"Unsere Augen lesen langsamer, als das Gehirn verarbeiten kann. Das heißt, das Gehirn fängt an, sich zu langweilen, und schweift ab." Tilman Dingler erforscht Leseoberflächen, die dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen sollen.

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derStandard.at: Herr Dingler, hat Ihre Profession als Leseforscher eigentlich Zukunft? Sagt uns die Entwicklung von Youtube nicht eher, Sie und ich sollten uns mit Video beschäftigen – ich drehe, Sie erforschen, was wie gesehen wird?

Dingler: Das Lesen wird nicht aussterben – wäre ja auch schade: Wir beschäftigen uns ja schon ein paar tausend Jahre damit. Das Lesen wurde übrigens schon in der Antike verteufelt: Sokrates hat – sinngemäß – gesagt, wir würden durch das Outsourcing von Wissen faul und würden uns selbst kompromittieren. Zum Glück haben das seine Schüler nicht so gesehen – und haben seine Sachen trotzdem aufgeschrieben. Sonst wüssten wir heute nicht mehr, welche klugen Dinge er gesagt hat – und auch nicht, welche vielleicht nicht ganz so klugen Dinge, zum Beispiel über das Lesen.

derStandard.at: Also: Wenn sich das Lesen schon gegen Sokrates durchgesetzt hat, wird es auch Youtube überleben?

Dingler: Lesen ist kulturell so tief in unserer Gesellschaft verwachsen und psychomotorisch so in uns drin – das geht nicht mehr weg. Das würde auch relativ wenig Sinn machen, wenn man sich die heutigen Medien ansieht. Trotz Multimedia und der ganzen multimodalen Interfaces nehmen wir das allermeiste Wissen über Text auf – ob auf dem Handheld, PC oder Papier.

derStandard.at: Und Text bleibt Text, seit ein paar tausend Jahren?

Dingler: Texte haben schon eine große Revolution hinter sich: Das Buch war eine Revolution in der Verbreitung von Texten. Ich denke, wir erleben eine ähnliche Revolution von Texten durch die technischen Neuigkeiten. Nehmen Sie nur die noch sehr junge Entwicklung von Smartphones, die unsere Lesegewohnheiten im Alltag markant verändert hat.

derStandard.at: Macht das Medium, das Gerät, auf dem wir lesen, einen Unterschied, wie wir lesen und aufnehmen?

Dingler: Es gibt dazu ein paar Studien über Textverständnis und Merkfähigkeit. Aber daraus lassen sich kaum grundsätzliche Schlussfolgerungen ziehen. Lesen ist eine komplexe Aufgabe. Und wie man liest, hängt auch vom persönlichen Hintergrund ab, wie viel man liest, der fachspezifische Hintergrund. All das hat Einfluss auf Lesegeschwindigkeit und Verständnis. Solche Studien treffen nur sehr spezifische Aussagen.

derStandard.at: Also: Nichts Genaues weiß man nicht, schon gar nicht, wohin es weitergeht mit dem Lesen?

Dingler: Das Lesen ändert sich ja ständig, in den vergangenen Jahren wieder sehr grundlegend: Mit dem Mobiltelefon zum Beispiel tragen wir ständig eine große Bibliothek von Texten herum. Die nutzen wir, wenn wir kurz Zeit haben oder totschlagen müssen. Das erhöht tatsächlich die tägliche Gesamtlesezeit. Da lese ich vielleicht nicht dieselben Textqualitäten, wie ich sie abends lesen würde. Und sicher will ich daraus einen anderen Nutzen ziehen: Im Bus werden eher Neuigkeiten gelesen, Blog-Einträge, E-Mails. Abends eher Literatur von leicht bis schwer. Da muss man abstufen, welche Geräte für welche Art von Text besser geeignet sind.

derStandard.at: Nämlich?

Dingler: Wir haben uns angeschaut, wie in zehn oder 20 Jahren ein Interface für das Lesen aussehen könnte. Zum Beispiel ein Lese-Interface für Uhren. Oder auch für Büroumgebungen mit extrem großen Displays. Unser Szenario war: Jede Wand ist interaktiv. Wie verändert das die Informationsdarstellung, welchen Einfluss hat das für die Aufnahmefähigkeit des Nutzers?

derStandard.at: Verraten Sie uns Erkenntnisse aus diesen Studien mit doch sehr weit auseinander liegenden Extremen?

