Am 26. Dezember 2004 um 7.58 Uhr bebt vor der Küste der indonesischen Insel Sumatra die Erde acht Minuten lang. Die Erdkruste reißt auf 1000 Kilometer Länge auf. Der gigantische Riss löst eine gewaltige Welle aus.

Der Tsunami 2004 erfasst die Küstengebiete von Sumatra, Sri Lanka, Thailand, Indien, den Malediven, Burma und Malaysia völlig unvorbereitet. Rund 250.000 Menschen sterben, darunter auch 86 aus Österreich. Die genaue Zahl ist bis heute unklar.

Zehn Jahre nach dem Tsunami erzählen uns Menschen, wie sie die Katastrophe durchlebt haben und wie diese ihr Leben verändert hat. Manche, wie Max Schachinger, haben vor Ort in Thailand überlebt, andere, wie Sana Brauner, konnten sich retten, haben aber nahe Angehörige verloren.


"Völlig alleine gelassen mit diesem Irrsinn"

Es war ein Zufall, dass sie nicht dabei war. Sie hat keinen Urlaub bekommen. Romana Bartl verlor auf Khao Lak (Thailand) ihren besten Freund Peter.

Romana Bartl: Protokoll einer Erinnerung.
Fotos: Heribert Corn, Produktion: Maria von Usslar



"Kann ich mir sein Gesicht noch vorstellen?"

Astrid Becker war genau ein Jahr davor mit auf Khao Lak (Thailand). 2004 fuhr sie statt nach Thailand auf eine Skihütte – und verlor ihren besten Freund Attila.

Astrid Becker: Protokoll einer Erinnerung.
Fotos: Heribert Corn, Produktion: Maria von Usslar



"Auf wen warte ich eigentlich?"

Der Unternehmer Max Schachinger ist am 25. Dezember 2004 im Golden Buddha Beach Resort auf Ko Phra Thong (Thailand) angekommen. Gemeinsam mit zwei Freunden hat er eine Hütte bezogen, nur wenige Meter hinter dem Strand, seine beiden Freunde oben, er unten.

In der Früh hörte ich einen Donner, als wäre ein Flugzeug explodiert. "Max, da war eine Riesenwelle!", riefen die Freunde. Ich bin raus, und da standen eine Menge Leute, die warteten und schauten. Interessant, das Wasser geht zurück. Wir sind in das trockene Meer spaziert, waren viele Minuten da draußen. Die Thais sind am Strand geblieben, manche auf Bäume geklettert. Dann haben wir Schreie gehört, die Leute haben aufs Meer gedeutet. Weit draußen eine große Welle. Wow, dachte ich, die ist schnell. Dann bin ich gelaufen.

"Bäume, Hütten, Palmen: weg. Nur das Wasser ist zurückgekommen", erinnert sich Max Schachinger an die Katastrophe.
Foto: Heribert Corn/www.corn.at

Die Welle hat mich erfasst. Hände und Beine voran bin ich auf einem Baum aufgeschlagen. Ich habe mich festgehalten, die fünf Meter hohe Flut ist über mich drüber. Ich war unter Wasser. Dann habe ich gesehen, dass mein Stockwerk weg war. Von den Menschen am Strand war keiner zu sehen. Dann eine Stimme von oben: He Max! Mein Freund Teddy saß oben auf der Palme. In dem Moment ist die zweite Flutwelle gekommen. Die war heftig. Ich habe durch Yoga einen guten Atem, aber das Meer war viele Minuten über mir. Ich dachte, jetzt muss mir die Luft ausgehen, aber ich habe mich erinnert: In einer schnellen Lawine kann in einer Soghöhle noch Luft sein. Ich bin mit meinem Kopf um den Baum, ich habe unter dem rasenden Wasser Luft bekommen. Ich habe gottergeben und ganz bei mir das gemacht, was der Moment braucht: mich mit aller Kraft festzuhalten.

