An der Neuen Mittelschule in Enns ermuntert Lehrerin Barbara Hintenaus die Schüler dazu, über Extremismus und Radikalismus zu reden.

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Buben fetzen zwischen den Bankreihen hin und her, Mädchen sitzen eng zusammengedrängt und tuscheln. Barbara Hintenaus steht vor ihrer ersten Klasse der neuen Mittelschule in Enns. Als sie vor die 19 Buben und vier Mädchen tritt, schreibt sie gleich etwas an die Tafel: "Jesus Charlie", liest ein Bursch vor und zuckt die Schultern. Die Lehrerin sagt nichts, wartet zu. "Je suis Charlie", meint kurz darauf ein anderer Schüler, er weiß mit dem Spruch etwas anzufangen. Ob das der Rest der Klasse auch kann, will Hintenaus wissen. Jeder Schüler soll sein Gedankentagebuch aus dem Bankfach nehmen und aufschreiben, was ihm einfällt.

Krieg im Klassenzimmer

Die Pädagogin hat den Anschlag und damit die Folgen von Radikalismus nicht gleich nach dem Attentat in Paris zum Thema gemacht: "Ich habe selber erst einmal meine Gedanken ordnen müssen." Unterrichtsmaterial zum Thema Extremismus gibt es an den (meisten) Schulen nicht. Es existieren zwar Angebote für Weiterbildungen, so hat Hintenaus etwa einen Kurs "Wenn der Krieg ins Klassenzimmer kommt" besucht. Doch darum müssen sich Lehrer eigenständig kümmern.

Das Land Oberösterreich hat aufgrund der aktuellen Ereignisse schon reagiert. Mit Sommersemester wird ab der siebenten Schulstufe verpflichtend der Schwerpunkt Extremismusprävention eingeführt, kündigte Bildungslandesrätin Doris Hummer an. Das Zentrum für interreligiöses Lernen, Migrationspädagogik und Mehrsprachigkeit an der Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz wird sowohl für Ausbildung der Lehrer als auch für Unterrichtsmaterial zuständig sein. Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek hat 300 entsprechende Workshops an Schulen angeboten.

Barbara Hintenaus hat sich ihre Materialien selbst zusammengestellt. Als sie wenige Tage nach Paris hörte, dass ein Mädchen aus Enns festgenommen worden war, weil es versucht haben soll, sich dem "Islamischen Staat" (IS) als Braut für Terroristen anzuschließen, sei ihr erst richtig bewusst geworden, "wie nahe das Thema Radikalismus an uns und meiner Schule ist". Wie sich im Laufe des Vormittags herausstellen sollte, kannten manche an der neuen Mittelschule jene 17-jährige Bosnierin. "Sie war auf der Hauptschule, meine Schwester hat manchmal was mit ihr gemacht", erzählt ein Bub aus der zweiten Klasse.

"Du sollst nicht töten"

"Meine Eltern haben gesagt, man darf nicht im Namen Allahs töten", trägt ein muslimischer Schüler aus seinem Gedankentagebuch vor. Nachdem noch andere Einträge vorgelesen sind, beginnt die Lehrerin zu erzählen, was in Paris geschehen ist. Dass zwölf Redakteure erschossen wurden, weil sie Karikaturen gezeichnet haben. Sie holt aus ihrer Tasche verschiedene solcher Zeichnungen heraus. "Warum muss man sich so über Mohammed lustig machen?", fragt ein Schüler.

Seine Meinung frei äußern zu können, sei "ein wichtiges Recht in unserer Demokratie", erklärt die Lehrerin. "Und natürlich hast du auch das Recht zu sagen, dass du es nicht gut findest." Aber wegen eines Bildes einen Menschen zu töten, "da werden jegliche Grenzen überschritten", stellt sie klar. In jeder Religion heiße es doch: "Du sollst nicht töten!"

Respekt lautet der diesjährige Schwerpunkt an der neuen Mittelschule. Was dies im (Schul-)Alltag bedeutet, steht auf selbstgestalteten Plakaten, die in den Schulgängen hängen. Ein "ABC der Achtsamkeit" für ein friedvolles Miteinander, so die Ausgangsüberlegung zum Projekt.

WhatsApp-Gruppe

In der zweiten Klasse redet Hintenaus an diesem Vormittag über würdevollen Umgang und die Verletzung von Grundrechten. Dabei fällt ihr auf, dass ein an sich lebhafter Bub immer ruhiger wird. Es ist der Enkel des Karikaturisten Gerhard Haderer. Die Lehrerin will wissen, wie es ihm geht, seine persönliche Betroffenheit ist ihm anzumerken. "Mein Opa zeichnet auch Karikaturen", meint er nur recht leise. Ein anderes Kind berichtet, dass sein Vater über WhatsApp einen Witz geschickt bekommen habe, über den er gar nicht lachen konnte. "Warum liegt in der Türkei kein Schnee? Weil sie Ramadan haben." Dieses Wortspiel mit dem oberösterreichischen Dialekt ("rama dama" meint "aufräumen tun wir") kam bei der muslimischen Familie nicht gut an. "Steig aus der WhatsApp-Gruppe aus", rät die Klasse.

Mittlerweile dreht sich alles um die Frage: Wie gehe ich als Muslim damit um, wenn ich beschimpft werde? Denn auch davon berichten Schüler ihrer Lehrerin. Wenige Tage nach den Morden in Frankreich wurden zwei ihrer muslimischen Schüler - in ihrer ersten Klasse gibt es insgesamt zehn - in der Mittagspause vor einem Lebensmittelgeschäft blöd angemacht. "Na, ihr gehört doch eh alle zum IS", soll ein deutlich älterer Bursch gesagt haben. In so unterlegenen Situationen rät die Lehrerin zu einer Deeskalations-Strategie: "Mund halten und gehen" - was die Schüler auch taten. Aber Hintenaus will noch vorfühlen, ob nicht vielleicht doch an der Schule Kinder radikale Überzeugungen haben und diese verbreiten. So spricht sie mit der Klasse über erste mögliche Hinweise. Und hört, dass ein Schüler ein Youtube-Video - "Sei nicht faul, engagiere dich für den Islam" - weiterverschickt haben soll. Einige versichern, das Video gelöscht zu haben.

Karikaturen zeichnen

Auch in der letzten Schulstunde, bildnerische Erziehung, stellt die Pädagogin "Je suis Charlie" in den Mittelpunkt. Die Viertklässler zeichnen erste Karikaturen, und es entsteht die Idee, daraus ein Kunstprojekt zu entwickeln. Die Ergebnisse sollen in der Bücherei in Enns ausgestellt werden. (Kerstin Scheller, DER STANDARD, 28.1.2015)