Welche Tour durch Madrid die beiden Amerikaner aufregender finden, ist augenfällig: Die Männer mittleren Alters rücken verstohlen zur Reisegruppe auf, die sich ein paar Schritte neben ihrer eigenen im Parque de la Montaña auf einer Anhöhe oberhalb der Altstadt aufgestellt hat.

Hier eröffnet sich ein bildschöner Ausblick auf den Königspalast, auf den die Führer beider Gruppen deuten. Der eine erzählt dabei von Habsburgern und Bourbonen, der andere von militärischen Manövern in Marokko. David Mathieson dient das Schloss als Richtungsweiser nach Afrika, von wo aus General Franco 1936 den Militärputsch gegen die spanische Republik und damit den drei Jahre währenden Bürgerkrieg anzettelte. Der 54-Jährige zeigt einer Handvoll Gymnasiasten aus Deutschland ein Madrid, das offiziell bis heute nicht existiert: die Hauptstadt als Kriegsschauplatz.

Neben dem Köngigspalast von Madrid stand einst die Montaña-Kaserne, die im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) eine zentrale Rolle spielte. Hinweise darauf sind vor Ort rar.
Foto: Turismo Madrid

Während sich die amerikanischen Reisegruppen-Überläufer wieder von ihren Ehefrauen einsammeln lassen – "the Prado is next!" –, weiht Mathieson die Jugendlichen in die Vergangenheit des Parks ein. Damit meint er nicht die des altägyptischen Tempels von Debod, der noch zu Francos Zeiten vom Nil hierher verfrachtet wurde.

Gewalt, Chaos, Lynchjustiz

Der Tourguide zeigt Schwarz-Weiß-Bilder einer riesigen, um einen quadratischen Innenhof angelegten Kaserne, die einmal hier stand – bevor sie kurz nach Ausbruch des Bürgerkrieges zerstört wurde. Innerhalb weniger Stunden verloren etwa 300 Menschen ihr Leben. "Wir sprechen von einem regelrechten Massaker", sagt Mathieson, und bringt seine Zuhörer ins Grübeln: Hier sollen Soldaten von Zivilisten ermordet worden sein, und nicht andersherum?

Nach Francos Aufstand wurde die Kaserne von linken Milizen und Bürgern der Stadt umzingelt, erklärt Mathieson. Ganz Spanien hielt zwei Tage lang den Atem an und wartete ab, ob sich die im Herzen der Hauptstadt untergebrachten Militärs auf die Seite der demokratisch gewählten Republik oder die der Putschisten schlagen würde. Die Spannung entlud sich am frühen Morgen des 20. Juli 1936 in Gewalt und Chaos, ein Lynchmob überwältigte die Soldaten.

Ein Ort für Spekulationen

Hätten die Republikaner sich nicht der Montaña-Kaserne bemächtigt, hätte der Krieg auf spanischem Boden womöglich einen anderen Lauf genommen. Die Westmächte wären zum Eingreifen genötigt gewesen, oder die Franco-Unterstützer Hitler und Mussolini hätten Spanien nicht als Trainingsgelände für ihre anschließend im Zweiten Weltkrieg eingesetzten Waffen nutzen können, spekuliert Mathieson: "Diese Belagerung hatte gewaltige Konsequenzen für die Weltgeschichte."

Dass Mathieson seinen Rundgang ausgerechnet an diesem für die Republik unrühmlichen Ort beginnen lässt, erklärt sich aus seinem Antrieb: Zusammenhänge aufzudecken. "Ich will nicht nur die Geschichte der Verlierer erzählen, sondern die ganze Geschichte." Absurderweise gebe es in dem Park zu dem 2.000 Jahre alten Tempel jede Menge Informationen. An die Ereignisse vor knapp 80 Jahren erinnert aber einzig ein Monument in Form von Sandsäcken am Parkrand.

In Brunete, 25 Kilometer westlich von Madrid, fand 1937 eine der größten Schlachten des Spanischen Bürgerkrieg statt.
Foto: Katarina Lukač

"Habt ihr bei den Protesten für die Freilassung der russischen Pussy-Riot-Aktivistinnen Schilder mit der Aufschrift 'No pasarán' gesehen?", fragt Mathieson in die Runde. Heftiges Kopfnicken. Und Staunen darüber, dass der Lieblingsslogan aller Systemkritiker schon vor knapp 80 Jahren die Madrilenen zum Durchhalten gegen Francos Truppen aufrief.

