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Tausende Menschen riskieren jeder Jahr lebensgefährliche Überfahrten aus Afrika in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Foto: AP Photo/Italian Coastguard

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In Europa, hier nahe dem französischem Calais, wird die Verheißung für die Flüchtlinge selten Realität.

Foto: EPA/ETIENNE LAURENT

Diese Reportage ist in dem Schweizer Magazin "Reportagen" erschienen. Das Magazin will in andere Realitäten entführen: Sechsmal pro Jahr erzählen darin herausragende Autoren wahre Geschichten aus dieser Welt. Es ist im Buch- und Zeitschriftenhandel, im iTunes-App-Store fürs iPad und im Abo erhältlich. Eine Gratis-Probeausgabe kann unter reportagen.com bestellt werden.

Geh nach Westen, in die Wüste. Nimm Feigen mit, Geld, ein Mobiltelefon. Ruhe dich tagsüber aus. Geh dem Sonnenuntergang entgegen. Geh durch die Nacht. Am dritten oder vierten Tag wirst du auf eine Straße gelangen. Frag da nach dem Weg in die Stadt. Frage und gehe, frage und gehe, bis du Khartum erreichst, im Sudan. Finde jemanden, der dir dein Geld aufbewahrt, jemanden, dem du traust. Die Art Leute, welche Anrufe entgegennehmen. Von hier an wird die Reise schwieriger, kostspieliger. Suche dir deinen Führer sorgfältig aus. Manche sind vertrauenswürdiger als andere. Sie werden dir sagen, es koste vierzehn- oder sechzehnhundert Dollar bis Tripolis. Ein schlechter Führer oder bloßes Pech kostete einige schon das Vielfache. Oder Schlimmeres.

Wir wollten ein besseres Leben, ein freies und normales Leben. In Eritrea wirst du achtzehn Jahre alt, und du gehst in die Armee, du bleibt viele Jahre in der Armee, manche bleiben da für den Rest ihres Lebens. Du schuftest für ein paar Dollar am Tag – auf dem Bau, auf der Farm oder in der Mine. Diejenigen, die sich weigern, landen im Knast. Es gibt keine Wahl. In Europa, so hörten wir, könne man so leben, wie man wolle. Deshalb verließen wir, hundertdreißig Landsleute, Eritrea Richtung Sudan, nach Khartum, weiter in die Sahara und nach Libyen. Das ist die Geschichte, die wir später erzählten, der Polizei, den Journalisten und den Gerichten.

Schwimmwesten gegen einen Aufpreis

Eines Tages kam eine Bande bewaffneter Somalier auf uns zu. Sie zwangen uns, in Transporter einzusteigen, und sie brachten uns in die Stadt Sabha, wo sie uns in einem Haus einschlossen. Sie zwangen uns, stundenlang zu stehen. Sie hängten uns verkehrt herum auf und schlugen uns auf unsere Fußsohlen. Sie hielten Gewehre an unsere Schläfen und schossen auf den Boden. Sie fuhren mit zwei von unseren Frauen in die Wüste, vergewaltigten sie und kamen nur mit einer zurück. Sie schütteten Wasser auf den Boden und versuchten, uns mit elektrisch geladenen Drähten zu quälen. Das Einzige, was sie dabei erreichten, war ein Stromausfall.

Die Somalier wollten ein Lösegeld von 3.300 Dollar pro Kopf. Zwei Wochen später hatten die meisten Familien bezahlt, also fuhren sie uns nach Tripolis. Sie brachten uns zum Schmuggler Ermias. Er hatte dunkle Haut, war ungefähr dreißig Jahre alt und gut genährt. Er nahm jedem von uns 1.600 Dollar ab, um eine Bootsüberfahrt nach Lampedusa zu organisieren, einer italienischen Insel rund eine Tagesreise vor der Küste Libyens liegend. Viele von uns hatten das Meer noch nie zuvor gesehen und konnten nicht schwimmen. Wir fragten, ob wir gegen einen Aufpreis Schwimmwesten erhalten könnten; Ermias lehnte aber ab. Seine Männer sperrten uns in ein Lagerhaus, zusammen mit vielen anderen, wo wir den Rest des Septembers 2013 verbrachten.

Am 2. Oktober, Stunden vor Sonnenaufgang, fuhren sie uns an die Küste und beförderten uns auf ein 20 Meter langes Boot. Sie quetschten mehr als 500 von uns auf die Brücke, aufs Deck und nach unten in die Kabinen. Das Boot gefiel den Schmugglern überhaupt nicht: schwer, tief im Wasser liegend und uralt. Aber sie sagten: "So Gott will, werdet ihr Glück haben." Das Boot legte ab. Wir schickten Frauen und Kinder unter Deck, damit sie es etwas komfortabler haben würden. Manche von uns schrieben sich die Telefonnummer ihrer Familie auf die Kleider. Eine Frau, die in eine überfüllte Kabine gequetscht war, schrieb eine Nummer an die Wand. Die Nummer gehörte einem katholischen Priester, Abba Mussie Zerai – Father Moses. Seine Nummer ist auch in die Wände der libyschen Gefängnisse geritzt. Wir glaubten, er könne ein Rettungsboot mitten auf hoher See aus dem Nichts erscheinen lassen.

Eine niederschmetternd alltägliche Nachricht

Der Kapitän war ein Tunesier, der unsere Sprache nicht verstand. Er fuhr den Kahn durch den Sonnenaufgang. Am 3. Oktober 2013, um drei Uhr morgens, stoppte der Motor plötzlich. Wir waren nah genug, um die Lichter an der Küste sehen zu können. Lampedusa. Wir warteten darauf, dass der Motor wieder anspringen würde. Währenddessen drang Wasser ins Boot ein. Der Kapitän schnappte sich etwas und zerriss es – war es ein Bettlaken, ein Stofffetzen, eine Decke? Er tauchte es in Benzin und zündete es als Notsignal an. Ein paar Leute flippten aus, als sie es brennen sahen, und alle drängten nach vorne. Der Bug des Schiffes senkte sich schließlich unter unserem Gewicht, das Boot kippte und warf uns ins Meer.

Wir sagten: "Lasst es uns versuchen." Die, die konnten, begannen zu schwimmen. Hände wurden ausgestreckt, um uns nach unten zu ziehen. Wir schüttelten sie ab. Durch die Bullaugen konnten wir ins Innere des Bootes sehen. Manche sahen ihre Söhne und Töchter und Frauen und beschlossen, zu ertrinken; manche ertranken, weil sie versuchten, ihre Liebsten zu retten. Manche schrien ihre Namen und die Namen ihrer Heimatdörfer, auf dass die Nachricht ihres Todes die Küste erreichen möge.

