch lange Gespräche mit ihrem Vater, über dessen Leben sie 2013 das Buch "Über.Leben" (Leykam) publizierte. Der ORF drehte basierend auf dem Buch einen Film.

"Ich wurde 1958 in eine Atmosphäre des Traumas hineingeboren", analysiert sie heute, "der Holocaust war anwesend und spürbar, aber es wurde nicht geredet. Ich wurde geliebt, ich war Symbol für das Weiterleben." Dass sie sich als junge Frau für den Beruf einer Therapeutin entschieden hat, sei für sie kein Zufall.

2010 wurde Kaufmann, die viele Jahre Yu-Szammer hieß, bevor sie "aus Verbundenheit und Liebe mit meiner Grazer Familie" ihren Mädchennamen erst kürzlich wieder angenommen hatte, einstimmig zur Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde für die Steiermark, Kärnten und Südburgenland gewählt. Als Frau kein leichter Job. Ob sie alle akzeptierten? Da lacht Kaufmann kurz: "Nein, das war auch innerhalb der Gemeinde nicht unumstritten."

Dabei galt gerade die jüdische Gemeinde von Graz, die Kaufmanns Urururgroßvater 1860 mitaufbaute, immer als liberal - mit engagierten Frauenvereinen. Kaufmanns Urgroßmutter war einer der ersten Grazerinnen überhaupt, die Matura machten.

Auch heute ist es so: "Wenn man orthodox leben will, muss man nach Wien gehen", sagt Kaufmann, deren Gemeinde im Vorjahr mit jener von Wien und Niederösterreich fusionierte. In Graz könne man weder koscher einkaufen, noch gebe es etwa eine Mikwe (ein Becken für rituelle Bäder von Jüdinnen).

"Jüdisch zu sein war für mich normal, bis ich in die Schule kam", sagt Kaufmann. Sie hatte "ein richtiges Trumm von einem Davidstern umgehängt, aus Kupfer, von meinem Vater gemacht". In der Schule "kam das nicht so gut an". Sie war trotzdem stolz - aus Liebe zu den Menschen in ihrem Haus. Nach der Matura ging Kaufmann ein knappes Jahr nach Israel in einen Kibbuz, um zu arbeiten und Hebräisch zu lernen, doch bald kam das Heimweh: "Ich habe bemerkt, es hilft nichts, ich bin Österreicherin, ich liebe dieses Land und bin stolz darauf."

Ehrenamtliche Arbeit an erster Stelle

Sie studierte an der Uni Graz, arbeitete später in Wr. Neustadt und lehrte Psychotherapie im In- und Ausland. Kaufmann war es auch, die vor rund 20 Jahren ein Suchtpräventionsprogramm für das Land Steiermark erarbeitete.

Jetzt sind ihre Söhne (26 und 28) erwachsen. Zurück in Graz, konzentriert sie sich auf ihre ehrenamtliche Arbeit: Am 9. November, dem Gedenktag der Novemberpogrome, wird sie, wie sie dem Standard erzählt, "den Grundstein zum Holocaust- Gedenk-und-Bildungszentrum in Graz" legen. 2015 wird es eröffnet.

Schüler, die jetzt schon regelmäßig Führungen durch die Synagoge machen, sollen hier verstärkt Aufklärung angeboten bekommen. Gerade in Zeiten, da Antisemitismus wieder erstarkt. "Viele in meiner Gemeinde haben Angst, ich werde alles tun, um sie zu beschützen. Ein Teil davon ist Prävention." Die Jugend könne aus der Geschichte der Juden lernen, "wohin ausgrenzende Ideologien, egal ob islamistische oder rechtsradikale, führen können". (Colette M. Schmidt, DER STANDARD, 30.9.2014)