Karoline Feyertag: "Sarah Kofmann. Eine Biographie", Turia & Kant, Wien 2014, 336 Seiten, Euro 32,-

cover: turia + kant

Sarah Kofman war eine jener großen Intellektuellen, die in Frankreich das Erbe Sartres und Simone de Beauvoirs als "Gewissen der Nation" antraten. Als postmoderne Philosophin war sie lange Zeit eng mit Jacques Derrida befreundet, in dessen Schatten sie allerdings bis heute steht. Wer war Sarah Kofman, und wieso sollte man sie heute wieder lesen?

Kofmans Denken kreist um die nicht eingelösten Versprechen der europäischen Aufklärung. Dabei unterzieht sie Texte klassischer Philosophen wie Platon, Kant und Rousseau einer kritischen Lektüre, die darauf abzielt, hinter den hohen Tönen vernunftgeleiteten Denkens die Abgründe menschlicher Begrenztheit freizulegen. Sie begeistert sich zunächst für den Existenzialismus, wendet sich aber rasch Freuds Psychoanalyse und Nietzsches Philosophie zu. Indem sie Freud als Philosophen ernst nimmt, indem sie Nietzsche als Antiantisemiten und Don Juan von Molière als Katalysator der Frauenemanzipation verteidigt, handelt sie sich Kritik von akademischer und feministischer Seite ein. Dabei geht es ihr darum, die Motivationen bestimmter Denkmuster zu verstehen.

Beginnen eines gemeinsamen Handelns

Die an der Pariser Sorbonne Lehrende lässt sich nicht auf ein Genre festlegen. Ihr Schreiben kann als ein beständiges Ineinanderwirken unterschiedlichster Genres verstanden werden: Philosophisch-analytischer Stil, literarische Prosa, autobiografische Zeugnisse und sogar Traumtexte wechseln einander ab. Sie schreibt über Schriftsteller wie Nerval und Shakespeare, sie schreibt über Film und bildende Kunst - und schließlich schreibt Kofman auch politisch. Verhältnismäßig spät beginnt sich die Tochter eines aus Polen nach Paris emigrierten Rabbiners mit der Massenvernichtung der europäischen Juden auseinanderzusetzen. Als Betroffene widmet sie das Buch Erstickte Worte (1987) ihrem in Auschwitz ermordeten Vater.

Sie selbst überlebte in einem Versteck in Paris. Von dieser Kindheit berichtet sie ohne Pathos im autobiografischen Fragment Rue Ordener, rue Labat. Kurz nach dessen Publikation nimmt sich die Philosophin am 15. Oktober 1994 in Paris das Leben. Vor diesem biografischen Hintergrund entwickelt Kofman Überlegungen zu einem "neuen Humanismus", wobei sie zu ähnlichen Folgerungen wie Hannah Arendt gelangt: Ein "Wir Menschen" , das Beginnen eines gemeinsamen Handelns, bleibt für Kofman auch und trotz Auschwitz möglich. Dieses humanistische "Wir" sei allerdings nur denkbar, wenn "die Fremdheit dessen, was nicht gemeinschaftlich sein kann, die Gemeinschaft" begründet.

Gefährliche Wunschvorstellung

Eine "idyllische Gemeinschaft, die jede Spur von Zwietracht, Differenz und Tod auslöscht", sei eine gefährliche Wunschvorstellung. Gerade das Trennende zwischen den Menschen mache deren Zusammenhalt nötig - ähnlich wie nur die Absurdität der Welt eine Ethik hervorbringen könne. Die wichtigste Rolle bei der Vermittlung zwischen den Menschen kommt der Sprache zu: "Unter den vielen Fähigkeiten des Menschen sind die Fähigkeit zu töten und die Fähigkeit, Wort zu halten (das bedeutet: sprechen und sprechen lassen, aber auch Versprechen machen), die zwei wichtigen Gegenpole. Denn richtig lesen lehren bedeutet, den Menschen beizubringen, Wort zu halten. Indem wir versuchen, Wort zu halten, blockieren wir die Fähigkeit zu töten, das heißt, wir verzögern eine Wiederkehr von Auschwitz. Das ist also meine politische Geste: das Lesen lehren." (Karoline Feyertag, Album, DER STANDARD, 15./16.11.2014)