"Man redet den Frauen ein, dass sie depressiv werden, wenn sie keine Kinder bekommen, weil das in ihrer Natur liege", sagt Sarah Diehl.

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"Die Kleinfamilie ist eine Überforderung von Menschen an sich": Diehls Buch sorgt im deutschsprachigen Raum bereits für hitzige Diskussionen.

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Es gilt als ausgemacht, dass fast jede Frau irgendwann in ihrem Leben den Wunsch nach einem Kind in sich spürt. Tut sie es nicht, macht sie sich verdächtig – der Karrierefixierung, des Egoismus, der Kaltherzigkeit. Spätestens im Alter werde ihr die Einsamkeit das Versäumnis der Mutterschaft schon schmerzhaft zu Bewusstsein bringen, heißt es dann. Doch es gibt immer mehr Frauen, die sich ganz bewusst gegen Nachwuchs entscheiden – weil ihnen das Leben ohne Kinder einfach attraktiver erscheint als das Leben mit Kindern.

Das liegt natürlich auch an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für ein Leben mit Kindern. Aber nicht nur. Die deutsche Autorin Sarah Diehl hat für ihr soeben erschienenes Buch "Die Uhr, die nicht tickt" (derStandard.at rezensierte) mit zahlreichen Frauen gesprochen, die freiwillig kinderlos bleiben. Im Interview erzählt sie, wie die Frauen ihre Entscheidung begründen und wie der psychologische Druck auf kinderlose Frauen heute den sozialen Druck ersetzt hat.

derStandard.at: Wie begründen die Frauen, mit denen Sie gesprochen haben, ihre freiwillige Kinderlosigkeit?

Diehl: Das häufigste Motiv ist die Abneigung gegen die Kleinfamilie. Viele der Frauen haben Angst, dass diese Konstellation ihre Freiräume extrem einschränkt. Sie fürchten, dass sie ihr Leben in der Kleinfamilie nicht mehr so selbstbestimmt weiterführen können wie bisher.

derStandard.at: Die Frauen gehen also nicht davon aus, dass sich Kinder und andere Lebensbereiche wirklich vereinbaren lassen?

Diehl: Genau. Sie sind überzeugt, dass die meiste Familienarbeit an ihnen hängenbleiben wird. Sie machen sich ein sehr klares Bild von den Verhältnissen, in denen sie durch Kinder landen werden. Daneben, dass sie generell mehr Freiräume im Leben haben wollen, ist das zweithäufigste Argument gegen Nachwuchs die Befürchtung, dass Kinder die Beziehung zum Partner zerstören würden, nachdem die Frauen es endlich geschafft haben, diese gleichberechtigt zu gestalten. Die Frauen glauben nicht, dass sich dieser Zustand mit Kindern aufrechterhalten lässt.

derStandard.at: Diese Befürchtung hat durchaus eine reale Grundlage: Selbst in fortschrittlichen Partnerschaften führen Kinder häufig dazu, dass sich wieder traditionelle Rollenmuster durchsetzen.

Diehl: Man muss ganz aktiv dagegen ankämpfen, mit Kindern nicht in die Ordnung von Kinderbetreuerin und Ernährer zurückzufallen. Denn diese Ordnung wird durch die Gesellschaft, die Steuerpolitik und eine Arbeitswelt gefördert, in der Männer meistens mehr verdienen und weniger leicht in Karenz gehen können. Es geht den meisten Frauen übrigens nicht um die Opposition "Karrierefrau" versus Mutter, was ja wieder Zuschreibungen sind. Viele können sich mit dem Bild der kühlen und ehrgeizigen Frau ohne Privatleben, das als Gegenentwurf zur Mutter aufgebaut wird, überhaupt nicht indentifizieren. Sie entscheiden sich gegen Kinder, weil sie gerade nicht so sehr auf Lohnarbeit fixiert leben wollen, um Geld für die Familie zu verdienen. Es geht diesen Frauen vor allem um Freiräume und Unabhängigkeit. Die Kinderlosigkeit steht also für mehreres – für das Hinterfragen von Lohnarbeit, Geschlechterverhältnissen, Familienkonzepten.

derStandard.at: Man unterstellt Kinderlosen gerne, dass sie sich der Verantwortung entziehen wollen. Wie gehen die Frauen in Ihrem Buch mit diesem Vorwurf um?