Bäume, Hütten, Palmen: weggefegt. Nur das Wasser ist zurückgekommen, jetzt mit Erde, Schlamm und entwurzelten Bäumen. Der Sog zurück aufs Meer war enorm stark und für viele tödlich. Dann stand ich da, ohne Hemd und Hose, barfuß, nur ein Shirt um die Mitte. Was ich dachte? Ich bin da. Wir leben. Was ist zu tun? Teddy saß immer noch am Baum. Wir gingen los. Wir machten uns auf. Ich wollte Leute auf den Hügel bringen, falls noch eine Welle kommt. Detlef war unauffindbar.

Auf diesem Hügel sind die Menschen gehockt und haben sinnloses Zeug gesprochen wie: "Krieg ich mein Geld zurück?" Ein paar waren hysterisch, die haben vielleicht Materie verloren, sonst nichts. Ich spreche nicht von Menschen, die schwer verletzt wurden oder Angehörige nicht fanden. Von 240 Leuten auf der Insel ist ein Drittel gestorben. Es gab kaum Verletzte, die meisten Leute sind ertrunken. Ich bin los, um Lebensmittel zu finden, vor allem für die Kinder. Ich bin mit zerschnittenen Füßen über Leichen. Vor der Dunkelheit ist unser vermisster Freund aufgetaucht. Ihn hat es nicht in die Mangrovensümpfe, sondern auf die andere Seite der Insel ins Meer gespült. Zum Glück war er fit, er war früher in der deutschen Wasserball-Nationalmannschaft. Er hat acht Stunden um sein Leben gekämpft.

Andere an die Hand nehmen

Wir haben die Nacht am Hügel am Boden verbracht. Vorher ist auch ein Affe gekommen. Der war verwirrt und hat ein paar von uns angegrapscht. Die Leute wurden hysterisch und haben ihn verscheucht. Als er wiedergekommen ist, sind viele ausgeflippt, obwohl der nichts gemacht hat. Einer von den Einheimischen hat dann auf ihn eingedroschen. Keiner hat etwas dagegen getan. Der Typ hat ihm so lange auf den Kopf geschlagen, bis er tot war.

Der Hügel war für mich der eigentliche Tsunami. Eineinhalb lange Tage ohne Ablenkung zu sehen, wie Menschen sich bewusstlos in ihre Geschichten verrennen. Ich hatte immer gedacht, ich sei für die Welt noch nicht bereit. Zu meiner Überraschung war ich der Einzige von 150 am Hügel, der in den ersten fünf Stunden etwas in die Hand nahm. Ich musste sprichwörtlich andere an die Hand nehmen. Auf wen warte ich eigentlich? Das war meine Erkenntnis aus dieser Erfahrung. Für mich ist mein Leben klarer geworden. Es hat dem üblichen, menschlichen Tun die Aura der Wichtigkeit genommen.

"Ich erzähle die ganze Zeit über den Tsunami, eigentlich müsste ich über das Meditieren nachher erzählen."
Foto: Heribert Corn/www.corn.at

Am nächsten Abend sind zuerst Frauen mit Kindern mit einem Armeehubschrauber abgeholt worden, die Tage danach der Rest. Wir drei sind geblieben, um mit ein paar engagierten Einheimischen nach Vermissten zu suchen. Wir sind nach drei Tagen auch in ein Kloster aufgenommen worden. Erst da kamen mir Tränen. Es tat gut, sich unter Menschen wieder aufgehoben zu fühlen. Im Kloster gab es einen Fernseher mit schrillen Tsunami-Dramen, die uns Betroffene null ansprachen.

Meine Familie dachte, ich sei an der sicheren Ostküste. Sie haben dann eine Vermisstenliste bekommen, mit meinem Namen drauf. Ich selbst habe diese Liste von unserem Hotel zusammengestellt, und scheinbar ist so mein Name draufgerutscht. Die haben eine Nacht um mich gebangt. Im Kloster konnte ich ihnen dann die erlösende SMS schicken.