Jahrelang kam Mathieson mit seinen beiden Kindern zum Spielen in den Park, bevor er sich für seine Geschichte zu interessieren begann – und in der ganzen Stadt in Vergessenheit geratene Kriegsschauplätze entdeckte. Mathieson, gebürtiger Londoner, studierter Jurist und promovierter Historiker, lebte 15 Jahre lang in Madrid. Als er vor drei Jahren seinen Job bei einer spanischen Bank verlor, wurde er Lehrer an einer Privatschule am Bodensee und pendelt seitdem zwischen Deutschland und Spanien. Sein heutiges Publikum sind Gymnasiasten , die Mathieson in seine zweite Heimat mitgenommen hat.

Kein Bürgerkriegsmuseum

"Ich würde die Touren sofort an den Nagel hängen, wenn sich die Stadt um diesen Teil ihrer Geschichte kümmerte", sagt Mathieson, während er die Gruppe im Kleinbus zum nächsten Stopp vor den Toren der Stadt kutschiert. In ganz Spanien gibt es kein Museum zum Bürgerkrieg, in Madrids Tourismusbüro keine Auskunft zu dem immer noch heiklen Thema. "Als Ausländer fällt mir die Auseinandersetzung vielleicht leichter", sagt Mathieson, der gerade einen Reiseführer mit detaillierten Routenvorschlägen veröffentlicht hat.

Die Touren unter dem Namen "Spanish Sites", die er im Wechsel mit einem befreundeten Historiker auf Englisch und Spanisch anbietet, laufen weiter. Trotz der Bemühungen um Vollständigkeit: Mathieson, der auch als Berater für einen Labour-Minister arbeitete, verheimlicht seine Sympathien für die Republikaner nicht. Er pflegt sie aber mit einer Portion Selbstironie, etwa wenn er seine Schüler mit rührseligen Liedern der Internationalen Brigaden aus dem Autoradio traktiert. Besungen wird unter anderem das Guadarrama-Gebirge, das Hemingway in seinem Roman "Wem die Stunde schlägt" verewigte.

50.000 Menschen starben

Das nächste Ziel: ein Tal vor dem 25 Kilometer westlich von Madrid gelegenen Ort Brunete. Auf einem grasbewachsenen Hügel mit Blick ins Tal gingen im Juli 1937 insgesamt 150.000 Rechte und Linke aufeinander los. Damals schlug eine Offensive der Republikaner fehl, bis zu 50.000 Menschen starben. Unter ihnen: die in Stuttgart geborene und vor den Nazis geflohene Fotografin Gerda Taro, die sich mit ihrer Kamera an die Front wagte. Im Alter von 26 Jahren wurde sie bei einem Angriff der deutschen Legion Condor von einem aus der Kontrolle geratenen republikanischen Panzer überfahren. Ihre letzten Bilder erschienen im Magazin Life. Taro gilt neben ihrem Geliebten Robert Capa als Begründerin der modernen Kriegsfotografie.

Heute erinnern halb verfallene Bunker an die Schlacht. Mathieson drückt den Schülern Bombensplitter und Patronenhülsen in die Hände, die er bei vergangenen Besuchen aufgesammelt hat und wühlt im Gras. Diesmal findet er nur verwitterte Blechreste von Sardinendosen, die noch von den Soldaten stammen können oder auch nicht, wie er einräumt.

Aufarbeitung auf Eis

Auf der Plaza Mayor von Brunete, deren einzige Bar an diesem Sonntag zum Bersten voll ist, zeigt Mathieson der Gruppe das franquistische Adler-Wappen, das bis heute über dem Rathaus hängt. Auch zwei Steintafeln preisen den "glorreichen Kreuzzug" der Nationalen, ganz legitim, nachdem ein 2007 von der damaligen sozialistischen Regierung verabschiedetes Gesetz zur Aufarbeitung der Diktatur von den konservativen Nachfolgern auf Eis gelegt wurde.

Beim Verlassen der Stadt nimmt Mathiesons Kleinbus dieselbe Landstraße wie Gerda Taro, als sie vor ihrem Tod auf das Trittbrett eines Lastwagens aufsprang, um sich in Sicherheit zu bringen. Am Straßenrand kündigt eine windschiefe Holztafel die Aufnahme von Restaurierungsarbeiten an Bunkern aus dem Bürgerkrieg an. Sie steht dort seit 2003. (Katarina Lukač, DER STANDARD, 27.12.2014)