Messagingdienste wie WhatsApp machen digitalen Stress.

Screenshot: derStandard.at

Eine kleine Umfrage im Freundeskreis ergibt: Jugendliche dürften mehr als 2.000 Nachrichten im Monat über den Messagingdienst WhatsApp versenden und 4.000 Kurzmitteilungen empfangen. Da scheint es kaum verwunderlich, dass Teenager, egal zu welcher Zeit und an welchem Ort, nur noch in Kombination mit einem Smartphone verfügbar sind. Wie sieht der typische Alltag aus? Ein Einblick in die neue emotionale Bindung zwischen jugendlichen Nutzern und ihren Smartphones.

Fast zwei Stunden war ich nicht online. Und das in unserer hochdigitalisierten Welt! Die Internet-freie Zone hinter sich gelassen, schon greift man nach dem Smartphone. Noch bevor sich die Empörung über das erzwungene Offline-sein in mir breit machen kann, mischt sich ein noch viel unangenehmeres Gefühl dazu: Stress. Nicht Stress, um den nächsten Bus noch zu erwischen, sondern Stress, wenn ich an mein iPhone – genauer: meinen WhatsApp-Account – denke.

27 ungelesene Nachrichten

Was war inzwischen passiert? Ein Blick auf das rote Kästchen neben dem App-Symbol bestätigt meine Befürchtung: 27 ungelesene Nachrichten! Unruhig öffne ich die Chats und mache mich daran, jede einzelne Nachricht zu lesen. Zum Glück stammen die 27 Nachrichten "nur" aus sechs verschiedenen Chats:

  • Beschwerden über einen Lehrer in der Klassengruppe,
  • eine Freundin, die mir Fotos von verschiedenen Schuhen geschickt hat und um eine Entscheidungshilfe bittet,
  • eine weitere Freundin, die Unterstützung bei einem Mathebeispiel braucht,
  • ein Trainingskollege, der fragt, ob ich Lust auf eine Partie Tennis hätte und
  • meine Mutter, die wissen möchte, ob ich schon am Heimweg bin.

Schnelles Antworten

Jetzt gilt es keine Zeit zu verlieren und schnell abzuwägen, wer zuerst eine Antwort bekommen soll. Denn sobald jemand sieht, dass ich, obwohl ich online bin, noch nicht geantwortet habe, und noch dazu über eine Stunde … Vibration … Na toll, und schon ist es passiert! "Was los? Nerv ich dich?" – die Freundin, die Hilfe in Mathe benötigt. Schnell tippe ich meine Antwort. "Nein, gar nicht!! Sry …", erkläre ich meine Zeit ohne Netzzugang, "ich seh' mir das bsp an wenn ich zhaus bin, das braucht bissl länger ..." Noch ein paar entschuldigende Smileys dazu und senden. Mal hoffen, dass sie nicht allzu böse ist und sich ignoriert fühlt.
Gut, der erste Chat wäre erledigt. Die Klassengruppe kann ich erst einmal ignorieren. Nur schnell auf den Chat tippen, damit die lästige rote Zahl der ungelesenen Nachrichten verschwindet.

Lange Chats

Schon vibriert das Smartphone wieder. "Haaalloooo?! Ich steh jz schon seit einer std im Geschäft..." Anscheinend hat die Freundin die ganze Zeit auf meine Antwort gewartet. Ich befürchte, dass sich dieser Chat nicht so schnell erledigen lässt. Bestimmt will sie zu jedem paar Schuhe meine persönliche Meinung hören und anschließend noch Unterstützung bei der Auswahl der passenden Tasche dazu – ein Zeitvertreib für die nächsten paar Stunden ist mir garantiert. Schnell tippe ich meinen Kommentar und entschuldige mich dafür, sie solange warten gelassen zu haben.

Telefonieren ist Zeitverschwendung

Erneut eine Vibration. Keine Nachricht, sondern ein Anruf! Doch abheben ist im Moment ausgeschlossen. Das wäre Zeitverschwendung pur! Wenn ich meinem Trainingspartner nicht bald zurückschreibe, fragt er vielleicht noch jemand anderen und ich kann mir meinen Sportnachmittag abschminken.