Beim Herumlaufen auf der Insel hatte ich meinen Rucksack mit dem Psion-Organizer, der aussah wie eine kunstvolle Sandskulptur, wiedergefunden. Mein Pass und etwas Geld waren in dem Safe, dessen Inhalt Teddy für alle gerettet hat. Meine Freunde habe ich nach Kho Phangan geschickt, und ich konnte doch noch in das Kloster-Retreat im Osten Thailands.

"Ich konnte den Rückflug und bin so der wahren Herausforderung auf halbem Weg entkommen und zurück nach Österreich."
Foto: Heribert Corn/www.corn.at

Ich erzähle die ganze Zeit über den Tsunami, eigentlich müsste ich über das Meditieren nachher erzählen. Tagelang Kreuzweh, auf einem Steinboden schlafen, ein Stück Holz als Kopfpolster und mit dem Eigentlichen konfrontiert sein: den unablässigen Geschichten im Kopf. Sie trennen jeden Moment vom Paradies. Ich konnte den Rückflug antreten und bin so der wahren Herausforderung auf halbem Weg entkommen und zurück nach Österreich.

Das Meditieren war die eigentlich harte Erfahrung und die Menschen auf dem Hügel eine sehr desillusionierende. Wenn wir uns in unseren Geschichten verlieren, bringen wir nichts Gutes in die Welt. Bevor die Soldaten kamen, waren es gerade einmal sieben Leute, die sich aufgerafft haben, etwas füreinander zu tun. Ich bin heute dankbar für Menschen, die sich, natürlich oft mühsam, organisieren und dadurch den Geist in Familien, Firmen, Schulen und Politik manifestieren. Da entsteht der Raum, in dem sich das Leben entfalten kann.



"Ich war ein einziges Gebet"

Sana Brauner verlor auf Khao Lak (Thailand) Mutter und Tochter.

Es hat uns aus unserem Alltag herauskatapultiert. Das war eine enorme Botschaft, dass hier etwas zu ändern ist, dass wir die Wahl haben, Opfer oder Schöpfer zu sein. Ich habe mich für Schöpfer entschieden.

Sana Brauner: "Irgendwann war der Moment gekommen, wo ich aufgegeben habe."
Foto: Heribert Corn/www.corn.at

Die Anlage bestand aus stabilen Häuserreihen, die um einen Pool angelegt waren. Man konnte vom Zimmer aus direkt ins Wasser gehen. Ich war nicht am Meer, wo der Strand und das Restaurant waren, ich bin nach dem Frühstück zum Zimmer gegangen. Die Buben haben im Pool gespielt, da gab es eine künstliche Insel mit einer Wasserrutsche. Mein Sohn Alexander, er war kurz vor seinem 6. Lebensjahr, und sein Cousin. Mein Exmann war auf der Terrasse. Ich bin aus dem Zimmer getreten, habe es gesehen und geschrien: "Wasser!" In dem Moment, peng!, war es schon im Zimmer drinnen.

Die zwei Buben wurden innerhalb von Sekunden mit den Sonnenliegen und allem, was auf der Terrasse war, in die Höhe getrieben, und Leute, die oben waren in dem Gebäude, haben sie gepackt und rausgezogen. Sie sind fast ohne Verletzungen davongekommen. Ich sehe, wie das Wasser steigt, das Zimmer ist schon voll, ich werde durchs Fenster ins Badezimmer gespült, die Welle ist so stark, dass die Türen und Wände durchbrochen werden, es ist wie in einer Waschmaschine.

Im Nachhinein, wenn ich das Bild sehe, bin ich schon außerhalb der Anlage. Irgendwann war der Moment gekommen, wo ich aufgegeben habe. Kämpfen können und zu wissen: Es tut sich nichts. Jetzt lass ich's geschehen! Das ist mein letzter Atemzug gewesen. So also geht man aus dieser Welt, und nur mehr Stille, das ganze Tosen vorbei. Und auf einmal eine Stimme. Meine. Sana, willst du leben? Ich habe mich an dem Außenspiegel von einem Auto festgehalten, das da getrieben ist.

