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Radikale Salafisten verteilen kostenlose Ausgaben des Koran.

Foto: epa/Stratenschulte

Ein Profil radikalisierter islamistischer Jugendlicher gebe es nicht, erklären die Soziologinnen Maruta Herding und Michaela Glaser vom Deutschen Jugendinstitut, an dem unter anderem zu Radikalisierung und deren Prävention geforscht wird. "Religiöse Kenntnisse sind bei radikalisierten Jugendlichen kaum vorhanden. Die Jugendlichen stoßen auf die radikale Richtung und gehen dann sehr stark darin auf, ohne sich damit theologisch auseinanderzusetzen", sagt Herding. Bewegungen wie der Salafismus würden an den jugendlichen Wunsch nach Protest anknüpfen. Auch die Orientierungssuche während der Jugend spiele eine Rolle, erklärt Glaser. Bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund kämen auch Ausgrenzungserfahrungen hinzu, sowie eine Entfremdung von der Herkunftskultur, was dazu führe, dass sie sich "doppelt wurzellos" fühlen.

derStandard.at: Die Zeichen für Radikalisierung bei rechtsextremen Jugendlichen sind weitgehend bekannt. Jeder weiß etwa, wie ein Skinhead aussieht. Welche Zeichen gibt es bei islamistischen Jugendlichen?

Herding: Das Aussehen von radikalisierten Muslimen unterscheidet sich meist nicht von normalen Muslimen. Man kann das eher am Verhalten erkennen. Die Jugendlichen wechseln den Freundeskreis oder treten in der Familie anders auf. Sie wollen etwa ihren Geburtstag nicht mehr feiern, weil das angeblich nicht islamisch sei, oder sie wollen nicht mehr Weihnachten feiern, wenn das die Familie vorher getan hat.

derStandard.at: Wo liegen die Ursachen für die Radikalisierung?

Herding: Es gibt kein Profil radikalisierter islamistischer Jugendlicher. Oft gibt es eine Sinnkrise nach persönlichen oder familiären Krisen. Was auch häufiger vorliegt, ist ein starkes Bewusstsein für Ungerechtigkeiten gegen Muslime weltweit, etwa in internationalen Konflikten. Es geht auch um Diskriminierungserfahrungen in Westeuropa, oft haben die Jugendlichen diese selbst erlebt, oder sie haben das Gefühl, dass Muslime nicht willkommen sind, auch wenn sie das vielleicht selbst gar nicht erlebt haben. Religiöse Kenntnisse sind bei radikalisierten Jugendlichen kaum vorhanden. Die Jugendlichen stoßen auf die radikale Richtung und gehen dann sehr stark darin auf, ohne sich damit theologisch zu beschäftigen. Meist ist es so, dass Jugendliche, die sich schon in der Moschee stark mit der Religion auseinandergesetzt haben, eher gefeit vor Radikalisierung sind. Und schließlich findet Radikalisierung häufig während der Zeit der Orientierungs- und Sinnsuche statt.

derStandard.at: Aber deshalb muss man nicht gleich Islamist werden, diese Suche betrifft viele Jugendliche.

Herding: Das stimmt, es kommen mehrere Dinge zusammen. Eine radikale Richtung ist auch deshalb interessant, weil man ein Dagegensein ausdrücken kann, entweder gegen das Elternhaus oder gegen die Mehrheitsgesellschaft. Das knüpft an ein jugendliches Bedürfnis nach Protest an. Den Jugendlichen wird ein Abenteuer versprochen. Es wird ein Kampf von Gut gegen Böse inszeniert, ihnen wird darin eine Rolle gegeben, sie werden zu heroischen Kriegern hochstilisiert. Im Salafismus gibt man sich als moralisch überlegen, nicht nur den Nichtmuslimen, sondern auch anderen Muslimen gegenüber, die den Islam demnach falsch verstehen. Man gibt den Jugendlichen also das Gefühl, sie gehörten zu einer ausgewählten Gruppe, die moralisch und intellektuell verstanden hat, worum es geht. Es wird die "einzige Wahrheit" vorgegaukelt.