Dingler: Diese wandgroßen, hochauflösenden Displays untersuchen wir gerade. Wir haben etwa eine Beispiel-Applikation, wo wir ein gesamtes Buch komplett in einen Überblick gliedern. Auch mit Blick auf einen Kritikpunkt an E-Books, man habe dort kein Gefühl, wo im Buch man gerade ist. Das Gefühl des Fortschritts fehlt da vielen. Und: Es gibt ein kinetisches Gedächtnis, mit dem man bestimmte Stellen im Buch finden kann. Das funktioniert in unseren Versuchen ganz gut. Allerdings verblasst auch dieses Gedächtnis mit der Zeit. Wir haben uns angeschaut, wie man mit solchen Such- und Finde-Aufgaben auf wandgroßen Bildschirmen umgeht, die mir das ganze Buch vor Augen führen. Da gibt es schon ganz nette Effekte – gerade bei illustrierten Büchern kann man sich an Tabellen, Figuren, Zeichnungen ganz gut orientieren.

derStandard.at: Nicht ganz überraschend, dass man sich entlang von Illustrationen orientiert, wenn man alle Seiten eines Buches vor sich sieht.

Dingler: Diese Orientierung spielt aber auch eine Rolle beim Erinnern. Dafür ist das so genannte Priming wesentlich: wenn man sich anhand des Inhaltsverzeichnisses vor dem Lesen damit auseinandersetzt, was man von dem Buch erwartet. Das Gehirn bildet dann Assoziationspunkte aus, die man nach und nach füllt. Die Auseinandersetzung zuvor führt dazu, dass man auch mehr Sachen behält. Wie das nun auf so großen Displays aussieht, untersuchen wir noch.

derStandard.at: Recht aktuell ist das andere Extrem – steht nicht gerade die Apple-Uhr an? Gibt es schon Erkenntnisse zum Miniaturlesestoff am Handgelenk?

Dingler: 2014 wurde eine kommerzielle Technologie vorgestellt unter dem Titel "Spritz". Statt mit dem Auge den Text abzufahren, wird, grob gesprochen, der Text in mein Auge projiziert. Damit reduziert man die Augenbewegung, die Lesegeschwindigkeit kostet. Das ist natürlich ganz nett für Uhren oder Smartphones mit begrenzter Bildschirmfläche. Allerdings haben Studien aus Kalifornien auch nachgewiesen, dass es zum Verständnis des Textes beiträgt, wenn man im Text zurückspringt.

derStandard.at: Und da gibt es praktisch kein Zurück.

Dingler: Anspruchsvolle Texte, gerade mit ambivalenten Satzstrukturen, sind so eher schwierig aufzunehmen. Meinen Twitter-Feed oder E-Mails werde ich schon realistisch so lesen können. Immanuel Kant darauf zu lesen ist wahrscheinlich eher eine Herausforderung.

derStandard.at: Das konnte Kant aber auch schon auf Papier ganz gut. Also eher skeptisch gegenüber dem vorgegebenen Lesetempo?

Dingler: Nicht unbedingt. Unsere Augen lesen langsamer, als das Gehirn verarbeiten kann. Das heißt, das Gehirn fängt an, sich zu langweilen, und schweift ab. Nun fragt man sich: Kann man die Augenbewegungen so trainieren wie einen Muskel und ein Muster vorgeben, um dem Gehirn einen stetigen Fluss an Information zu geben, der einen aufmerksam und fokussiert einen Text lesen und verstehen lässt?

derStandard.at: Haben Sie eine Antwort auf die Trainingsfrage?

Dingler: Das funktioniert jedenfalls nicht für alle Menschen gleich gut. Man fühlt sich auch leicht bevormundet durch eine Vorgabe, wie man zu lesen hat. Schnelleres Lesetempo als gewohnt ist am Anfang extrem anstrengend und frustrierend für den Nutzer. Auch das Verständnis ist geringer.

derStandard.at: Also besser kein überhöhtes Lesetempo?