Zuerst habe ich gedacht, das ist die Sintflut, das kann es ja nicht geben. Ich habe das Wasser beobachtet, was macht es jetzt? Kommt es noch höher? Ich war voller Blut und Dreck, und ein Thai kommt mir entgegen und zieht sein T-Shirt aus und gibt es mir. Als ich meine Schwester wiedergefunden habe, hat sie gesagt, die Mama und die Kleine sind nicht da, die sind einfach ... Es war eine Odyssee. Ein befreundetes Ehepaar war mit seinem Sohn mit uns, der ist gestorben und im Zimmer nebenan gefunden worden.

"Egal, was ist, sie ist nicht da. Das ist, was zählt, so ist es jetzt." Zehn Jahre nach dem Tsunami hat Sana Brauner ihren Frieden gefunden. Ihre Tochter, Alexandra-Anita (im Bild links), ist seit damals verschollen.
Foto: Heribert Corn/www.corn.at

Wir haben sehr, sehr viel gemacht, sind immer wieder nach Thailand gefahren und haben nachgeforscht. Irgendwann kommt man dann zu einem Punkt, wo man sagt: Ich muss mich entscheiden. Oder – es geht gar nicht um entscheiden. Sondern um annehmen müssen, das, was ist. Davor war ich wie in einer Parallelwelt, funktionieren müssen für den Alltag, für den Job.

Alles ist Energie. Ein Teil von uns ist Materie, ein Teil Energiewesen. Ohne dieses Energiewesen wäre die Materie nichts. Dass ich mich mit der spirituellen Welt beschäftige, ist einfach so gekommen durch die Fragen: Was habe ich zu lernen? Warum ich? Meine Antwort darauf ist heute: Jeder bleibt der Schöpfer seines Lebens. Wochen-, monatelang hätte ich alles getan, um die Uhr zurückzudrehen. Ich bin ein einziges, pausenloses Gebet gewesen. Das Annehmen hat gedauert. Für meine Mutter hat es ein Begräbnis gegeben. Ich habe gelernt, dass man in Menschen nicht hineinschauen kann. Was sich innen abspielt, weiß man nicht. "Man sieht es dir nicht an", ist mir gesagt worden. Ich habe viele Ausbildungen gemacht, um Heilarbeit zu leisten. Das ist mit dem Verstand überhaupt nicht mehr zu begreifen, das ist eine der schlimmsten ... (sucht nach einem Wort, Schweigen), wenn man das eigene Kind überlebt. Egal, was ist, sie ist nicht da. Das ist, was zählt, so ist es jetzt.

Vier Tage nach dem Tsunami: Nachricht an ein verschollenes Kind.
Foto: Heribert Corn/www.corn.at

Da war auch die Empfindung: Ich darf nicht so sehr in meinen Schmerz gehen, der natürlich da ist, weil da ist das andere Kind, das überlebt hat. Es ist um so mehr zu schätzen unser Leben, jeder Tag, seine Präsenz. Ich muss zugeben, ich habe vor dem Tsunami sehr viel gearbeitet, ich habe ein schlechtes Gewissen gehabt.

Wir haben zu Hause sehr offen darüber geredet danach. Die Oma, die war ja wie eine zweite Mama für meinen Sohn. Sie war ja so eine Hilfe für uns, so ein Engel. Sie ist uns sehr abgegangen. Mein Exmann wollte, dass die Kleine Alexandra heißt, ich Anita, also Alexandra-Anita. Auf der einen Seite bindet einen solch ein Erlebnis natürlich, auf der anderen Seite: Es hat nicht geheilt, was vorher schon nicht funktioniert hat. Wir haben uns aber noch immer sehr gern, es gibt nichts Böses zwischen uns, keinen Streit.