Letztes Jahr, am 3. Oktober gegen 9 Uhr morgens, läutete das Handy von Father Mussie Zerai immer wieder. Die Anrufe kamen aus Schweden, Norwegen, Eritrea, Italien, dem Sudan und Lampedusa. Ein libysches Boot stand in Flammen und sank. Mindestens 111 Menschen waren tot, und mehr als 200 wurden vermisst. Eine niederschmetternd alltägliche Nachricht – in den letzten 20 Jahren starben mehr als 20.000 Immigranten auf ihrem Weg nach Europa.

"Natürlich werde ich wütend"

Und es wären noch wesentlich mehr gewesen, gäbe es nicht Zerai, einen 39 Jahre alten Exil-Eritreer, der in Freiburg in der Schweiz lebt. Seine Telefonnummer zirkuliert unter den in Europa festsitzenden Afrikanern wie eine mediterrane Notfallnummer. Schiffe in Seenot rufen Zerai mit einem Satellitentelefon an, und er notiert sich ihre Koordinaten, die er dann an die italienischen Behörden weitergibt, damit diese die Rettung einleiten sollen. Ist keine Rettung möglich, hängt sich Zerai an Italiens Fernsehen und Radio sowie an Massenversender von E-Mails, um diejenigen anzuklagen, die seiner Meinung nach dafür verantwortlich sind. Gemäß der italienischen Küstenwache haben Zerais Anrufe bisher mehr als 5.000 Menschen das Leben gerettet.

Was Zerai am 3. Oktober fassungslos machte, war die Nähe des Bootes zur Küste. Das Ertrinken von Hunderten von Menschen weniger als einen Kilometer vor Lampedusa wirkte wie eine Manifestation des europäischen Lösungsansatzes für die afrikanische Migration – Dichtmachen der Grenzen, kombiniert mit einer erschütternden Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leben. Er erzählte einer italienischen Nachrichtenagentur, die Tode seien "Früchte einer kranken Beziehung zwischen Nord und Süd auf dieser Welt". Taucher der Küstenwache verbrachten die nächste Woche damit, Leichen aus dem Wrack zu bergen. Darunter auch, in 45 Metern Tiefe, ein neugeborenes Baby, mit seiner Nabelschnur noch immer mit der Mutter verbunden, die ertrinkend geboren hatte.

Abba Mussie Zerai wuchs während des langwährenden eritreischen Kampfes um Unabhängigkeit auf. Als er noch sehr jung war, wurde sein Heimatdorf angegriffen. Bombeneinschläge ließen die Wände des Hauses erzittern, seine Großmutter führte ihn und seine Geschwister in einen unterirdischen Bunker, wo sie sich hinknieten und beteten. Später, als ein naher Verwandter starb, stellte sie fest, dass Zerai das einzige Familienmitglied war, das keine Emotionen zeigte. "Und du", fragte sie, "was hast du in deinen Bauch gesteckt, dass du so kalt bist – einen Stein etwa?" Bis zum heutigen Tag behält Zerai sein Innenleben für sich. "Es ist nicht so, dass ich nicht wütend werde", sagt er. "Natürlich werde ich wütend. Aber wenn ich mit den Medien oder mit Politikern verhandeln muss, versuche ich, meine Argumente ruhig vorzubringen."

Auf Zerais monatlicher Telefonrechnung stehen auch gelegentlich Tausenderbeträge. Eine Zeitlang versuchte er, die Tausende von Euro Lösegeld aufzutreiben, die von Anrufern gefordert wurden, bis er einsah, dass er hier Feuer mit Feuer zu bekämpfen versuchte. Im Sommer vor dem Schiffsunglück kam ich in die Schweiz, um Zerai zu treffen. Während ich nur eine einzige Sprache spreche, spricht Zerai vier und eine halbe. Wir schlugen uns in dieser halben Sprache – Englisch – während zweier Tage durch. Am ersten Tag saßen wir auf einem öffentlichen Platz an einem Holztisch. Am zweiten Tag wechselten wir in seine Wohnung, aßen Kekse und tranken Tee, der mit etwas Anis gewürzt war. Ab und zu wurden wir durch Telefonanrufe unterbrochen.

Lamettafunkelnde Heldenbrüste in Trikolore-Schärpen

Nach dem Schiffsunglück vom 3. Oktober rief ich Zerai von New York aus an, und wir trafen Vereinbarungen, uns im sizilischen Agrigento zu treffen, wo die offizielle Trauerfeier für die Toten stattfinden sollte und wo einer der Anlegeplätze mit einer Brigade von 500 leeren Liegestühlen besetzt sein würde. Zerai kam, gekleidet in eine schwarze Soutane und schwarze Wanderschuhe. Sein von grauen Stellen gesprenkelter Bart deckte fast den gesamten Hals ab und kroch seine Wangen hoch.

Am beeindruckendsten sind seine Augen: schwerlidrig und geformt wie die Schalllöcher eines Cellos. Mit seinen bedächtigen Gesten und seinem ernsthaften Auftreten wirkte er wie eine beleibte Version von Haile Selassie. Er führte ein Schar Eritreer an, die gekommen waren, um ihre toten Familienangehörigen zu identifizieren. Eine schwierige Aufgabe, wie sie sagten, denn sie waren regimekritische Eritreer, während regierungsfreundliche Eritreer die Bücher auf den Polizeistationen kontrollierten, in denen die Fotos der Leichen dokumentiert waren.

Die Stühle begannen sich mit kondolierenden Offiziellen zu füllen. Jede Gemeinde in Sizilien schien einen säbeltragenden Lakaien geschickt zu haben, um die jeweilige Fahne hochzuhalten. Ein Meer von Hüten – gefiederte Zweispitze, am Kinn befestigte Pickelhauben, der Kufi eines Imams, der rote Zucchetto eines Kardinals – vermischt mit Hunderten von hochglänzenden Würdenträgern, die ihre lamettafunkelnden Heldenbrüste in Trikolore-Schärpen hüllten. Zuvorderst, um die Opfer zu repräsentieren, waren ein paar große Kränze niedergelegt. Es gab feierliche Worte, Blumen wurden dem Wasser übergeben, und beinahe kam es zu einer Keilerei zwischen trauernden Eritreern und einem Sizilianer, der "Schande! Schande!" rief.