Glaser: Man wundert sich oft darüber, warum das auch für junge Frauen attraktiv ist. Das liegt an den klaren Rollenbildern und den vermeintlich klaren Perspektiven, die in einer Phase der Orientierungssuche vermittelt werden. Radikalisierung ist aber natürlich kein zwangsläufiger Prozess. All das kann bei vielen Jugendlichen zusammenkommen, und trotzdem radikalisieren sie sich nicht. Letztendlich sind das Risikofaktoren. Radikalisierung ist wie auch beim Rechtsextremismus gerade im Jugendalter ein offener Prozess, deshalb ist auch wieder eine Distanzierung möglich. Auch muss man unterscheiden zwischen unterschiedlichen Motiven und "Typen" der Radikalisierung. Jemand, dem es vor allem um Zugehörigkeit und Anerkennung geht, ist ein anderer Fall als jemand, der primär aus ideologischen Motiven handelt.

derStandard.at: Sind diese Radikalisierungsprozesse – ob etwa beim Rechtsextremismus oder beim Islamismus – immer dieselben?

Glaser: Das lässt sich nur mit Einschränkungen beantworten, da nicht immer vergleichbare Forschungsergebnisse vorliegen. Gemeinsamkeiten gibt es bei den individuellen Karrieren. Es gibt diese Phase in der Jugend, in der man offen ist für Angebote, die Zugehörigkeit versprechen und ein Abgrenzen von den Eltern. Ausgrenzungserfahrungen machen Jugendliche für Radikalisierung anfälliger, das sehen wir beim Rechtsextremismus auch. Bei rechtsextremen Jugendlichen kann das etwa sein, dass sie sich in der Schule nicht anerkannt fühlen oder gemobbt werden. Im Islamismus gibt es das Spezifikum, dass die Ausgrenzung von Migranten an ihrer Herkunft liegt. Das können sie nicht ändern und nicht abstreifen. Dazu kommt, dass sie sich von ihrer Herkunftskultur entfernt haben, sodass sich manche damit doppelt wurzellos fühlen.

derStandard.at: Was können Eltern tun, wenn sie feststellen, dass sich ihr Kind radikalisiert?

Glaser: Es ist ganz wichtig, dass die Eltern im Gespräch bleiben und den Kontakt zu den Jugendlichen nicht aufgeben. Sie sollten sich aber professionelle Hilfe holen und sich beraten lassen. Gerade wenn Jugendliche stärker radikalisiert sind, kann es schwierig sein, wenn die Eltern sich beispielsweise auf Diskussionen über die Auslegung des Islams einlassen. Diese Konfrontation kann dazu führen, dass sich die Jugendlichen abwenden. Die Eltern haben aber die Funktion, ein alternatives soziales Umfeld zu bieten. Die inhaltlichen Diskussionen können Mitarbeiter professioneller Beratungsstellen führen.

derStandard.at: Österreichische Lehrer sollen Jihadismus-verdächtige Schüler der Schulaufsicht melden. Ab wann würden Sie eine solche Meldung empfehlen?

Herding: Das ist ein sensibles Feld, wo man behutsam und differenziert vorgehen muss. Es kann auch jemand religiöser werden, ohne radikal zu sein. Wenn Lehrer sehen, dass sich bei Schülern der Freundeskreis komplett ändert oder wenn diese sich positiv zum sogenannten IS äußern, dann könnte man anfangen, sich Sorgen zu machen.

Glaser: Experten in Deutschland fordern deshalb zum einen ein breites Netz an Meldemöglichkeiten. Zum anderen gilt es Lehrer und Jugendarbeiter zu qualifizieren, um solche Prozesse jenseits von Alarmismus und Verharmlosung zu erkennen und angemessen reagieren zu können. Wichtig für das Vorgehen in der Schule ist auch: Wenn Lehrer in der Klasse Islam und Islamismus thematisieren, dann müssen sie aufpassen, dass sie die Schüler nicht stigmatisieren oder muslimfeindliche Bilder befördern. Wir raten deshalb dazu, den Islam differenziert darzustellen. Also Aufklärung über die barmherzigen und gewaltfreien Teile des Islam, um zu zeigen, dass die Religion nicht mit Islamismus gleichzusetzen ist.

derStandard.at: In welchem Fach sollte das passieren?

