Graz - Mitten ins Binnengewässer des heurigen Festival-Leitthemas I prefer not to ... share! verschifft sich das in Berlin stationierte internationale Künstlerkollektiv andcompany&Co. mit Orpheus in der Oberwelt: Eine Schlepperoper. Ein Stück, das die Angst der Europäer am Krawattl packt, es könnte ihnen an den Kragen gehen, wenn sie sich nicht gegen den Flüchtlings-"Strom" aus dem Süden abschotten.

Denn die Künstlerinnen und Künstler der andcompany gehören zu jenen Europäern, denen der Kragen platzt, wenn sie zusehen müssen, wie Bürokratien und Politiker die Flüchtlinge als lästiges "Problem" vor Europas Küsten ertrinken lassen. Außerdem wächst die Empörung darüber, dass - Stichwort TTIP oder CETA - die Tore für den Handel aufgehen sollen, während sie für Menschen geschlossen werden.

Angesichts dessen wäre wirklich Beunruhigung angesagt: aber nicht über jene, die auf Hilfe in der Not bei uns hoffen, sondern über jene, die Europa mit maximaler Unfähigkeit und grotesker Unmenschlichkeit in den ethischen Kollaps verwalten, die Europas Werte desavouieren, anstatt den politisch wackeligen Kontinent in gemeinsamer, gut organisierter Hilfsbereitschaft gegenüber den Vertriebenen zu einen.

In einem so katastrophalen Umfeld, zu dem das gegenwärtige Eu-ropa gemacht wird, erscheint die "Schlepperoper" der andcompany als deutliches Zeichen der Hoffnung und des Optimismus: Vielleicht ist doch noch ein politisches Umdenken möglich. Und vielleicht werden dadurch auch Menschen wieder mehr wert als Waren. Damit hier die Maßstäbe wieder stimmen.

Europas Wiege im Süden

Dabei könnte helfen, sich daran zu erinnern, dass die europäische Identität im Süden verankert ist. Die Erzählungen von Europa und von Orpheus sind gleichermaßen griechisch. Und die "abendländische" Religion des Christentums (aus der immerhin die Idee der Nächstenliebe kommt, deren heiligste Familie eine Flüchtlingsfamilie ist und deren Heiliger Martin Metapher für das Teilen ist) stammt aus dem Nahen Osten.

Alexander Karschnia, Nicola Nord und Sascha Sulimma sind die andcompany, die mit einigen ihrer Kollaborateure, darunter Irida Baglanea, Sascha Sulimma oder Reinier van Houdt, zum Evros-Fluss im einstigen Thrakien führen. Dort stehen Frontex-Zäune. Dort treiben heute die Leichen von Flüchtlingen, die es nicht geschafft haben. Und dort trieb dem Mythos zufolge einst Orpheus' Kopf in singender Klage. Erinnyen (beziehungsweise Mänaden) hatten den Körper des Helden zerrissen. Angeblich wurde der Mord von Dionysos angezettelt, dem Orpheus ein Dorn im Auge war.

Mit musikalischem Bezug auf Claudio Monteverdis L'Orfeo (1607), der als die erste Oper überhaupt gilt, lässt die andcompany hier Legende und Wirklichkeit ineinanderstürzen. Bei Orpheus in der Oberwelt ist der Titelheld ein erfolgloser Schlepper, und Europa ist der Hades. Die Erinnyen, so das Stück, nisten in unserer Gegenwart: Heute müssten Europäer solche Rachegöttinnen fürchten. Aber nicht, weil sie dem Gott des Weines und des Rausches so fernstehen - sondern weil sie aus dem Benebeltsein nicht herausfinden. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 3.10.2014)