Nick Cave chauffiert wechselnde Fahrgäste aus seiner Lebensgeschichte im schwarzen Jaguar durch Brighton.

Foto: Viennale

Vom Junkie zum Renaissancemenschen: Nick Cave hat eine der erstaunlichsten Geschichten in der Rockmusik der letzten dreißig Jahre geschrieben. Wer hätte gedacht, dass der hagere Sänger einer selbstzerstörerischen Melbourner Punkband der ersten Stunde (The Birthday Party) 2014 auf der Höhe seiner internationalen Anerkennung sein würde: als Schriftsteller, Drehbuchautor, Gelegenheitsschauspieler und natürlich Musiker.

Dieser schillernden Hauptfigur mit Spaß an der Selbstmythologisierung würde man mit einem herkömmlichen Rock-Dokumentarfilm kaum gerecht werden. Die britischen Videokünstler Iain Forsyth und Jane Pollard haben sich daher klugerweise dafür entschieden, Realität und Fiktion nahtlos ineinandergreifen zu lassen.

Die Kamera begleitet Cave bei einer psychoanalytischen Sitzung. Sie besucht mit ihm seinen Mitmusiker Warren Ellis. Sie fährt mit ihm im Jaguar durch seine Heimatstadt Brighton, während auf der Rückbank wie Geister Personen aus seiner Vergangenheit auftauchen (von Blixa Bargeld bis Kylie Minogue), zeigt ihn bei Aufnahmen zum 2013er-Meisterwerk Push the Sky Away.

Letztere Sequenzen entsprechen am ehesten den Erwartungen an einen Dokumentarfilm, da hier einfach in Direct-Cinema-Manier der musikalische Entstehungsprozess beobachtet wurde. Alles andere ist bis zu einem gewissen Grad inszeniert: Der Psychoanalytiker (Darian Leader) etwa ist zwar wirklich ein prominenter Psychoanalytiker, aber mitnichten Caves Therapeut.

Caves Archiv und Arbeitsraum sehen in 20.000 Days on Earth mehr aus, wie Räume aus einem Cave-Roman oder -Songtext als wie echte Arbeitsorte. Und vor allem verschwimmen in der Off-Erzählung des Sängers Realität und Fiktion, Alltag und Traum.

Man kann dem Regiepaar vorwerfen, Caves nicht unbedingt zeitgemäßes Künstlerbild und seine Selbstinszenierungen einfach nur zu verstärken, statt sie zu hinterfragen. Doch damit würde man 20.000 Days on Earth nicht gerecht: Zum einen ist der Australier im Film durchaus fähig zur Selbstironie ("Ich war schon immer ein großtuerischer Bastard"), zum anderen erlaubt der freiere Ansatz, einen wirklich universellen Film zu machen.

Letztlich werfen sie tiefergehende Fragen auf, die übers Beispiel Cave hinausweisen: Was ist Kreativität? Welche transformative Kraft kann eine Live-Performance entwickeln? Am Ende entsteht der Eindruck, nicht nur dem Künstler und der Kunstfigur erstaunlich nahegekommen zu sein, sondern auch der Quelle von Caves überbordender Produktivität. Wohltuende Abwechslung in der Flut durchformatierter Künstlerdokus. (Sven von Reden, DER STANDARD, 17.10.2014)