Zerai verabschiedete sich und kehrte zu seinem Hotel zurück, um sein Gepäck einzusammeln und sein Telefon aufzuladen. In zwei Stunden sollte er die Nachtfähre nach Lampedusa nehmen. Ich fragte ihn, ob das Schiffsunglück nachhaltige Konsequenzen zeitigen würde. "Die Politiker, sie reden, reden, reden. Aber …", sagte er und zuckte mit den Schultern, "jedes Jahr dasselbe. Nach ein paar Monaten wird sich niemand mehr daran erinnern. Niemand außer uns – wir erinnern uns ständig." Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn, und er tupfte ihn sich mit einem Taschentuch ab. "Es ist nicht möglich, diese Tragödie als normal zu begreifen", sagte er. "Dies ist kein normaler Unfall."

Auf Twitter gegen regimefreundliche Eritreer

Gemeinsam mit Zerai an Bord der Nachtfähre war Meron Estefanos, eine in Eritrea geborene Schwedin, die als Fürsprecherin für die eritreischen Asylbewerber auftritt. Sie erhielt zahlreiche Anrufe von Eritreern auf dem Sinai, die um Lösegelder in der Höhe von bis zu 40.000 Dollar bettelten, während ihnen ihre Häscher geschmolzenes Plastik über den Rücken laufen ließen. Als Aktivistin ist Estefanos weit mehr exponiert als Zerai, diskutiert an Menschenrechts-Konferenzen zusammen mit Hackern und kämpft auf Twitter gegen regimefreundliche Eritreer.

Am nächsten Morgen mieteten Estefanos und Zerai einen Laster, der sie durch die kleine Hafenstadt Lampedusa fahren sollte, welche mit der warmen, salzigen Luft und den niedrigen, bleichen Häusern an Tunis oder Algier erinnert. Die Straße zum Auffangzentrum führte an einem Hof mit den Überresten von Booten vorbei, zersplitterte Schiffshüllen, an denen arabische Schriftzeichen zu sehen waren. Der Laster hielt an einem rostigen Tor, während in einiger Distanz dahinter eine Gruppe Flüchtlinge in von der Regierung gesponserten Trainingsanzügen herumliefen.

Zerai trug ein blaues, kurzärmliges Hemd mit einem weißen Quadrat in der Mitte des Kragens. Nach einigen Diskussionen erlaubten die das Zentrum bewachenden italienischen Soldaten einigen der Inhaftierten, näher ans Tor zu treten. Estefanos nahm ihr Aufnahmegerät hervor, um einen Eritreer namens Mogos zu interviewen. Er war ungefähr zwanzig Jahre alt und war sechs Tage zuvor in Lampedusa angekommen. Estefanos fragte ihn, warum er sich dem Risiko dieser Reise ausgesetzt habe.

Besser, zu sterben, als ständig im Gefängnis zu sein

"Die Situation in Libyen ist wirklich schlimm", sagte Mogos in Tigrinya, seiner Muttersprache. "Alles, was du tun kannst, ist, aus einem Gefängnis raus und ins nächste rein. Wir dachten, es sei besser, zu sterben, als ständig im Gefängnis zu sein." Den Überlebenden auf Lampedusa war es nicht gestattet worden, die Fähre zur Feier vom Vortag zu nehmen, also hatten sie eine Sitzblockade vor dem Rathaus durchgeführt. Viele traten in einen Hungerstreik, auch Mogos. Seine Worte kamen undeutlich aus ihm raus, und sein schönes Gesicht wirkte schlaff. Es schien, als halte er sich nur mit seinen Fingern aufrecht, die er zwischen die Maschen des Gitters steckte.

Es fehlte ihm die Energie, einen vollständigen Bericht von seiner Tortur abzuliefern – wie die Wachen auf ihn schossen, als er aus dem libyschen Gefängnis flüchtete, wie die Schmuggler ihn an einem Ort festhielten, den sie "mazra’a" nannten, eine verlassene Scheue, wo er wie andere auf ein Boot wartete. In der Mazra’a, so sagte er später, sei es so heiß gewesen, dass niemand Kleider getragen habe. Eines Tages sei die Polizei angekommen, habe sie gezwungen, mit den Gesichtern im Dreck zu liegen, und zu schießen begonnen. "Gott hat uns verschont", sagte Mogos später. "Für sie waren unsere Leben nicht wichtiger als das einer Fliege." Während er am Tor stand, behielt Mogos das meiste dieser Geschichte für sich. "Bitte grüßen Sie Father Mussie von uns", sagte er, ohne zu wissen, dass Zerai nur ein paar Schritte daneben stand. Zerai hörte seinen Namen und wendete sich Mogos zu. "Wir haben bisher noch nichts für dich tun können", sagte er.

Zerai wurde 1975 in Asmara geboren, wo sein Vater als Ingenieur arbeitete. Heute ist Asmara die Hauptstadt Eritreas, damals wurde die Stadt aber von der marxistischen Regierung Äthiopiens besetzt. Als Zerai fünf Jahre alt war, starb seine Mutter im Kindbett. Zwei Jahre später verhaftete die Geheimpolizei Zerais Vater, der sich danach aus dem Gefängnis freikaufen konnte und aus dem Land flüchtete, um schließlich Italien zu erreichen. Zerai und seine sieben Geschwister wurden von seiner Großmutter Kudusan großgezogen, einer robusten Frau, die täglich die katholische Messe besuchte. Er nennt sie "mein erstes Glaubenszeugnis".

"Negro di merda"

Als kleiner Junge suchte Zerai Zuflucht bei der Kirche, wo er Volleyball und Fußball spielte und im Chor mitsang. Samstags nahmen ihn die Mönche mit in den Supermarkt, wo sie Lebensmittel einkauften. Allein, ohne Eltern, merkte er, dass Priester Teil einer größeren Familie sein können, und mit 14 erklärte er seiner Großmutter, dass er Priester werden wolle. Sie fragte den Bischof, welcher Zerai sagte, er solle erst die Erlaubnis seines in Italien lebenden Vaters einholen.