Bevor ich nebeneinander herlebe, möchte ich schauen: Was spielt sich bei mir ab? Es gibt so viel zu lernen, um wirklich ein Mensch sein zu dürfen – und nicht ein Programm, das abläuft. Ich schreibe ein Buch über meine Erfahrungen. Die, die das Manuskript schon gelesen haben, sagen: Es gibt Mut. Diese Überzeugung, dass wir mehr als ein Körper sind, möchte ich teilen. Letztendlich geht es schon darum, glücklich sein zu dürfen. Ich weiß nicht, warum wir Menschen es erst lernen, wenn die Schmerzgrenze erreicht ist.



"Es hat schon etwas mit mir gemacht"

Ali Bechstein ist am 23.12.2004 mit seiner damaligen Freundin nach Khao Lak gereist, beide haben die Flutwelle unbeschadet überstanden. Der Tsunami hat trotzdem sein Leben verändert.

Ali Bechstein: "Ich bereue das überhaupt nicht."
Fotos: Heribert Corn, Produktion: Maria von Usslar



"Die Bewusstheit, dass man vergänglich ist"

Der Schriftsteller Josef Haslinger und seine Frau Edith, Tochter Sophie und Sohn Elias reden über den Tsunami, den sie vor zehn Jahren auf Phi Phi Island (Thailand) gemeinsam überlebt haben.

Sophie, Elias, Josef und Edith Haslinger haben das Erlebte gemeinsam aufgearbeitet. Haslingers Buch "Phi Phi Island. Ein Bericht" erschien 2007 im S.-Fischer-Verlag.
Foto: Heribert Corn/www.corn.at

Wie ist das vorherrschende Gefühl nach zehn Jahren?

Edith Haslinger: Es ist schon relativ weit weg. Durch dieses Jubiläum kommt es wieder ins Bewusstsein. Bei Menschenansammlungen spüre ich noch Beklemmungen. Mit dem Meer in Griechenland, wo wir jedes Jahr sind, bin ich einigermaßen versöhnt. Dort war ich am Anfang auch sehr bedacht. Mit dem Meer bin ich versöhnt, mit den Menschenmassen nicht.

Sophie Haslinger: Untertags habe ich kein Problem mit dem Meer, nur in der Nacht. Wir waren damals am Dach des Hotels und haben die ganze Nacht runtergestarrt. Wir wussten nicht, ob noch eine Welle kommt. Ich kann nach wie vor nicht am Meer schlafen. Es kein schönes Geräusch, in der Nacht das Meer rauschen zu hören.

Elias Haslinger: Im Alltag verdränge ich gekonnt. Ich will damit nichts zu tun haben. Es kommt nur bei Auslösern etwas hoch. Das ist ein ungutes Gefühl. Keine Panikattacke, aber körperlich beklemmend.

Herr Haslinger, welche Stationen der Aufarbeitung haben Sie durchschritten?

Josef Haslinger: Das Erlebnis ist im ersten Jahr wie ein Klotz in meiner Seele gelegen. Es war gut, dass ich beschlossen habe, mich der Sache zu stellen. Das hat zunächst dazu geführt, dass alles noch schlimmer wurde. Direkt nach dem Tsunami war ich der Coole in der Familie.

Elias: So hast du auch gewirkt.

Josef Haslinger: "Erst als ich darüber zu schreiben begann, haben sich bei mir die Albträume eingestellt."
Foto: Heribert Corn/www.corn.at

