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Adipositas ist laut Europäischem Gerichtshof keine Behinderung, allerdings kann sie solche im Arbeitsleben verursachen.

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Wien – Karsten Kaltoft war Arbeitnehmer der dänischen Gemeinde Billund und 15 Jahre als Tagesvater in einem Heim für Kinder beschäftigt. Der schwer übergewichtige Mann war während der gesamten Beschäftigungszeit "adipös" im Sinne des WHO-Klassifikationscodes. Wegen des Rückgangs der zu betreuenden Kinderanzahl beschloss die Gemeinde, einen Arbeitnehmer zu kündigen. Die Wahl fiel auf Kaltoft.

Im Kündigungsschreiben der Gemeinde wurde als Grund der Rückgang der Kinderzahl genannt. Kaltoft aber klagte die Gemeinde und machte geltend, er sei wegen seiner Adipositas gekündigt und deshalb Opfer einer Diskriminierung geworden; er begehrte von der Gemeinde Schadenersatz.

Der Fall wurde dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt, der ein differenziertes Urteil fällte (EUGH 18. 12. 2014, C-354/14 – Kaltoft).

Diskriminierungsverbot

Laut EuGH kenne das EU-Recht kein allgemeines Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas als solche in Beschäftigung und Beruf. Insbesondere kann die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG nicht über die dort abschließend genannten Diskriminierungsgründe Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexuelle Ausrichtung hinaus ausgedehnt werden.

Ferner sei Adipositas zwar an sich keine Behinderung im Sinne der Richtlinie. Adipositas könne allerdings – so der EuGH – dann mit einer "Behinderung" im Sinne der genannten Richtlinie gleichzusetzen sein, wenn sie erstens eine Einschränkung mit sich bringt, die auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen von langer Dauer zurückzuführen ist, und zweitens diese Beeinträchtigungen den Arbeitnehmer an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit anderen Arbeitnehmern, hindern können. Dies wäre etwa der Fall bei einer eingeschränkten Mobilität oder dem Auftreten von Krankheitsbildern, die den Arbeitnehmer an der Verrichtung seiner Arbeit hindern oder beeinträchtigen. Dabei spiele es keine Rolle, ob der Betreffende gegebenenfalls zum Auftreten seiner Behinderung beigetragen hat.

Behinderung

Was bedeutet dieses Urteil für die Praxis? Der Generalanwalt hatte die Gleichsetzung von Adipositas mit einer Behinderung am Vorliegen eines bestimmten Body-Mass-Index (BMI) festgemacht – nämlich bei einem BMI über 40. Doch die Richter stellten in ihrer Entscheidung auf das Vorhandensein von tatsächlichen dauerhaften Beeinträchtigungen bei der Erbringung der Arbeitsleistung ab.

Daraus folgt aber im Umkehrschluss, dass eine Diskriminierung wegen Adipositas dann, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit ohne Einschränkungen verrichten kann, nicht verpönt wäre. Ein adipöser Arbeitnehmer, der aus Sicht des Arbeitgebers nicht in das optische Bild seines Dynamik verkaufenden Unternehmens passt und deswegen gekündigt wird, wäre nicht geschützt. Im Bereich der Altersdiskriminierung wäre ein solches Vorgehen undenkbar.

Pyrrhussieg

Das Urteil des EuGH kann sich daher aus Arbeitnehmersicht durchaus als Pyrrhussieg erweisen. Die im Alltagsleben zweifellos immer wieder gegebene Stigmatisierung beziehungsweise gesellschaftliche Ächtung fettleibiger Menschen im Arbeitsumfeld bleibt demnach folgenlos, außer es erfolgen Rechtsverletzungen auf anderen Ebenen, etwa wenn der Arbeitgeber bei einem Mobbing seine Fürsorgepflichten (zum Beispiel Kündigung des mobbenden Kollegen) verletzt.

Diskriminierungsgefahr

Denkt man das EuGH-Urteil aber in eine andere Richtung weiter, stellt sich die Frage, welche sonstigen "psychischen, geistigen oder physischen" Einschränkungen von Dauer es geben könnte, die mit einer Behinderung im Sinne des Diskriminierungsschutzes gleichzusetzen sind. Sind zum Beispiel dauerhaft depressive Arbeitnehmer, die nicht die Normarbeitsleistung erbringen, vom Diskriminierungsschutz erfasst? Wenn man den Wertungen des EuGH im vorliegenden Fall folgt, kann dies nicht ausgeschlossen werden. Dies hätte aber zur Folge, dass performancebedingte Kündigungen solcher Arbeitnehmer immer Gefahr laufen, wegen der Verletzung von Diskriminierungsvorschriften angefochten zu werden. Es bleibt spannend. (DER STANDARD, 23.2.2015)