Als Zerai Eritrea in den frühen neunziger Jahren verließ, hatte das Land seine Unabhängigkeit nach 30 Jahren Bürgerkrieg schon fast auf sicher. Isaias Afewerki, der Rebellenführer, der die Kontrolle über die neue eritreische Regierung übernahm, sonnte sich für sechs relativ ruhige Jahre in der Zuversicht des Landes, bevor er vor der Opposition einknickte; er zog gegen Äthiopien in den Krieg und verhängte Zwangsmilitärdienst. Zerais Bruder Biniam erzählte mir, dass Zerai während seines letzten Jahres in Asmara die Zeit mit "big, big people" verbracht habe – Geschäftsleute, Anwälte, Richter. Er war erst 16 Jahre alt, aber "sein Geist war nicht der eines Kindes", sagte mir Binian.

Zerai reiste mit dem Flugzeug und nur einem Koffer nach Rom. Zerais Vater hatte sich unterdessen wieder verheiratet und war keine große Hilfe, als Zerai einzog. Er fand den Weg zu einem britischen Priester, der ohne ein Büro an Roms Zentralbahnhof arbeitete und unbegleiteten Minderjährigen dabei half, einen Asylantrag zu stellen. Mit seiner Hilfe bekam Zerai eine Aufenthaltsbewilligung.

Rom ließ sich nicht mit Asmara vergleichen. Zerai konnte überall hingehen, wo er wollte, ohne befürchten zu müssen, verhaftet zu werden. Die Samstagnächte verbrachte er feiernd mit eritreischen Freunden in Discos an der Via Casilina, der Via Cassia – was auch immer gerade in Mode war. Er wollte "das Leben erfahren" und dachte dabei nicht einmal an die eigensinnigen Jahre eines Franziskus oder Augustinus. Manchmal schnappte Zerai rassistische Bemerkungen im Bus oder an seinem ersten Arbeitsplatz auf, wo er Zeitungen sortierte. Wenn Afrikaner Fehler machten, wurden sie vom Schichtleiter als dumm bezeichnet, als "negro di merda".

Zerai kündigte und fand schließlich Arbeit an einem Früchtestand an der Piazza Vittorio, wo er sein Italienisch beim Geplauder mit Passanten aufpolierte. Er kostete Früchte, die er in Asmara noch nie zuvor gesehen hatte – "Birne 'abate', Apfel 'renetta'", sagte er. "Von Kiwis habe ich noch nicht einmal gehört." Nach der Arbeit arbeitete er freiwillig für den britischen Priester als Übersetzer und als informeller Konsul. Er lernte, wie man die behördlichen Prozesse vorantreiben konnte: Identitätskarten, Aufenthaltsbewilligungen, Gesundheitskarten, Pensionsanträge, Steuerformulare. Die Immigranten hätten dies "auch selbst tun können, aber sie kannten weder Sprache noch Logistik", sagte er mir.

Der Goldring der Großmutter

Vater Giampiero, der Vize-Priester einer der Gemeinden, in denen Zerai arbeitete, erinnert sich an ihn als "sehr ruhig, mit einer starken Empfindsamkeit, einer bemerkenswerten Spiritualität und großer Anteilnahme am Schicksal anderer". Giampiero empfahl ihm, den Scalabrinianern beizutreten, einem Orden, der bekannt dafür ist, den Immigranten zu helfen. Drei Jahre zuvor hatte Zerai am Fernsehen die Seligsprechung des Ordensgründers gesehen, Giovanni Battista Scalabrini, der Loslösung vom Irdischen und Bescheidenheit predigte. Als Zerai in seiner Wohnung saß und von den Werken Scalabrinis vernahm, fühlte er sich "fulminato": vom Blitz erschlagen.

Drei Jahre verbrachte Zerai mit den Scalabrinianern in Piacenza, der Heimatstadt des Ordensgründers. 2003 kam er nach Rom zurück, wo er sieben Jahre lang in einer Scalabrinianischen Mission lebte. Während seiner Abwesenheit hatten sich die Umstände der Immigranten radikal verschlechtert. Viele Afrikaner schliefen in "baraccopoli", Barackenstädten, oder verlassenen Fabriken. Zerais Arbeit mit dem britischen Priester und Giampiero machten ihn glauben, dass die Schwierigkeiten, denen sich Immigranten gegenübersehen, vor allem bürokratischer Natur und durch persönlichen Einsatz überwindbar sind, aber die Probleme waren weit größer.

Er begann, Straßendemonstrationen zu organisieren und bei EU-Offiziellen in Brüssel zu lobbyieren. Er flog nach Eritrea, um seine Großmutter zum letzten Mal zu sehen. Sie gab ihm einen Goldring, welchen er am Ringfinger trägt, und er hinterließ seine Telefonnummer bei Freunden der Familie. Bald schon erhielt er Anrufe von Eritreern aus Libyen, dem Sudan und aus Ägypten. "Sie wurde wohl von einem zum anderen weitergegeben", erinnert er sich, "und innert kurzer Zeit war meine Nummer allen bekannt.

"Eines Tages rief ihn sein Vorgesetzter ins Büro. "Du bist viel zu umtriebig", sagte er. "Pass auf. Du bist nicht der Retter der Welt. Der Retter der Welt ist Jesus Christus." Zerai erinnert sich an diesen Ratschlag, wenn er merkt, dass ihn seine Mission in die totale Erschöpfung führt. "Ich weiß, wo meine Grenzen liegen", sagt er. "Ich sage dann zu mir selbst: 'Moses, du bist nicht der Retter der Welt.' Es ist wichtig, dass man tut, was man tun kann. Aber wenn ich alles tue, was möglich ist und das Resultat ist nicht befriedigend, dann ist es wichtig, mich daran zu erinnern, wer ich eigentlich bin."

Reise in einen gefühllosen Winterschlaf

Nach Einbruch der Dunkelheit stand Zerai auf einem Platz, der vor einer katholischen Kirche in der Dorfmitte lag, plauderte mit einer Gruppe von Eritreern und verteilte seine Telefonnummer, als plötzlich Mogos auftauchte, mit geweiteten und glänzenden Augen. Er schüttelte Zerais Hand, küsste sie und drückte sie an seine Stirn. "Abba Mussie ist ein guter Mann", sagte er. "Jedermann in Libyen hat seine Nummer." Die Vorstellung, dass die Nummer, die er über das Meer getragen hatte, diesem Mann gehörte, der jetzt vor ihm stand, erschien ihm wie ein Wunder. "Nur wegen Abba Mussie bin ich jetzt hier, am Leben!", rief er aus. Es schien fast, als habe ihn die Reise in einen gefühllosen Winterschlaf versetzt und als sei er jetzt daran aufzuwachen.