Josef: Das war die Rolle, die ich mir selber zugemutet habe. Ich hatte keine Albträume, habe keine Therapie in Anspruch genommen und mir fest vorgenommen, alles im Griff zu haben. Erst als ich darüber zu schreiben begann, haben sich bei mir die Alpträume eingestellt. Ich konnte auch ein Jahr lang nicht aus dem Buch vorlesen. Lesen und gleichzeitig heulen geht nicht. Ein Jahr nach Erscheinen wurde es besser. Bei den Lesungen haben sich Leute eingefunden, die ebenfalls den Tsunami erlebt haben, zum Teil mit wesentlich schlimmeren Konsequenzen als wir. Leute, die Angehörige verloren haben. Auf einer Lesung in Deutschland sprach mich einer an, der sagte: Ich komm in Ihrem Buch vor. Ich bin derjenige, der zu seinem Sohn vor dem Hubschrauber sagte, er soll so laut schreien, wie er kann, damit er mitkommt. Ich hab das im Buch als Negativbeispiel gebracht, weil ja Leute gestorben sind und der Bub nur eine Knieverletzung hatte und ausgeflogen wurde. Ich hab den Vater gefragt, was aus dem Sohn geworden ist. Es stellte sich heraus, dass es tragisch weiterging, dass der Tsunami ihn fürs Leben gezeichnet hat. Da spricht man so leichtfertig und hat keine Ahnung. Aber bei uns ist es doch vor allem ein Teil unseres vergangenen Lebens. Die Lehre, die ich daraus ziehe, will ich aber nicht vergessen. Die klare Bewusstheit, dass man vergänglich ist.

Sie sagen, dass Sie keine therapeutische Hilfe in Anspruch genommen haben. Die anderen Familienmitglieder?

Elias: Ich wollte eine Therapie machen.

Edith: Die ganze Familie war bei Esra bei einem Erstgespräch. Dann war die Frage, wer bleiben will, und Elias wollte das.

Elias (zu Sophie): Warst du eigentlich auch dort?

Sophie: Nein, ich wollte Fremden nicht davon erzählen. Das war für mich eine Familiensache. Elias hat sich leichter getan, mit anderen zu reden. Mir hat geholfen, nur im engsten Kreis darüber zu reden.

Elias: Ich wollte nie mit Freunden darüber reden. Ich wollte professionelle Hilfe.

Jeder geht damit anders um. Ergaben sich da Differenzen innerhalb der Familie?

Keine Antwort. Schweigen. (Elias will etwas sagen, sagt es dann nicht.)

Sophie: Als wir zurückkamen, waren Weihnachtsferien. Für mich war es wichtig, dass wir viel Zeit miteinander verbrachten. Auch dass wir versucht haben, vieles zu rekonstruieren. Wer, wann, wie, wo war, um das Erlebte überhaupt zu verstehen.

Warum Sind Sie mit Ihrer Frau nach einem Jahr wieder dorthin zurückgefahren? Ohne die Kinder.

Josef: Die Kinder wollten nicht.

Edith: Ich wollte auch nicht, wollte aber auch nicht, dass Josef alleine fährt. Ich war damals in einem Sabbat-Jahr und konnte mitfahren. Wir waren Anfang Dezember dort. Das war aber kein Urlaub, selbst das Wetter war trüb. Unser Ressort gab es nicht mehr, wir haben auf einem Hügel gewohnt, weit weg vom Meer. Wir sind jeden Tag hinuntergepilgert, um zu schauen, wo was war. Es war eine Aufarbeitung.

Sophie: Ich war zwei Jahre später an der anderen Küste. Es wäre nicht infrage gekommen, an dieselbe Stelle zu fahren. Wir haben weit weg vom Strand am Hügel gewohnt. Damals war alles noch präsenter. Als ich das Meer in der Nacht gehört habe, musste ich in einen anderen Bungalow wechseln.

Ihr seid 2004 in der Maturaklasse gewesen. Wie war das für euch?

Elias: Ich wollte damals die Schule abbrechen, wollte nicht mehr hingehen. Mathematik lernen: Warum?

Josef: Du wolltest nicht einmal mehr aus dem Haus.

Edith: Die Kinder sind aber sofort wieder in die Schule. Ich war auch nach einer Woche wieder da. Elias wollte überhaupt nicht.

Elias: Ich erinnere mich. Der Klassenvorstand hat mich am ersten Tag aufgefordert, dass ich den anderen davon berichten soll.

Edith: Da gab es unsensible Leute. Er hat aber dann alles gut hingekriegt.

Elias: Wir haben ohne Probleme maturiert.

Sophie: Mir hat die Schule sogar geholfen, weil das Normalität war. Ich hab gleich meine Fachbereichsarbeit geschrieben.

