Viele Männer hatten zu Beginn große Skepsis gegenüber dem Projekt und erlaubten ihren Frauen nicht, daran teilzunehmen.

Foto: Hülya Tektas

Der Wunsch nach einer Beschäftigung kam von den Frauen in den Lagern. Jetzt sind die Nähmaschinen nur selten unbesetzt.

Foto: Hülya Tektas

Ob in Diyarbakir, Cizre oder Suruc, hier wie da überwältigt das gleiche Bild die Besucher und Besucherinnen der Flüchtlingslager entlang der irakisch-türkischen und syrisch-türkischen Grenze: Frisch gewaschene Wäsche hängt an allen möglichen Plätzen, während Frauen Geschirr oder Wäsche waschen.

Zweifelsohne sind es gerade die Frauen, die in allen Flüchtlingslagern der Welt eine große Last auf ihren Schultern tragen. Ein Frauenprojekt im Flüchtlingslager von Diyarbakir soll jedoch einen zumindest ansatzweise hoffnungsvollen Ort aus dem Lager machen.

Die 27-jährige Rewsen erzählt ihre Geschichte, während die Nähmaschine läuft und die Ecken einer Bettwäsche näht. Als ihr Dorf die Nachricht erreichte, dass die IS-Milizen jesidische Dörfer angriffen, entschied sich ihre Großfamilie wie andere Dorfbewohner zu fliehen. Erst nach einem zwei Tage langen Marsch kamen sie in Rojava, Syrisch-Kurdistan, an. Von dort wurden sie dann unter Begleitung der YPG-Guerillas über den Irak an die türkische Grenze gebracht.

Insgesamt waren sie acht Tage lang unterwegs. Acht lange Augusttage in unbarmherziger Hitze, die unterwegs drei kleinen Kindern das Leben nahm. Rewsen ist dankbar dafür, dass sie niemanden aus ihrer Familie verloren hat, trauert jedoch um ihre alten Nachbarn aus dem Dorf, die zu schwach für die Flucht waren. Und auch um viele ihrer Glaubensschwestern und -brüder, die von den IS-Milizen vergewaltigt, versklavt oder getötet wurden.

Die schwachen Sonnenstrahlen am Dezemberhimmel lassen Rewsens Sorgen wegen des bereits eingetretenen, aber noch sehr milden Winters nicht weniger werden. Sie hat Angst vor dem Schnee, auf den jedoch ihre beiden Kinder sehnsüchtig warten. Zwar gibt es in den Zelten Heizgeräte, aber die vielen Stromausfälle beunruhigen die Menschen hier.

Kreative Arbeiten als Traumabewältigung

Die Nähmaschinen in der zweistöckigen Hütte in der "Zeltstadt" von Diyarbakir sind selten unbedient. Stets sitzen dort Frauen und nähen. Sie verwandeln Stoffreste in Kindertaschen, Bettwäsche oder Kleidungsstücke. Kinder, die um jeden Preis um jede noch so kleine Aufmerksamkeit kämpfen, sind im Atelier nicht erwünscht. Hierhin ziehen sich die Frauen etwas zurück, um für eine kurze Zeit Abstand von ihren Familien und den alltäglichen Sorgen eines "Lagerlebens" zu nehmen. Auch Rewsen verbringt viele Stunden im Frauenatelier der Zeltstadt.

Welat Aktas und Sükran Mizrak, die Verantwortlichen dieses Projekts, stehen rund 200 Frauen und Mädchen mit Rat und Tat zur Seite. Während Frauen mit Näherfahrung geschickt an Nähmaschinen arbeiten, häkeln und stricken junge Frauen und Mädchen Mützen, Schals, Haarschmuck und Ähnliches.

Am meisten werden in den Ateliers weiße Kleider genäht. Weiße Kleider mit insgesamt neun Knöpfen oder Löchern am rund geschnittenen Kragen, die die Planeten symbolisieren sollen. Und der Kopf steht für die einzigartige Sonne, der die naturgebundene jesidische Lehre eine sehr große Rolle beimisst: Sie ist die Quelle des Lebens, das sichtbare Symbol Gottes auf Erden. Es ist die Pflicht jeder Jesidin, einmal so ein Kleid zu tragen. Es darf jedoch nicht gekauft, sondern muss selbst genäht werden.