In einem nahegelegenen Café trafen sich Zerai und Estefanos mit einer Gruppe älterer Überlebender des 3. Oktober, die als Repräsentanten für den Rest agierten. Einer von ihnen, Mesfin Asmelash, war 40 Jahre alt, groß und schlank. Er trug makellose Nike-Turnschuhe, die ihm von einem Verwandten geschickt worden waren, während er im Sudan war. Er zeigte Estefanos eine Liste, handschriftlich in Tigrinya verfasst. Sie war ein Versuch, die Namen der Toten des 3. Oktober aufzuführen, komplett, mit Alter, Nationalitäten und Heimatadressen. Wenn die Namen nicht herausgefunden werden konnten, notierten sie andere Informationen, die zur Identifikation beitragen konnten, beispielsweise die Frisur.

Zerai nahm Asmelash und den Rest der Gruppe mit zum Nachtessen in einem nahen Restaurant. Ich war dabei, verstand aber nicht viel von dem, was gesagt wurde, und ich wollte Estefanos nicht ständig um Übersetzung bitten. Ich versuchte, mich darauf zu beschränken, nur zuzusehen und nichts zu verstehen. Zerai war durch ein Detail abgelenkt, das er während des Tages mehrmals gehört hatte – dass zwei Schiffe vor dem Unglück das Flüchtlingsboot getroffen hätten und weitergefahren seien. Augenzeugen berichteten, dass die Boote der italienischen Küstenwache gehört hätten. Andere waren sich dessen nicht sicher. (Ein Sprecher der Küstenwache dementierte mit Vehemenz jeglichen Kontakt mit dem Boot der Eritreer.)

Am nächsten Morgen stand Zerai vor dem Altar der Kirche in einem weißen, randlosen Hut und einer weißen Robe. Nahe dem Eingang hing ein Gemälde des Apostels Paulus, barfuß und in Ketten, auf einem Stück Holz treibend. Er war als Gefangener auf einem Schiff von Palästina nach Rom, als ein Sturm das Schiff zum Sinken brachte. Er wurde in Malta angespült, wo ihn die Einwohner mit "unüblicher Freundlichkeit" empfingen.

Vor Zerai saßen vielleicht 80 Eritreer, etwa die Hälfte der Überlebenden des 3. Oktober, die er aus dem Flüchtlingslager führte. Alle bis auf einen waren Männer. Zerai erklärte ihnen, wie sie ihre Geschichte den Behörden, die sie vernehmen würden, vorbringen sollten. Es würde nicht reichen, über die Schwierigkeiten im Militär zu sprechen, sie sollten stattdessen konkret sagen, wie ihre Rechte verletzt worden seien. Er sprach auch über spirituelle Angelegenheiten. Diejenigen, die das sinkende Schiff überlebt hätten, seien jetzt wiedergeboren. Sie sollten sich genau überlegen, was sie nun mit ihren neuen Leben anstellen wollten, sollten nicht zu sehr in Vergangenem grübeln.

"Kurz offen / Dann geschlossen"

Draußen, auf den Treppen der Kirche, saß ein Mann allein da, ein Tuch um den Kopf geschlungen wie ein Schal. Seine Partnerin war es, die ertrunken war, während sie ihr Kind gebar. Ihr Name war Yohanna, was auf Tigrinya "Glückwünsche" bedeutet, zu Ehren von Eritreas Unabhängigkeit. Später verbreitete sich ein Gedicht in der eritreischen Online-Diaspora, in dem das Kind betrauert wird: "Seine Mutter kämpft matt darum, an der Oberfläche zu treiben / Ein Junge ward geboren / Niemand sah seine Augen / Kurz offen / Dann geschlossen."

Zerai verbrachte den Rest des Tages damit, "kleine, praktische Hilfeleistungen" auszugeben, wie er das nannte. Hilfeleistungen in Form von Handys und SIM-Karten. Nach italienischem Antiterror-Gesetz ist es den Flüchtlingen nicht erlaubt, ohne Pass SIM-Karten zu kaufen. Ebenso wenig konnten sie Geld wechseln oder telefonische Geldanweisungen ihrer Familie erhalten. Zerai brachte Journalisten und Touristen mit gültigen Pässen dazu, in seinem Namen SIM-Karten zu kaufen, um sie dann an einen Kreis eritreischer Flüchtlinge weiterzugeben. Zerai zeigte den Flüchtlingen, wie man die Telefone einschaltet und wie man die SIM-Karte aktiviert. Einem nach dem anderen tippte er seine Nummer ins Telefonbuch. "Wir tun alles, was heute möglich ist", sagte er. "Morgen …" Er sagt "morgen" mit einem Schulterzucken, als ob es ihn nichts anginge.

In Tripolis, an der Wand des katholischen Vikariats, haben die Nonnen einen offenen Brief von Vater Zerai angeklebt. "Lass dich nicht von den Menschenschmugglern täuschen", steht darauf. "Sie sind nur an deinem Geld interessiert und kümmern sich nicht um dein Leben." Was die Schlepper anbelangt, äußert Zerai seine Missbilligung mit Worten aus der Bibel: "Spiele nicht mit den Leben deiner Brüder und Schwestern, verkaufe deine Seele nicht dem Teufel … Denn wenn der Jüngste Tag angebrochen ist, musst du dich vor Gott rechtfertigen. Wehe euch, ihr Kainiten unserer Tage; wehe dir, Judas …, dass du deine Brüder für dreißig Silberlinge an die Libyer verkauft hast."

Der Sport, Immigranten zu jagen

Die lange Grenze Libyens und die schwache Regierung machen das Land zu einem Paradies für Schlepper. Vier der sechs Nachbarn Libyens steckten kürzlich noch in Kriegen oder Revolutionen. Weil Asylsuchende ohne Papiere keine Möglichkeit haben, legal nach Europa einzureisen, können Schlepper das Fünffache einer Flugreise verlangen. Vor der Revolution hielt das Ghadhafi-Regime die Schlepper mit regelmäßigen Kontrollen der Küste in Schach, und Flüchtlingsboote, die es nicht nach Italien schafften, durften an der Küste landen. 2008 unterzeichnete Italien mit Libyen ein Abkommen, in dem es sich verpflichtete, während der nächsten zwanzig Jahre fünf Milliarden Euro ins Land zu investieren. Im Frühjahr 2011 begann das Ghadhafi-Regime zu bröckeln, Italien stellte sich an die Seite der Nato und hinter die Revolutionäre. Ghadhafi antwortete darauf, indem er seine Grenzen öffnete.