Edith: Es half uns, dass der Alltag weiterging.

Gab es mit den Jahren Situationen, wo Sie das wieder eingeholt hat?

Sophie: Im Gegensatz zu meinem Vater hatte ich viele Albträume, fast jeden Tag und in vielen Variationen. Ein Traum war, dass das Wasser bis zu uns in den vierten Stock kam. Die Albträume sind dann mit Zeit weniger geworden.

Elias: Ich träume nicht mehr davon. Aber ich fühl mich im Moment nicht gut. Wenn ich darüber rede, ist das immer noch beklemmend.

Josef: Elias war in einer Situation, in der er glaubte, seine Familie verloren zu haben.

Elias: Ich wollte nur raus aus dem Wasser und überleben. Zuerst habe ich geglaubt, ich ertrinke, mich hat ein Mädchen runtergezogen, die ist aber mit mir wieder hochgekommen. Dann habe ich diesen kleinen Buben am Arm gehabt und mit dem bin ich gerettet worden. Keine Ahnung, wie ich da raufgekommen bin. Dann ist mir klar geworden, dass die Familie vielleicht nicht mehr da ist. Zum Glück hab ich dann Sophie gesehen.

Haben Sie Erinnerungsstücke?

Erinnerungsstücke: Ein Flugticket von Krabi nach Bangkok.
Foto: Heribert Corn/www.corn.at

Sophie: Ich hab das Flugticket von Krabi nach Bangkok noch aufgehoben. Thai Airways, das war der Moment, in dem ich mich wieder sicher fühlte. Als wir abgehoben sind in Richtung Bangkok.

Edith: Aus unserem Hotelsafe kam einiges zurück. Den Wohnungsschlüssel, der mit war, verwende ich noch immer. Den hat Josef in Essig gebadet. Der war ganz verkrustet.

Sophie: Ich habe eine alte Roxy-Tasche, die verwende ich zum Snowboarden. Wir waren ja in dem ganzen Chaos nur im Bikini, und diese Tasche ist, als wir evakuiert wurden, stehen geblieben. Es war Gewand darin. Ich verwende sie noch. Ich will nicht viel darüber nachdenken, was mit der Person passiert ist, der sie gehört hat.

Bei der Evakuierung ist eine alte Roxy-Tasche stehen geblieben. "Ich will nicht viel darüber nachdenken, was mit der Person passiert ist, der sie gehört hat", sagt Sophie Haslinger.
Foto: Heribert Corn/www.corn.at

Edith: In der Tasche war auch ein Necessaire. Das habe ich noch, das wollte ich nicht wegschmeißen.

Josef: Ich habe den Digitalfilm aus der Kamera, die uns nachgeschickt wurde. Ich habe ihn nur einmal angeschaut, als ich das Buch schrieb, danach nie wieder. Es gibt immer noch die Schachtel, in der das vermoderte Zeug aus dem Tresor liegt.

Edith: Und der stinkende Sand?

Josef: Den Sand habe ich in ein Glas abgefüllt.

Elias: Ich hatte nach dem Tsunami manchmal den Leichengeruch in der Nase. Jetzt nicht mehr. Nur wenn ich Thailändisch esse. Beim Hubschrauberlandeplatz haben sie Esspakete verteilt. Durch den Gestank der Leichen hat auch der Reis gestunken. Seither kann ich Thailändisch nicht mehr essen. (Alle lachen)

Verändert so ein Erlebnis etwas an der Angst vor dem Tod oder dem Sterben?

Sophie: Das müssen die anderen beantworten. Ich war die Einzige, die nicht unter Wasser war.

Edith: Wir haben uns auf das Dach raufgerettet, Sophie und ich sind dann nicht mehr runtergegangen.

Josef: Nur Elias ist mit mir nach unten.

Elias: Ich habe jede Leiche noch gestochen scharf in Erinnerung. Der eine Mann mit der offenen Brust, der uns entgegengekommen ist. Und die Leichen vor dem Hoteleingang.