Stress, Stress, Stress. Kaum zu glauben, dass hinter einem einzigen Dienstprogramm so viel soziale Verantwortung stecken kann, wie hinter diesem dämlichen grünen Hörer, der auf so gut wie jedem Smartphone eines Jugendlichen aufscheint und klassische Dienste wie SMS oder "telefonieren" praktisch komplett abgelöst hat.

Bei SMS: "Alles ok?"

Sollte dann aus unerklärlichen Gründen, doch einmal eine SMS eintrudeln ist das Erstaunen dementsprechend groß. Reaktionen wie "Alles ok? Warum schreibst du normale SMS?" oder "Hast kein Internet?" sind dann gang und gäbe. "Nope, kein Netz" ist in so einem Fall dann tatsächlich die einzige akzeptierte Erklärung, obwohl die Tatsache, über kein Internet zu verfügen, auch stetig an Glaubhaftigkeit verliert.

Es sei denn, dass WhatsApp, aus welchen Gründen auch immer, - böse Lippen behaupten ja, dass dies verzweifelte Versuche Mark Zuckerbergs seien, sein Baby Facebook durch Sabotage von WhatsApp wieder attraktiver zu machen -, plötzlich down ist, also nicht mehr funktioniert. Katastrophe! Der digitale Weltuntergang! Doch selbst dann, scheint es, als würde der Weg über die klassische SMS in Kontakt zu treten um jeden Preis umgangen zu werden. Erst wenn man alle Notschalter aktiviert hat und auch der Messengerdienst Viber "auf das Netzwerk wartet", oder Skype Verbindungsprobleme hat, ist man wohl oder übel gezwungen, und auch berechtigt, eine SMS zu schreiben. Letztendlich zeigt sich die Akzeptanz der "normalen" Textnachricht, wenn man SMSen mit "Spinnt WhatsApp bei dir auch?" empfängt.

"WhatsApp-Stress" - und nun?

Unfassbar, welche Dimensionen diese dauernde Erreichbarkeit angenommen hat. Nur weil man Angst vor dem drohenden Stress nach der "offline-Phase" hat, wichtige Ereignisse zu verpassen oder anderen WhatsApp-Nutzern nur weil man längere Zeit nicht zurückschreibt das Gefühl vermittelt, "unerwünscht" zu sein.

Vergleichbar ist dieser jugendliche "WhatsApp-Stress" wohl am ehesten mit dem Gefühl eines Erwachsenen, der sich nach einer Woche Urlaub die Haare rauft bei dem Gedanken, am ersten Arbeitstag gefühlte 300 ungelesene E-Mails nachlesen zu müssen.

Und genauso fühlen sich Jugendliche, wenn sie ihr Smartphone nicht in Reichweite haben – also quasi auf "online-Urlaub" sind. Ein enormer Druck, wenn man bedenkt, dass mit jeder Minute die zu beantwortenden Nachrichten zu ungeheuren, unüberschaubaren Massen heranwachsen. Die ergriffenen Zwangsmaßnahmen, man könnte sie als eine Art "Anti-Stress-Selbstschutzinitiativen" oder "Stressvermeidungsvorsorgeprogramme" bezeichnen, sind dann für jedermann sichtbar: der "online-Urlaub" wird radikal gekürzt: zwei Minuten offline - mehr kann und darf man sich auch gar nicht erlauben.

Das Resultat: Teenager, die egal wo und wann man sie sieht, mit gesenkten Köpfen, Blick aufs Smartphone und wahnsinnig flinken Fingern durchs Leben gehen - typische Opfer unserer digitalen Welt.

Digitaler Stress stiehlt Zeit

Moment! Opfer unserer digitalen Welt? Nein, denn neue Technologien sind kostbar und nützlich – sofern man sie bewusst und richtig einsetzt. Ich würde uns eher als Opfer von digitalem Stress bezeichnen. Digitaler Stress, der uns vom Aufstehen bis zum Schlafengehen – ja sogar bis auf die Toilette – verfolgt, unsere Zeit stiehlt und freies Denken beziehungsweise freies Leben fast unmöglich macht. (Tina Zeinlinger, derStandard.at, 16.10.2014)