Diehl: Dieser Vorwurf trifft aus meiner Sicht absolut nicht zu. Die Frauen, die freiwillig kinderlos bleiben, wollen das Leben sogar oft sozial engagiert gestalten. Aber zu ihren eigenen Bedingungen.

derStandard.at: Sehen die Frauen, mit denen Sie gesprochen haben, denn gar keinen gesellschaftlichen Fortschritt in Sachen Gleichstellung?

Diehl: Viele gehen davon aus, dass die Frage der Vereinbarkeit noch genauso virulent ist wie zu Zeiten ihrer Mütter und dass sich seither nicht viel getan hat. Die Frauen wollen nicht so leben wie ihre Mütter. Viele arbeiten sich mit der Entscheidung gegen Kinder an ihrer Herkunftsfamilie und an ihren Müttern ab.

derStandard.at: Sie haben für Ihr Buch mit etwa 30 Frauen unterschiedlicher sozialer Milieus gesprochen. Inwiefern beeinflusst der Sozialstatus der Frauen deren Kinderwunsch?

Diehl: Zuerst habe ich mit Frauen aus meinem Umkreis gesprochen – also mit Kreuzberger Akademikerinnen. (lacht) Mehr hat mich aber fast interessiert, wie freiwillig kinderlose Frauen auf dem Land leben. Die Frauen dort waren um nichts weniger reflektiert oder artikuliert als die Stadtfrauen. Ich führe das darauf zurück, dass Frauen, die sich gegen Kinder entscheiden, sehr viel über dieses Thema nachdenken müssen. Weil die Gesellschaft sie immer wieder damit konfrontiert.

derStandard.at: Müssen sich Frauen heute wirklich noch andauernd rechtfertigen, wenn sie keine Kinder haben?

Diehl: Natürlich werden nicht alle Frauen ohne Kinder permanent darauf angesprochen. Es hat mich aber überrascht, wie wenige Frauen es wirklich schaffen, die Ansprüche von außen zu ignorieren. Der Druck, den Frauen in sich selbst spüren und gegen den sie sich nicht wehren können, ist bemerkenswert. Es gibt ja eine gesamtgesellschaftliche Erzählung über Mutterschaft. Die sagt, dass man eine sinnstiftende Erfahrung im Leben verpasst, wenn man keine Kinder zur Welt bringt. Da wird viel psychologisiert. Man macht diese Frauen glauben, dass sie später einsam und verbittert sein werden. Das glauben die Frauen irgendwann, das arbeitet in ihnen. Und so trauen sie manchmal ihrem abwesenden Kinderwunsch nicht über den Weg.

derStandard.at: Ersetzt dieser psychologische Druck auf Frauen andere Druckmittel, die früher funktioniert haben?

Diehl: Das ist eine meiner Thesen im Buch: dass Frauen in den westlichen Industrienationen ihren sozialen Status heute nicht mehr durch Heirat und Mutterschaft absichern müssen. Sie können freier leben. Also wird der soziale Druck auf Frauen durch andere Druckmittel ersetzt, damit sie Pflege und Kinderbetreuung in der Familie unentgeltlich übernehmen. Etwa aus der Psychologie oder der Biologie. Man redet den Frauen ein, dass sie depressiv werden, wenn sie keine Kinder bekommen, weil das in ihrer Natur liege. Dasselbe passiert bei den Bindungstheorien: Da wird behauptet, dass nur die Mutter wirklich umfassend für das Kind sorgen kann. Man droht den Frauen regelrecht: Wenn du etwas falsch machst oder zu wenig da bist, dann wird das Kind psychologischen Schaden nehmen. Das ist sicher einer der Gründe, warum sich Frauen dem Kinderkriegen entziehen: weil der Druck der absoluten Mutterschaft so groß ist – und die Schuldgefühle, wenn eine Frau es anders macht.

derStandard.at: Hat sich das Mutterbild im Lauf der Zeit wirklich so wenig verändert?