Dingler: Je mehr man so liest, desto mehr relativiert sich dieses Frustrationsgefühl, es stellt sich ein Gewöhnungseffekt ein. Wir haben Leute stundenlang in unserem Labor lesen lassen. Und trotz dieses Entfremdungsgefühls am Anfang hat sich eine Art Lerneffekt eingestellt, und die Frustration damit verringert. Wenn man den Leuten hinterher erzählt, dass sie mit 150 Prozent ihrer eigentlichen Geschwindigkeit gelesen haben, empfinden sie das schon als großen Erfolg. Man müsste aber untersuchen, wie sich das auf lange Sicht auswirkt.

derStandard.at: Das Leben mit dem Lesestress, quasi.

Dingler: Genau – wann ist der akzeptabel? Wenn ich morgens im Büro rasant all meine E-Mails lesen kann, stört das wohl weniger, als wenn ich abends im Bett liege und meine Freizeitliteratur zur Hand nehme, um runterzukommen.

derStandard.at: Gibt es eigentlich Unterschiede in der Rezeption einer gedruckten Zeitungsseite und einer ebenfalls nachrichtenorientierten Webseite?

Dingler: Zeitungen hatten schon das eine oder andere Jahrhundert Zeit, herauszufinden, welche Spaltenbreite, welche Seitengestaltung optimal mit ein oder zwei Augenfixierungen pro Zeile zu lesen sind. Da sind sie schon sehr erfahren. Das scheint mir im Web noch sehr unstrukturiert. Und die Erwartungshaltung des Lesers ist eine andere: Mit einer Kaffeetasse und einer Zeitung nimmt man sich wohl tatsächlich Zeit für einen Artikel. Im Internet, das ist auch nachgewiesen, ist jedenfalls die Geduldshaltung des Nutzers ganz anders.

derStandard.at: Ganz anders meint: Es ist eher eine Ungeduldshaltung?

Dingler: Das ist eher ein Such- und Findeverfahren, etwa zu einem aktuellen Ereignis, ein Durchskimmen durch den Text. Schon die Ladezeit einer Webseite wirkt sich signifikant darauf aus, ob ein Text gelesen wird oder nicht. Dazu kommen die Werbebanner am Rand – der Leser hat da inzwischen gelernt, zu ignorieren, was sich da noch aufbaut – wenn die Werbung nicht die ganze Webseite vorübergehend lähmt.

derStandard.at: Wie sollte Text denn in digitalen Medien gestaltet sein, damit er gelesen und aufgenommen wird – abgesehen davon, dass er prompt erscheint?

Dingler: Wir haben zum Beispiel beobachtet, dass sich die Sprache ein bisschen geändert hat. Aber den Text schlechthin gibt es ja nicht: Ein gut recherchierter Artikel, ob gedruckt oder online gestellt, unterscheidet sich natürlich stark von einem Blog-Eintrag - in der Tiefe der Recherche, dem Hintergrund und Können des Journalisten gegenüber dem bloggenden Nachbarn.

derStandard.at: Da muss ich einwenden: Ich kenne nicht wenige Blogger, deren Sachkenntnis und Formulierungskunst ich sehr gerne hätte.

Dingler: Ich wollte auch keinesfalls Blogger gesamthaft abwerten. Aber wir haben eine so demokratisierte Informationsgesellschaft, dass da einiges zusammenkommt. Das lässt sich übrigens auch in der bisher eher geringen Bereitschaft ablesen, für Texte aus dem Internet etwas zu zahlen. Rein psychologisch erwartet man eine niedrigere Qualität, als wenn ich eine Zeitschrift kaufe.

derStandard.at: Wie und worauf lesen Sie denn?

Dingler: Ich lese sehr gern auf meinem Kindle, weil ich relativ viel unterwegs bin und fünf bis zehn Bücher parallel lese. Vor allem ohne Hintergrundbeleuchtung – als Informatiker sitze ich untertags schon genug vor dem Bildschirm. Ich habe aber tatsächlich auch physische Bücher zu Hause stehen.

derStandard.at: Und wie ist das so, mit einem richtigen Buch?

Dingler: Hardcover frustrieren mich inzwischen. Wenn ich mich in den Lesesessel reinschludere, dann lässt sich immer eine Seite des Buches gut lesen, meist die rechte. Und die linke Seite schlackert herum. Der Kindle zeigt dem Leser immer die gute Seite. Aber ich muss zugeben: Artikel, die länger sind als zehn Seiten, drucke ich mir im Büro dann doch aus. Schon um darauf zu notieren und anzustreichen. (Harald Fidler, derStandard.at, 26.1.2015)