Der Wunsch nach dieser Art von Beschäftigungstherapie kam von den Frauen in den Lagern. Als die IS-Milizen Anfang August die Region Sengal im Nordirak angriffen, entführten und versklavten sie jesidische Frauen. Das furchtbare Leid auf dem Fluchtweg und auch die Angst, der IS in die Hände zu fallen, traumatisierten die Frauen. Dieses Trauma verarbeiten sie mit kreativer Arbeit in insgesamt fünf Frauenateliers im Flüchtlingslager von Diyarbakir.

Darüber hinaus soll durch dieses Projekt mehr Gemeinschaft und Solidarität zwischen den in den Zelten voneinander isoliert lebenden Frauen hergestellt werden. Eine Ausstellung mit den Arbeiten der Frauen aus dem Atelier habe zudem Einnahmen erbracht, die für die Bedürfnisse der Frauen aufgewendet werden, betonen Mizrak und Aktas. Dieses Projekt wird von der Frauenberatungsstelle Ceren in Diyarbakir betreut. Die Stadtverwaltung und andere Frauenprojektstellen unterstützen die Arbeiten in Frauenateliers ebenfalls. Für später sind auch psychosoziale Beratungen und medizinische Aufklärungsseminare geplant, wofür jedoch derzeit finanzielle Mittel fehlen.

Archaische Regeln der jesidischen Gesellschaft

Es war jedoch am Anfang keine Selbstverständlichkeit, dass die Frauen hierherkommen: Männer haben nach wie vor große Skepsis gegenüber diesem Projekt. "Manche von ihnen erlauben ihren Frauen nicht, an den Aktivitäten teilzunehmen", sagen Mizrak und Aktas, die immer große Überzeugungsarbeit leisten müssen. Für Themen wie Gewalt in der Familie, Genderrollen und Frauenrechte sei es noch zu früh, meinen Mizrak und Aktas. Die jesidischen Familien, die sich von der Außenwelt eher abschließen, seien dafür noch nicht bereit. Frauen müssen um Erlaubnis bitten, um an den Atelierarbeiten teilzunehmen.

"Noch herrschen strenge archaische Regeln unter den Jesiden", sagt Güllü Özalp. Die zweifache Mutter ist Schauspielerin im Stadttheater und ebenfalls Mitarbeiterin der Stadtverwaltung. Seit jeher unter Verfolgung der Muslime, aber auch von Angehörigen anderer im Nahen Osten verbreiteter Religionen, leben die Jesiden noch immer zurückgezogen. "Diese Zurückgezogenheit war vermutlich notwendig, um ihre Religion und Tradition in einer von Muslimen dominierten Umgebung zu erhalten", sagt Özalp.

Alltag in der Zeltstadt und ungeahnte Bedürfnisse

Sie verbrachte viele Tage und Nächte in dem Flüchtlingslager. Mitarbeiter der Stadtverwaltung sind zusätzlich abwechselnd dort tätig. "Jeweils fünf Angestellte jeder Verwaltungseinheit arbeiten abwechselnd im Lager", sagt Gültan Kisanak, die Bürgermeisterin von Diyarbakir. Die Sicherheitsmaßnahmen im Flüchtlingslager, in dem ausschließlich Jesiden aus Sengal im Nordirak untergekommen sind, sind sehr streng. Selbst Personen, die bereits über eine Zutrittsgenehmigung verfügen, lässt man warten, alles wird zweimal überprüft. Männer spielen Fußball oder sitzen in Gruppen zusammen, während Frauen arbeiten. Und Kinder beschäftigen sich selbst. Manche Flüchtlinge wiederum sitzen vor einer Hütte, wo sie auf eine Untersuchung und Medikamente warten. Jene, die schwer krank sind, werden ins Krankenhaus begleitet. Bisher gab es im Flüchtlingslager rund 50 Geburten. Der beliebteste Name: Rewi, "die Flucht". Da es seit August einige ungewünschte Schwangerschaften gab, die auf Wunsch der Frauen abgebrochen wurden, hielt Özalp Familienplanungsseminare für sinnvoll.

Die Sonne geht langsam unter, und es wird dunkel. Die Kinder von Rewsen schauen durch das Glasfenster ins Atelier und winken ihrer Mutter zu, die gerade dabei ist, eine Jeanshose zu kürzen. Währenddessen putzen, waschen, häkeln und stricken andere Frauen, um die Sorgen zu vergessen und ihr Leben in den Zelten ansatzweise in einen besseren Ort zu verwandeln. (Hülya Tektas, dieStandard.at, 2.2.2015)