Von diesem März an klingelte Zerais Telefon mehr oder weniger ununterbrochen für sieben Monate. "Es war unmöglich, sich auch nur eine Sekunde freizunehmen", erinnert er sich. Unzählige Schiffe setzten über das Mittelmeer, darauf Ägypter, Tunesier und alle dunkelhäutigen Fremden, die verdächtigt wurden, Teil des ausländischen Söldnerheeres in Ghadhafis Diensten zu sein. Ein entsetzter Anrufer erzählte Zerai, dass sich die Rebellen in Misrata einen Sport daraus machten, Immigranten zu jagen. Ein paar Tage vor der Revolution arrangierte Zerai die Evakuation von 110 Eritreern per Flugzeug nach Italien.

Zerai lebte im Päpstlichen Äthiopischen Kolleg, wo er seine Doktorarbeit schrieb. Das Thema war die Verbindung von Menschenrechten mit der kirchlichen Doktrin. Er hatte einen Raum zum Schlafen und Arbeiten. Wie in seinem Quartier in Freiburg hatte das Zimmer eine komfortable Strenge: Bett, Schreibtisch, Fenster, Einbauküche. Sein Mobiltelefon hatte zwei SIM-Karten, und er ließ es üblicherweise auch nachtsüber an.

Am Morgen des 27. März, als Nato-Jets Ghadhafis Kampfeinheiten bombardierten, erwachte Zerai und bemerkte, dass er einen Anruf von einem Satellitentelefon verschlafen hatte. Er rief zurück, und ein Mann namens Ghirma meldete sich auf Tigrinya. Er sagte Zerai, er befinde sich auf einem neun Meter langen Schlauchboot zusammen mit 71 anderen Menschen. Es gebe kaum mehr Nahrung oder Wasser. Der Motor könne die Ladung nicht bewältigen, auch das Benzin sei alle. Durchs Telefon konnte Zerai die Wellen schwappen hören.

Beten und Gartenarbeiten

Zerai versprach Ghirma, dass er ihm helfen werde, dass die Rettung aber noch eine Weile dauern würde; Ghirma müsse geduldig sein. "Ich versuchte, ihnen etwas Hoffnung zu geben", erinnert er sich. Er rief das Seerettungszentrum in Rom an, wo man mithilfe der Telefongesellschaft die Koordinaten des Bootes herausfand. Weniger als eine Stunde später übermittelte das Seerettungszentrum einen Notruf an das Nato-Hauptquartier und alle Schiffe in der Region. Ghirmas Boot war auf halbem Weg zwischen Lampedusa und Libyen, in der Nähe von ungefähr 20 Nato-Schiffen. Als er von Zerai an diesem Nachmittag ein zweites Mal angerufen wurde, war noch keine Rettung gekommen. Ein paar Stunden später nahm niemand den Anruf entgegen. Zerai vermutete, die Batterien des Telefons seien am Ende.

Zerai insistierte bei seinen Kontakten beim Seerettungszentrum und bei der Nato, um Neuigkeiten über Ghirmas Boot zu erfahren. Man sagte ihm, die Koordinaten würden dem Dienstweg entsprechend weitergeleitet und es gbe nur wenig, was man noch tun könne. Zerais Telefon klingelte währenddessen ununterbrochen; Verwandte der Passagiere von Ghirmas Boot riefen ständig an. "Manche weinten", sagt er. "Manche waren in schlimmer Verfassung." Er konnte Ghirmas Boot einfach nicht vergessen. Er versuchte, sich mit Beten und Gartenarbeiten zu beruhigen, kehrte dann in sein Zimmer zurück und weinte.

Fünfzehn Tage später erfuhr Zerai, was passiert war. Einer von Ghirmas Mitpassagieren, Dan, kontaktierte ihn und sagte ihm, das Boot sei in einen Sturm gedriftet. Als sie von der Strömung südwärts getrieben worden seien, wieder zurück Richtung Libyen, hätten die Passagiere ums Überleben gekämpft, sich von Meerwasser ernährt und Urin mit Zahnpasta vermischt. Bald seien jeden Tag fünf oder sechs Menschen an Hunger, Durst und Entkräftung gestorben.

Dan erzählte Zerai, dass sich das Militär dreimal dem Boot genähert habe, als es auf hoher See trieb. Erst sei ein Helikopter gekommen. Die Passagiere hätten das Wort "Army" auf dem Helikopter erkennen können, aber sie hätten nicht gewusst, zu welchem Land der Helikopter gehöre. Er sei herumgekreist, schien Fotos zu schießen und sei wieder abgezogen. Der Kapitän des Bootes, glaubend, die Rettung stehe unmittelbar bevor, habe Kompass und Satellitentelefon ins Meer geschmissen, damit die Behörden nicht meinten, er sei ein Schmuggler. Stunden später sei der Helikopter zurückgekommen und habe ein paar Pakete Kekse und acht Wasserflaschen an einem Seil heruntergelassen. Tage später, nach der Durchquerung des Sturms, sei ihnen ein Militärschiff begegnet. Sie hätten Leichen hochgehalten, um ihre Notlage zu zeigen. Das Schiff sei bis auf 15 Meter auf sie zugekommen, habe ein paar Fotos geschossen und sei wieder abgezogen.

"Wäre es ein Schiff voller Tiere, würdet ihr helfen"

Später interviewten italienische und Schweizer Wissenschafter fünf der acht Überlebenden, welche Dans Bericht bestätigten. Zerai wird immer noch wütend, wenn er darüber spricht. "Ich will wissen, wer dafür verantwortlich ist", sagt er. "Ich will denen ins Gesicht schauen, die Menschen auf hoher See sterben lassen. Ich will sie fragen: 'Warum? Warum tut ihr das? Warum helft ihr ihnen nicht?' Ich will ihnen sagen: 'Was ihr hier im Mittelmeer seht, das sind Menschen wie ihr. Nicht Container. Nicht irgendetwas Lebloses. Wäre es ein Schiff voller Tiere, würdet ihr helfen.'"

