"Man muss dem Klienten Raum geben, seine Geschichte zu erzählen – sonst erzählt die Geschichte ihn", sagt Michael Kurzmann.

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Männergewalt hat viele Gesichter – und sie erzählt immer auch etwas über die Gesellschaft.

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dieStandard.at: Sie arbeiten mit Männern, die körperliche und sexuelle Gewalt ausüben. Kommen die freiwillig zu Ihnen oder werden sie geschickt?

Kurzmann: Beides. Ein Teil der Männer kommt, weil das Gericht oder das Jugendamt sie schickt. Aber es kommen auch vermehrt Männer freiwillig, wenn etwa eine polizeiliche Wegweisung vorliegt, aber keine Verpflichtung zur Therapie. Diese Männer sind nicht selten schockiert darüber, dass sie mit ihrem Gewalthandeln ihre Beziehung oder Familie kaputt machen, den Kontakt zu ihren Kindern gefährden. Dass Männer eigenmotiviert zu uns Kontakt aufnehmen, hat auch damit zu tun, dass wir als Verein für Männer- und Geschlechterthemen Steiermark Trainingsgruppen gegen Partnergewalt anbieten. Häufig ist es auch ein Mix aus innerer Motivation und äußerem Druck: Männer, die wegen Kinderpornografie angezeigt wurden, kommen beispielsweise oft nach dem Schock der Hausdurchsuchung und wollen eine Psychotherapie beginnen.

dieStandard.at: Wenn Gewalttäter oder Kinderporno-Konsumenten freiwillig in Therapie gehen, dürfte eine Einsicht ins eigene problematische Verhalten vorhanden sein. Wie erreichen Sie die anderen Männer?

Kurzmann: Wenn die Männer keine Motivation haben, etwa Termine einzuhalten, wenn sie die Verantwortung für das eigene Delikt abschieben, dann ist die Teilnahme am Programm unmöglich. Mit folgender Zielformulierung lassen sich Männer mit Widerständen aber erreichen: Gemeinsames Ziel ist, dass es zu keiner neuerlichen Gewalthandlung kommt – auch wenn viele Männer zunächst vor allem Konsequenzen vermeiden wollen. Wesentlich für die Teilnahme an der Therapie ist auch, dass wir uns mit Opferschutzeinrichtungen vernetzen dürfen, um auch die Perspektive der gewaltbetroffenen Person einzuholen. Damit wir im Falle eines Therapieabbruchs im Sinne des Opferschutzes alle Beteiligten informieren können.

dieStandard.at: Sie sind ausgebildeter Sozialarbeiter, arbeiten aber auch als Psychoanalytiker. Was bringt Ihnen Freuds Lehre für die Arbeit mit Gewalttätern?

Kurzmann: Das Verbindende von Sozialer Arbeit und Psychoanalyse ist, dass es um erzähltes Leben geht. Der psychoanalytische Zugang bringt eine Tiefendimension in die Sozialarbeit und lässt einen nie vergessen, dass es um Lebensgeschichten geht – trotz der Ökonomisierung der Sozialarbeit. Man muss dem Klienten Raum geben, seine Geschichte zu erzählen, sonst erzählt die Geschichte ihn. Die Erfahrung mit Psychoanalyse hilft mir, zu verstehen, warum sich Menschen auf eine bestimmte Weise verhalten, warum sie immer wieder in alte Muster fallen und straffällig werden, womit sie warum Probleme haben, was ihre Ressourcen sind. Das ist auf der oberflächlichen Ebene nicht so leicht nachzuvollziehen.

dieStandard.at: Sie haben die Ökonomisierung der Sozialarbeit angesprochen. Ein psychoanalytisches Gespräch braucht viel Zeit und die Bereitschaft beider Seiten, sich darauf einzulassen. Ist das im modernen Beratungsalltag überhaupt möglich?

Kurzmann: Zeit ist immer knapp, aber ohne diese Tiefendimension fehlt der Sozialarbeit etwas. Dort sind viele Zugänge ressourcenorientiert. Es wird also auf das geschaut, was der Klient an Stärken mitbringt, wo er sich entwickeln kann. Das ist wichtig, aber nur eine Dimension. Man muss berücksichtigen, was die Leidensgeschichte des Menschen ist, wo seine Konflikte liegen. Wenn ich zu einem Menschen eine Beziehung aufbaue, und darum geht es in der Sozialarbeit zentral, dann kann ich nicht einfach ein Programm drüber stülpen.

dieStandard.at: Welche psychoanalytischen Methoden wenden Sie in Ihrer Arbeit mit den Männern konkret an?

Kurzmann: Ich achte zum Beispiel auf szenische Darstellungen. Ich frage mich: Wenn ich das erste Mal einer Person gegenübertrete, was passiert dann? Welche Szene spielt sich da ab? Wie tritt die Person mit mir in Kontakt, was sind ihre ersten Sätze? Diese Mikrosequenzen können Hinweise auf zentrale Themen im Leben dieser Person geben. Man versteht noch nicht automatisch alles – aber es ist ein Kompass, um den Aspekten des Lebens näher zu kommen.

dieStandard.at: Wie sieht das genau aus?