Glaser: Das kann in jedem Fach sein, etwa in Ethik, Religion oder Geschichte. Man kann sich aber auch Projekte von außen holen, die mit den Jugendlichen arbeiten. Solche Workshops sind frei von Notendruck, das ist sehr wichtig.

derStandard.at: Können Lehrer überhaupt dabei helfen, Radikalisierungsprozesse bei Jugendlichen aufzuhalten? Schließlich stehen sie außerhalb von deren Community.

Herding: Wenn man auf dem Weg in die Radikalisierung ist, sind alternative soziale Kontakte ein zentraler Aspekt. Menschen, die andere Perspektiven aufzeigen. Das kann jeder sein, der einen guten Draht zum Jugendlichen hat.

derStandard.at: Der IS stellt seine Propaganda ins Netz. Jeder kann sich Exekutionsvideos anschauen. Was können Eltern tun, wenn sich ihre Kinder solche Videos ansehen?

Glaser: Das Schlimmste wäre, mit Strafe und Unverständnis zu reagieren. Die Eltern sollten nachfragen, warum ihr Kind das Video anschaut und welche Wirkung es hat. Wenn man das Gefühl hat, dass etwas Ernsteres dahinter ist, muss man sich professionelle Hilfe suchen.

derStandard.at: Die Radikalisierungsprozesse bei Islamisten gehen besonders schnell. Wie erklären Sie sich das?

Herding: Der deutsche Verfassungsschutz hat untersucht, wie die Radikalisierung bei Jugendlichen verlaufen ist, die nach Syrien ausgereist sind. Es hat sich gezeigt, dass es in einigen Fällen tatsächlich sehr schnell geht und im Durchschnitt etwa ein bis zwei Jahre dauert. Im Moment gibt es die Möglichkeit, relativ einfach nach Syrien zu reisen. Die Gelegenheit und das Ziel sind da.

derStandard.at: Spielt hier auch der leichte Zugang zu IS-Videos im Internet eine Rolle?

Herding: Das ist wissenschaftlich noch nicht belegt, aber es ist sehr wahrscheinlich, weil es viel leichter geworden ist, ungefiltert an diese Informationen heranzukommen.

Glaser: Das Internet befördert das sicherlich, in vielen Fällen sind für die Radikalisierung aber auch reale soziale Kontakte relevant. Ein Grund für die starke Mobilisierungskraft ist wohl auch, dass die Ideologie im Moment erfolgreich ist. Der IS gewinnt Land.

derStandard.at: Was kann die Mehrheitsgesellschaft tun, damit sich muslimische Jugendliche, die sich ausgegrenzt fühlen, nicht radikalisieren?

Glaser: Man kann Islamismus nicht thematisieren, ohne auch Muslimfeindlichkeit anzusprechen. Ich finde den Satz "Der Islam gehört zu Deutschland", den Kanzlerin Angela Merkel gesagt hat, unheimlich wertvoll. Wenn man die religiösen Orientierungen als gleichberechtigt anerkennt, hat man auch die Möglichkeit, bestimmte Entwicklungen zu kritisieren.

derStandard.at: In der derzeitigen Debatte heißt es, dass muslimische Schüler keinen Respekt vor ihren Lehrerinnen hätten und die Eltern eine Zusammenarbeit verweigerten. Österreichs Integrationsminister Sebastian Kurz hat vorgeschlagen, dass Lehrer die Schüler verpflichten können, einen Dienst am Schulstandort zu leisten. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Herding: Mein erster Eindruck ist, dass es ein populistischer Vorschlag ist. Meist sind das Einzelfälle, die aber herangezogen werden, um muslimische Schüler insgesamt zu pauschalisieren.

Glaser: Das ist genau diese Stigmatisierung, dass man sagt: Zuwanderer oder Muslime haben ein spezielles Problem. Viel besser wäre es, zu sagen: Wenn Schüler, egal welcher Herkunft, sich nicht diszipliniert verhalten oder respektlos sind, dann haben wir dafür Gesetze und Vorschriften an der Schule. Sonst bestätigt so etwas das Gefühl der Ausgrenzung bei muslimischen Jugendlichen. (Lisa Kogelnik, derStandard.at, 27.1.2015)