Vom spärlich bekleideten Ich hinaus in ein bebendes Europa der Gegensätze: In "Pension Europa" halten sieben Frauen hemmungslos Innenschau und ziehen das Publikum hinein in das theatralische Mahlwerk der Gedanken. Ab Montag im Werk X Eldorado.

Foto: Felix Dietlinger

Wien/Bregenz - Der Realität unter den Rock schauen, ein Fellini-Zitat, das war für den Theaterregisseur Martin Gruber schon immer ein wichtiger Beweggrund für seine Arbeit. In den letzten Jahren hat für ihn und das 1989 gegründete Aktionstheater Ensemble der Zugriff auf das echte Leben aber noch mehr Bedeutung bekommen. Nach dem steilen Start vor 25 Jahren als "experimentierfreudige Avantgardegruppe" mit Klassikern wie Sophokles und Büchner oder zeitgenössischen Autoren wie Gert Jonke oder Andreas Staudinger ist es nunmehr vorwiegend eigens recherchiertes Interviewmaterial, das der Theaterleiter als Grundlage für die Arbeit heranzieht. "Dann sage ich zur Autorin Claudia Tondl: Bitte poetisch verdichten!", so Gruber im STANDARD-Gespräch.

Working Pure (2011) und Werktagsrevolution (2013) basieren auf Gesprächen über Existenzängste, Zukunftsmaschine (2011) lotet Utopien und noch mögliche Lebenskonzepte aus. Und mit Pension Europa, das nach der Uraufführung bei den diesjährigen Bregenzer Festspielen ab heute, Montag, auch in Wien zu sehen ist (im Werk X Eldorado am Petersplatz), halten sieben Frauen hemmungslos Innenschau. Sie ziehen das Publikum hinein in einen Gedankenmahlstrom, der im Allerbanalsten den Kern für die großen Erklärungen sucht; sie bringen - ganz bei sich und höchst privat in Unterwäsche gekleidet - alltägliche Erfahrungen ins Spiel, die vom Ich hinausweisen in ein bebendes Europa.

Verlässliche Familie

Das in Vorarlberg und Wien präsente Aktionstheater Ensemble ist zu einer verlässlichen Theaterfamilie gewachsen, das in offenen Gesprächen nach den schwelenden Themen sucht.

"Entgegen dem postdramatischen Diktum ist mir Authentizität wichtig", so Gruber. Dadurch solle sich die Vielfalt einer Gesellschaft in den Texten widerspiegeln. Denn: "Je mehr wir begreifen, was alles rund um uns da ist, umso besser können wir uns selbst begreifen."

Das Aktionstheater reflektiert die Gegenwart in durchaus kurzfristigen Abständen. Kurzum: Es ist schnell. Anno 2000, dem Jahr der Angelobung der blau-schwarzen Regierung, feierte zunächst die Politfarce Bei den Fischers von Stephan Eibel Erzberg Uraufführung, ein Abgesang auf eine hohle Partei. Noch im gleichen Jahr hatte König Hirsch. Ich Kanzler - ein Märchen zum Regierungsantritt unter Wolfgang Schüssel Premiere. Die Persiflage Wir gründen eine Partei zwölf Jahre später kann man als Enkelkind dieser Politstücke betrachten. Darin setzt die Friseurin Isabella alles daran, mit einer eigenen Partei der Ruhe dem Volk dienen zu wollen.

Wider den Zeitgeist

Das Aktionstheater Ensemble ist alt genug, um sich keinen Moden mehr zu unterwerfen. Martin Grubers Inszenierungen stellen im Verbund mit Künstlern anderer Sparten ganz eigensinnige ästhetische Behauptungen dar, mit Musikern wie Peter Herbert oder bildenden Künstlern wie Tone Fink oder Valerie Lutz, die für König Hirsch etwa berückende Fabelkostüme entworfen hat.

Beweglich zu bleiben, mit der Arbeit von West- nach Ostösterreich und auch ins Ausland hinauszugehen, sich der Großstadt zu stellen, das war Gruber "von Anfang an wichtig". Ähnlich wie das Grazer Theater im Bahnhof sucht auch das Aktionstheater Ensemble eine Publikumsvielfalt und neue Reibungspunkte.

Soeben feierte das jüngste Stück Angry Young Men am Spielboden Dornbirn Uraufführung, ein von fünf Schauspielern getragenes Pendantstück zu Pension Europa, in dem junge Männer von heute ihrer Wut freien Lauf lassen. Im Frühjahr treffen beide Stücke bzw. beide Ensembles dann aufeinander, auch in Wien. Das könnte scharf werden. (Margarete Affenzeller, DER STANDARD, 15.12.2014)