Zerai fädelte ein, dass sich die Überlebenden mit der katholischen Kirche in Tripolis treffen können. Eine Untersuchung des Europarates konnte nicht abschließend klären, warum die Nato nicht interveniert hat, es wurde aber bemerkt, dass das Boot von einem französischen Flugzeug entdeckt und fotografiert wurde, kurz bevor Ghirma Father Zerai erreichen konnte. Trotzdem behauptete die Nato, dass "keine Aufzeichnung existiert, die belegt, dass ein Flugzeug oder Schiff unter Nato-Kommando das fragliche Boot gesehen hat oder Kontakt mit ihm aufnahm". Die Überlebenden haben mittlerweile in vier europäischen Ländern Klage erhoben.

Von Lampedusa aus reiste Zerai in den Vatikan, wo er am 25. Oktober um sieben Uhr morgens erwachte, zum Frühstück Brot und Ziegenmilch zu sich nahm und betete. Dann ging er zum Petersplatz und rief ein Taxi. Er hatte einen langen Tag voller Sitzungen vor sich. Zerais Telefon klingelte, es war eine italienische Nummer. "Buongiorno", sagte er, um darauf auf Tigrinya zu wechseln. Er riet dem Anrufer, nicht nach Verona zu gehen, sondern eine bestimmte Person in Mailand zu suchen. "Lass uns darüber sprechen, sobald du es hierhin geschafft hast, und wir werden versuchen, dich auf irgendeinem Weg in die Schweiz zu bringen", sprach er ins Telefon. "Sei vorsichtig und pass auf dich auf, okay?"

Ist Italien ein rassistisches Land?

Als Erstes traf sich Zerai in Rom mit dem Vorsteher der Abteilung Sub-Sahara des Außenministeriums, einem pharaonischen Mann um die sechzig, einer gepflegten Erscheinung im Zweireiher, dessen Jacke zugeknöpft blieb, während er sich hinsetzte, seine Arme verschränkte und ein vage aufmerksames Gesicht aufsetzte. Zerai und zwei andere Eritreer versuchten, ihn dazu zu bringen, ihnen bei der Repatriierung der Leichen vom 3. Oktober nach Eritrea zu helfen. Ohne großen Erfolg. Vom Außenministerium ging Zerai mit dem Taxi zum Obelisken an der Piazza di Montecitorio, wo mehrere hundert Eritreer aus Großbritannien, Deutschland und der Schweiz gegen die Immigrationspolitik der EU protestierten.

Zwei orthodoxe eritreische Priester beteten über zwei Särgen aus Pappmaché – auf dem größeren war die Anzahl der Toten vom 3. Oktober geschrieben, während der kleinere das tote Neugeborene repräsentierte. Nachdem er kurz für ein weiteres Gespräch verschwunden war, diesmal mit einem Kabinettsminister, führte Zerai den Protest vom Pantheon zum Teatro Valle, wo er eine Rede in Italienisch und Tigrinya hielt. Er forderte eine Untersuchung über die Vorwürfe, die Küstenwache sei Minuten vor dem Sinken des Bootes auf dieses zugefahren. "360 Menschen hätten gerettet werden können, wenn sie ihre Pflicht erfüllt hätten", sagt er. "Jemand muss dafür die Verantwortung übernehmen.

"Um drei Uhr nachmittags war Zerai live auf Sky TV. "Ist Italien ein rassistisches Land?", fragte die Moderatorin. "Es gibt hier Rassismus, aber nicht ganz Italien ist rassistisch", antwortete Zerai. Tatsächlich war am 3. Oktober der erste Retter vor Ort Vito Fiorino, ein Einwohner Lampedusas, der zufällig auf dem Meer zum Fischen war. Er und seine Freunde zogen vierzig Überlebende aus dem Wasser. Er hatte ihre Schreie erst für die von Seemöven gehalten.

Zwischen Worten und Taten liegt ein Meer

Während Zerai am Fernsehen war, kamen europäische Oberhäupter in Brüssel zusammen. Die EU versprach mehr Infrastruktur – Schiffe, Flugzeuge, Überwachungsgerät. Die Moderatorin von Sky TV fragte Zerai, was er denn von der italienischen Regierung genau erwarte. Zerai machte darauf zwei Vorschläge. Europa sollte erstens einen "humanitären Korridor" öffnen – normalerweise werden diese eingerichtet, um Zivilisten aus Kriegsgebieten zu evakuieren –, um Asylsuchenden eine Alternative zu den Schlepperbooten zu geben. Neuankömmlinge würden zweitens einen "würdigen Empfang" brauchen, was auch "ökonomische Optionen" mit einschließe. Dann sagte Zerai, man müsse "nach radikalen Lösungen suchen".

Er schlug vor, dass die europäischen Länder ermöglichten, dass Flüchtlinge ihre Asylanträge direkt in ihren Botschaften in Libyen und im Sudan stellen können. Die Moderatorin unterbrach Zerai mit einer Meldung aus Brüssel. Es würden keine unmittelbaren Maßnahmen eingeleitet werden, sagte sie. Weitere Gespräche im Dezember und Juni seien geplant. "Tra il dire e il fare c’è di mezzo il mare", bemerkte sie: Zwischen Worten und Taten liegt ein Meer.

Nach einem weiteren Treffen in der Abgeordnetenkammer, welches mit Ermutigungen, guten Ratschlägen, aber keinen konkreten Lösungen endete, traf sich Zerai mit einem alten Freund in einem nahen Café. Sie nippten an ihren Weingläsern, und Zerai machte hier seinen angestauten Frustrationen Luft. Noch immer war er verstört, wenn er daran dachte, dass das Boot von Schiffen der italienischen Küstenwache entdeckt worden war. "Sie waren weiß gestrichen, mit roten Streifen rundherum", sagte er. Am erschütterndsten war für ihn, dass sich in Rom nur wenige dafür interessierten.

Letzter Kaiser Äthiopiens

Gegen Ende des Tages wurde Zerai von einem Diakon mit dem Minivan abgeholt und zurück zum Äthiopischen Kolleg gebracht, bevor der Diakon zum Pizzaholen geschickt wurde. Zerai saß an einem Eichentisch. Er wirkte müde und ungeduldig. Am nächsten Tag wurde er für die Messe in der Schweiz erwartet. Hinter ihm, in einer Glasvitrine, war eine äthiopische Bibel ausgestellt. Ihr Umschlag war mit einem goldenen Kreuz verziert. Davor war ein laminierter Computerausdruck hingeklebt:

Geschenk von Seiner Königlichen Hoheit
Halie Selassie I.
Letzter Kaiser Äthiopiens.

