Als flöge Nadia Comaneci in ihren Worten noch einmal durch die Luft: Lola Lafon.


Foto: Lynn S. K.

Lola Lafon, "Die kleine Kommunistin, die niemals lächelte". Deutsch von Elsbeth Ranke. € 20,60 / 228 Seiten. Piper, München 2014

Foto: Piper Verlag

Alles beginnt mit dem Moment, in dem ein kleines Mädchen mit Rattenschwänzen den Computer sprengt. Eine Anzeigetafel, die bis zu diesen Olympischen Spielen 1976 in Montreal tadellos funktioniert hat - weil vor der 14-jährigen rumänischen Kunstturnerin Nadia Comaneci noch nie jemand seinen Körper in dieser Perfektion beherrscht hat. "Das Olympische Komitee hat uns versichert, dass die Zehn beim Kunstturnen nicht vorkommt", protestieren die Ingenieure. Aber das kleine Mädchen hat eine 10,0 hingelegt.

Die selbst teilweise in Rumänien aufgewachsene, in Paris lebende Autorin Lola Lafon will in ihrem Debüt Die kleine Kommunistin, die niemals lächelte herausfinden, wer hinter dem Mythos Nadia Comaneci steckt. Von 1969 bis 1990 folgt sie dem "Werdegang von Nadia C.". Die Jahre unter dem Drill des Trainers Béla Károlyi, die zwischen den Tränen hilfloser Kinder und dem Stolz des Sieges über den eigenen Körper oszillieren, zwischen Ohmacht und Übermut. Lafon erzählt von dem Popstarruhm, den Nadia in der ganzen Welt erlangte, davon, wie in den USA sechzig Prozent mehr Notrufe abgegeben werden. Ursache: Verletzung beim "Nadia-Spielen".

Geschichte ohne Eindeutigkeiten

Lafon begleitet Nadia bis zu ihrer Flucht in die USA 1989 und darüber hinaus. Die Lücken in den Überlieferungen, den Mangel an Material füllt sie "nach eigenem Ermessen": vielstimmig, assoziations- und temporeich; fast ein wenig, als flöge Nadia in ihren Worten noch einmal durch die Luft. Mit Nadia Comaneci selbst hat Lafon nicht gesprochen. Sie unterbricht ihre eigenen Mutmaßungen aber immer wieder durch eine fiktive Konversation mit ihr, in der sie ihr das Geschriebene zur Beurteilung überlässt, sie um Antworten und Erinnerungsfetzen bittet. Eindeutigkeiten gibt es in dieser Geschichte nicht. Da sind zum einen die Turnerinnen, kleine Heldinnen, die fast wie Kindersoldatinnen zum Kampf aufmarschieren. Man meint einen amazonenhaften Feminismus herauszuhören, wenn Lafon Nadia am Telefon sagen lässt: "Schweiß war nur etwas fürs Herrenturnen, die Damen dagegen durften nicht zu sportlich aussehen ... Aber Béla war es völlig egal, ob wir hübsch waren, er belohnte jede Woche die Waghalsigste von uns und auch die Schnellste."

Womöglich handelt es sich aber auch nur um eine andere Art von Sexismus. Als die knabenhafte Nadia nämlich langsam zur Frau wird, ist der heroische Körper nur noch Bürde und Grund zur Scham: "Eine Kriminelle ist sie geworden, mit blutigen Fingern und plumpen Höschen." Oder, wie es atemberaubend brutal in einem Potpourri aus Medienberichten heißt: "Sie hat uns von den Socken gehauen, dieses anmutige, geschmeidige Straßenkind, aber jetzt haben wir da plötzlich eine ältere Frau vor uns stehen, achtundzwanzig Jahre mit stattlicher Oberweite; alles an ihr erinnert heute an das leidige biologische Schicksal der Frau, an diesen Moment, ab dem Frauen allmählich lieber bequeme Schuhe tragen und Kleidergröße L."

Tränen vor dem Supermarktregalen

Immer wieder fragt sich Lafon, wer eigentlich das Sagen hatte im Leben der Kunstfigur Nadia C.: Béla, dessen Drill sie sich unterwarf? Oder Nadia selbst? Sie gibt darauf keine klare Antwort: "Man kann ... gefangen sein, auch wenn man scheinbar frei ist ...", lässt Lafon die Turnerin einmal sagen. In jedem Fall sind es hier der Trainer und mit ihm eine autoritäre Männerwelt, die die Körper der Frauen bewerten, berechnen: "Die kleine Kommunistin, durchsiebt von Wertungen und Zahlen und Wörtern." Alle sind sie am Ende Kinder ihrer Systeme. Die zeigt Lafon im erbitterten Kampf um den Preis der weltbesten Staatsform. Es ist wie der Kalte Krieg im Kindergarten: Unterschieden wird zwischen "bei uns" und "bei euch"; und die fiktive Nadia erzählt einmal, wie die Mutter zwischen vollen All American Supermarktregalen in Tränen ausbrach. "Der Ekel vor diesem absurd aufgehäuften Zeug" sei schuld daran gewesen. Auch könne sie nicht glauben, dass jemand es erstrebenswert finde, über sein "iPhone permanent lokalisierbar zu sein" .

Daneben schildert Lafon mit schlichten aber eindringlichen Worten den Horror, den das Leben in der rumänischen Diktatur bedeutete. Der Krieg gegen die Frauen, der dort geführt wurde, exekutiert von der "Menstruationspolizei": "Frauen, die sich weigern zu gebären, werden mit Gefängnis bestraft." Das Eingreifen in den Körper der Bürger ist das ureigenste Tätigkeitsfeld des Staates - ob kommunistisch oder kapitalistisch. "Die Diäten, die Ratschläge vom Gesundheitsministerium, von den Frauenzeitschriften, sie stellen dieselben Tabellen auf wie bei uns im Kommunismus! Tja, die Staaten kümmern sich eben um das, was wir so konsumieren, oder?", schreibt die fiktive Nadia.

Der Staat und sein Körper

So didaktisch diese Einlassungen der fiktiven Zeugin eines versunkenen Kommunismus manchmal wirken, sie machen ihren Punkt doch genauso deutlich wie die lebendige Erzählung Lafons: Jedes staatliche System bemächtigt sich auf seine Weise der Körper. Einmal schreibt Lafon süffisant von den Ceausescus, von der "Größten Gelehrten der Welt und dem Genossen, die sich immer gleich ergötzen am Schauspiel eines Körpers, dessen Gehirn sie sind, und sie werden nicht müde, dieses Land zu beklatschen, das sie ersonnen und inszeniert haben." (Andrea Heinz, Album, DER STANDARD, 10./11.1.2015)