Diehl: Im Kern hat es sich nicht geändert. Das merkt man aber nicht gleich, weil die Symbole weiblicher Selbstbestimmung ins Ideal von der perfekten Mutter integriert wurden. Weibliche Stärke und Selbstbestimmung wurden dabei im dem Sinne umgedeutet, dass die Frau so stark sei, dass sie alles schafft – nämlich Kind, Beruf und Haushalt unter einen Hut zu bekommen. Damit kriegen Frauen den Druck der Leistungsgesellschaft noch heftiger ab als Männer.

derStandard.at: Was würde Frauen entlasten?

Diehl: Es braucht neue Formen des Zusammenlebens abseits der Kleinfamilie, die sehr viele Menschen als Einschränkung empfinden. Dieses Zusammenleben kann Kinder einschließen, das müssen aber nicht die biologisch eigenen sein. Es geht darum, das Individuum zu entlasten. Gesellschaftlich anerkannt und politisch gefördert wird heute aber einzig und allein die Kleinfamilie. Die ist eine Überforderung von Menschen an sich. Sie trägt zur Individualisierung und Vereinzelung der Menschen bei. Für die Frau bedeutet die Kleinfamilie zugleich Über- und Unterforderung: Überforderung durch die Arbeit am Kind, Unterforderung, was die eigene Biografie angeht.

derStandard.at: Dabei ist die bürgerliche Kleinfamilie keineswegs ein familiärer Urzustand ...

Diehl: Die Kleinfamilie gibt es erst seit 200 Jahren – und langsam sollte man sich fragen, ob sie der richtige Weg ist. Die Entscheidung vieler Frauen gegen Kinder weist darauf hin, dass sie es nicht ist. Die Gesellschaft muss sich fragen, warum unsere Vorstellung davon, was "normal" ist, immer mehr Menschen vom Kinderkriegen abhält.

derStandard.at: In Kanada wurde heuer ein Gesetz verabschiedet, das es ermöglicht, dass bis zu vier Personen soziale Eltern eines einzigen Kindes werden. Was halten Sie davon?

Diehl: Ich finde das fantastisch. Hier wird das Soziale vom Biologischen entkoppelt. Das gibt den Frauen Freiraum.

derStandard.at: Sie kritisieren, dass soziale Probleme heute gerne mithilfe der Demografie gelöst werden – dass man also lieber über die Zusammensetzung der Bevölkerung anstatt über Gesellschaft an sich spricht. Was hat es mit dieser Kritik auf sich?

Diehl: Demografie will Menschen dem aktuell existierenden Konzept von Politik anpassen und nicht das Konzept an die Menschen. Die Ideale, die dabei ausgegeben werden, existieren aber teilweise gar nicht mehr. Etwa bei Familien: Da werden Lebensentwürfe zur Norm erklärt, die für einen großen Teil der Bevölkerung nicht mehr funktionieren oder unattraktiv sind. Für die Politik ist es natürlich einfach zu sagen: Wir brauchen mehr Kinder! Denn dann muss sie andere Probleme nicht angehen, etwa Zuwanderung, Integration oder Arbeitsmarktpolitik. Es wird uns nicht helfen, dass wir mehr Kinder haben, wenn die alle auf Hartz IV sind und im Niedriglohnsektor arbeiten. Davon werden die Pensionen auch nicht gerettet. Mehr Kinder alleine lösen kein einziges Problem. Und: Wer Kinder als Allheilmittel für alle sozialen Probleme präsentiert, macht die Frauenbewegung schuldig: Die ist in dieser Logik ja verantwortlich für den Niedergang der Nation. (Lisa Mayr, derStandard.at, 11.12.2014)