Selassie behauptete, von König David abzustammen. Als er 1966 Jamaica besuchte, erwarteten ihn bereits Tausende am Flughafen und jubelten ihm als dem Messias zu. Obwohl Zerai die imperialen Ambitionen Selassies nicht teilt, ist er ebenfalls der Hoffnungsträger einer riesigen Anzahl verzweifelter Menschen. Ich fragte ihn, wie er es mit dem Stolz halte. "Für mich ist das alles ein Gottesdienst", sagte er. "Ich habe diese Art … Wie hast du es genannt? Stolz. Nein. Ich bin ein Priester. Ich bin der Seelsorger von Menschen. Auch wenn die Leute meine Hand küssen, dann küssen sie nicht mich. Sie küssen Jesus Christus. Nicht mich." Zerai entschuldigte sich, er müsse jetzt einen frühen Flug in die Schweiz buchen. Er schlief in dieser Nacht ein paar Stunden, ein paar weitere im Flugzeug und erschien pünktlich zur Messe.

Beinahe ein Jahr verging, bis ich Zerai wieder traf. Auf dem Mittelmeer hatte sich währenddessen nur wenig verändert. Noch immer kamen die Schiffe an, noch immer stapelten sich die Leichen. Bei einem Unglück starben mehr als 500 Menschen, darunter Syrer, Ägypter und Palästinenser, welche von den Schleppern absichtlich ersäuft worden waren, nachdem sie sich geweigert hatten, mitten auf hoher See in ein noch kleineres Boot umzusteigen.

Sie wollen Freiheit

Es war Sonntag, und Zerai reiste mit dem Zug von Zürich nach St. Gallen, um die Messe für eritreische Migranten zu lesen. Wie vor einem Jahr wurde sein Terminkalender von der Doppelrolle als Pastor und als Aktivist zerrissen. Trotzdem wirkte er nicht übermäßig belastet. "Für mich ist das alles ein Gottesdienst", sagte er. Er nannte die Schweiz scherzhaft "sweet land", und als ich aus dem Zugfenster die idyllische Landschaft mit ihren kleinen Bauernhöfen und den alten, kupfernen Kirchtürmen sah, war es für mich auch einfach, zu erkennen, wie er darauf kam. Die größten Herausforderungen für Eritreer seien die Sprache und die Arbeitslosigkeit, eine Situation die "psychologisch nicht gut" sei, wie er sagte, auch wenn die Schweizer Regierung großzügige Unterstützung leiste. In Libyen herrsche "Chaos, totales Chaos", meinte er. Er erzählte mir von seinen Plänen, am 1. Oktober nach Lampedusa zurückzukehren und fünf Tage dazubleiben, pünktlich zum Jahrestag des Schiffsunglücks.

Im Zug sprach Zerai davon, dass die EU viel drastischere Maßnahmen treffen müsste. "Die Lösung besteht darin, die Situation in den Herkunftsländern radikal zu ändern", sagte er. "Insbesondere heute, wo die jungen Leute via Internet die Möglichkeiten in anderen Ländern sehen können. Wir sind nicht im Mittelalter. Sie wollen Freiheit. Sie wollen studieren und ein gutes Leben führen können. Wenn sie diese Möglichkeiten in ihrem Heimatland nicht finden, suchen sie sie eben an einem anderen Ort." Er wiederholte ein paar mir bekannte Phrasen und lachte, als ich mein Notizbuch hervornahm, das er damals, während unserer Reise nach Lampedusa, oft zu sehen bekommen hatte. "Ah, das wieder."

In St. Gallen nahmen wir den Bus zur Messe. Zerai verschwand durch eine Tür hinter dem Altar und zog sich um; eine Robe mit rotgoldenem Honigwaben-Muster. Ungefähr 50 Eritreer kamen zum Gottesdienst, fast alle von ihnen Flüchtlinge. Die Messe war anders, als ich es kannte, vor allem mit viel mehr Weihrauch. Die Predigt, in Tigrinya gehalten, wirkte auf mich völlig improvisiert. Zerai gestikulierte mit dem Kreuz in seiner rechten Hand, die Augen starr auf die Wand gerichtet. "Wenn wir keinen Frieden unter uns selbst finden, dann wird es keinen Frieden in unserer Umgebung geben. Was uns umgibt, wird immer von uns beeinflusst werden." Er erzählte die Geschichte von Lots Weib, das sich in eine Salzsäule verwandelt hatte. "Sie schaute zurück auf das Leben, das sie geführt hatte … auch als Gott Lot befahl, alles zurückzulassen." Es war die Sehnsucht nach ihrem alten Leben, das Leben in materiellem Wohlstand, so sagte er. Schweiß tropfte von seiner Stirn und seinen Backen.

Der Punkt, an dem man zusammenbricht

Zerais Verpflichtungen werden immer die Anzahl Stunden überschreiten, die ihm zur Verfügung stehen. Seine größte Herausforderung ist es, so viele dieser Verpflichtungen wie möglich zu erfüllen und die anderen abzuwehren. Der Schlüssel liegt darin, den eigenen Punkt zu kennen, an dem man zusammenbricht. Am Zürcher Bahnhof stellte ich ihn meiner Frau Eva vor. Sie hatte sich am Tag zuvor den Knöchel verknackst und ging an Krücken. Wir nahmen zu dritt ein Tram in ein nahes Quartier, wo die Tochter einer Cousine von Zerai krank im Spital lag. Er lud uns ein, sie mit ihm zusammen zu besuchen. Später dann, am Abend, würde er den Zug zurück nach Aarau nehmen. An der Tramhaltestelle traf er einen Verwandten, und die beiden marschierten flott den Hügel hoch Richtung Spital.

Eva, die hinterherhumpelte, meinte, sie würde im Park auf uns warten. Im Spital spielte die kranke Tochter an einem Brunnen. Keiner der Ärzte wusste, was ihr genau fehlte. Weitere Untersuchungen waren geplant. Ich saß beim Brunnen und plauderte mit der Familie. Ich fühlte mich müde, wahrscheinlich vom langen Warten während der Messe. Zerais Cousine schenkte mir ein Glas Wasser ein. Ich schoss ein paar Fotos und merkte, wie ich darauf wartete, dass irgendetwas passieren würde. Zerai berührte meine Schulter und empfahl mir, den Hügel runterzugehen und nach meiner Frau zu schauen. Er sagte das in einer so liebenswürdigen Weise, dass ich keine andere Wahl hatte, als zu gehorchen. (Mattathias Schwartz, aus dem Englischen von Claude Fankhauser, derStandard.at, 15.12.2014)