Kurzmann: Ich bin als Person quasi Werkzeug oder Instrument der psychoanalytischen Methode. Ich stelle mich als Objekt für Übertragung und Gegenübertragung zur Verfügung. Das heißt: Ich gehe davon aus, dass der Klient im Kontakt mit mir zentrale frühere Beziehungsmuster wiederholt. Ich schaue: Was löst dieser Mensch in mir aus? Welche Gefühle habe ich, wenn ich ihm zuhöre? Sagt mir das etwas über die verborgenen Gefühle des Klienten? Oder über die Gefühle seiner frühen Bezugspersonen? Indem ich das berücksichtige, kann ich vielleicht gemeinsam mit dem Klienten aus dieser Wiederholungsschleife heraustreten und anders reagieren als der Klient das bisher kannte. Es sind nicht die Erklärungen oder Deutungen des Analytikers, die die Veränderung bewirken, sondern es ist der emotionale Prozess, der zwischen Analytiker und Klient stattfindet.

dieStandard.at: Ob sich der Analytiker oder die Analytikerin emotional in den Prozess mit dem Klienten einlassen soll, ist umstritten. Viele Vertreter der Zunft plädieren dafür, dass sich der Analytiker neutral verhält, um die Richtung des Prozesses nicht zu beeinflussen.

Kurzmann: Für mich geht es im analytischen Prozess darum, gemeinsam Begriffe für das zu finden, worunter ein Mensch leidet, was er empfindet. Das kann nur im Dialog passieren. Früher galt der Analytiker als unabhängiger, neutraler Beobachter, der darüber entschied, was vom Gesagten verzerrt ist und was Realität. Er hat die Person gewissermaßen von außen gedeutet. An dieser Position des Analytikers hat sich viel verändert. Es kann auch in meinem Leben passieren, dass ich einen Verlust erleide, der mich erschüttert – und es wäre legitim, das als Analytiker zu äußern. Für mich heißt Psychoanalyse des 21. Jahrhunderts, dass man sich involvieren lässt in Lebensgeschichten, um etwas über den Menschen, aber auch über die Gesellschaft zu erfahren. Es gibt genügend Instrumente, um als Analytiker trotzdem den Wald vor lauter Bäumen zu sehen, um den Prozess zu steuern.

dieStandard.at: Männergewalt ist nicht nur ein Problem der davon Betroffenen, sie wirkt auch auf das gesellschaftliche Umfeld und wird von diesem beeinflusst. Lässt sich die gesellschaftliche Ebene von Gewalt durch den psychoanalytischen Zugang erfassen?

Kurzmann: Da bin ich sicher. Was subjektiv bei einem Menschen passiert, hängt immer auch mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zusammen. Die Psychoanalyse bietet gute Ansätze, das zusammenzudenken. Im Gegensatz zu anderen Psychotherapierichtungen ist sie auch eine Kultur- und Sozialtheorie. In Bezug auf Jugendgewalt heißt das etwa, Geschlechterverhältnisse und sozioökonomische Veränderungen einzubeziehen: Der heutige Arbeitsmarkt verlangt Fähigkeiten wie Fachwissen und Verhandlungsgeschick. Dagegen verlieren Körperkraft und aggressive Durchsetzung an Bedeutung. Vor allem junge Männer, denen unsere Gesellschaft kaum Veränderungs- und Aufstiegschancen bietet, verspüren einen Mangel an Anerkennung und Kontrolle über ihr Leben. Das führt zu einer kompensatorischen Suche nach Anerkennung, etwa innerhalb gewaltbereiter Peergroups.

Die Psychoanalyse hat ein emanzipatorisches und gesellschaftskritisches Potenzial, das einem hilft, Dinge einzuordnen und im Kontext zu sehen. Ich beschäftige mich viel mit Geschlechterforschung, mit Gender- und Queerstudies. Die wären ohne Psychoanalyse nicht denkbar. Das geht in der deutschsprachigen Rezeption oft unter, etwa der zentrale Stellenwert von Freuds Theorien im Werk von Judith Butler.

dieStandard.at: Sehen Sie die Psychoanalyse also als klar emanzipatorisch?

Kurzmann: Ich glaube, sie ist nur in ihrer Ambivalenz verstehbar. Ein Teil der Psychoanalyse ist klar emanzipatorisch, aber es gibt auch den anderen Teil: Wo die Analyse im Dienste gesellschaftlicher Konformität stand – und teilweise noch steht. Viele ihrer Vertreterinnen und Vertreter sehen sich als Teil von etwas Subversivem und Emanzipatorischem. Das ist schon richtig. Gleichzeitig ist das Verhältnis der Psychoanalyse zu homosexuellem Begehren auch heute noch schwierig.

Zudem funktionieren wesentliche psychoanalytische Theoreme wie der Ödipuskomplex nur auf Basis einer rigiden Zweiteilung der Menschen in männlich und weiblich. Identitäten dazwischen sind auf dieser Basis nicht denkbar. Das wird nicht von allen ausreichend reflektiert. Dabei wäre es wirklich psychoanalytisch, auf Widersprüche, Ambivalenzen und Brüche zu schauen. Die Ausrichtung auf das Unbekannte und Unbewusste macht schließlich die Psychoanalyse aus – das muss sie auch auf sich selbst anwenden. Ein psychoanalytischer Dogmatismus wäre ein Widerspruch in sich. (Lisa Mayr, dieStandard.at, 9.10.2014)