Sophie: An die erinnere ich mich auch.

Elias: Angst vor dem Tod habe ich keine. Wenn ich sterbe, sterbe ich. Ich glaube nicht, dass nachher noch etwas kommt. Ich bin atheistischer geworden. Ich hatte damals noch Hoffnung, dass nachher etwas sein könnte. Die habe ich heute nicht mehr. (Alle lachen)

Sophie: Im Leben hätte ich das Ganze gern präsenter. Wenn man sich so in seinem Alltag verliert. Was der Papa gesagt hat: dass man das Leben genießen soll, weil es jeden Tag vorbei sein kann.

Edith: Mich regen viele Dinge weniger auf als früher. Das hat bis heute angehalten. Im Schulalltag denke ich oft, das ist lächerlich. Genießen wir das alles viel mehr. Das ist positiv an dieser Sache.

Elias: Das Komische ist: Bei euch ist das voll ins Positive gegangen. Ich habe mich immer gefragt: Warum lebe ich noch? Bei mir ist das eher in Depression umgeschlagen. Eine vierköpfige Familie, warum überlebt die, und 50 Prozent der Hotelgäste sind tot. Warum nicht ich? Warum andere schon? Ich glaube nicht, dass es darauf eine Antwort gibt, aber ich stelle mir diese Fragen.

Josef: Elias hat seither eine Neigung zur Depression. Man kann nicht bestimmt sagen, inwieweit das mit dem Tsunami zusammenhängt. Es gibt genug Menschen, die depressiv sind und keinen Tsunami erlebt haben. Es ist schwer, darüber Klarheit zu bekommen.

Elias: Ich bin überzeugt, dass das immer begleitend wirkt. Aber es ist okay. Solange ich nicht darüber rede, geht es mir nicht schlecht. Ich will damit eher nichts zu tun haben.

"Wir wurden eingeladen, wieder nach Thailand zu fahren. Aber wir machen das nicht."
Foto: Heribert Corn/www.corn.at

Wie hat die Familie Ihr Tsunami-Buch gelesen?

Elias: Ich hab es zum ersten Mal in Griechenland gelesen. In einer Nacht, da bin ich am Strand gesessen. Ich habe die Nacht durchgelesen und konnte nicht schlafen.

Josef: Wir haben, bevor ich es geschrieben habe, ausführlich darüber gesprochen. Es gibt ja auch die Passagen der anderen im Buch. Da wollte Elias am Anfang nicht mitmachen und dann doch.

Elias: Ich bin jetzt zufrieden damit.

Sophie: Ich glaube, dass sich damit schon die eigene Geschichte verändert hat. Es ist jetzt unsere Geschichte und nicht mehr die von jedem Einzelnen. Einen Teil der Aufarbeitung von mir hat da sicher der Papa übernommen.

Wo werden Sie Weihnachten feiern?

Josef: Zu Hause. Wir wurden eingeladen, wieder nach Thailand zu fahren. Aber wir machen das nicht. Man soll da auch keinen Kult daraus machen. Es gibt schließlich in jeder Familie irgendein Unglück. Und unseres ist glimpflich ausgegangen. Es wird verstärkt durch diesen gewaltigen Echoraum der Medien, den es natürlich auch nur gibt, weil so viele Touristen gestorben sind. Ich habe diesen kleinen Finger, der nicht mehr richtig funktioniert. Aber sonst? Es gibt so viele Menschen, denen passiert wirklich ein Unglück größerer Art, die verlieren Kinder und Angehörige, und es interessiert sich keiner dafür. Es wäre schon wichtig, nach zehn Jahren einen nüchternen Blick darauf zu haben. Vielleicht etwas mitzunehmen, aber im Grunde ist es nicht das, was unseren Alltag bestimmt. (Protokolle: Mia Eidlhuber, Tanja Paar, Fotos: Heribert Corn, Audioslides: Maria von Usslar, derStandard.at, 21.12.2014)