Seit den Anschlägen auf die Redaktion des Magazins "Charlie Hebdo" und den jüdischen Supermarkt "Hyper Cacher" in Paris sind Polizei und Sicherheitsdienste an den Tatorten stets präsent.

Die Blumen sind längst verblüht, die nassen Plastikfolien knattern im scharfen Wind. Auch die Erinnerung welkt vor dem "Hyper Cacher", dem jüdischen Supermarkt an der Porte de Vincennes, in dem es am 9. Jänner zu einer mörderischen Geiselnahme kam: Der Alltag gewinnt auch an Terrorschauplätzen rasch die Oberhand.

"Je suis Charlie", ist da noch zu lesen. Ich bin dies, ich bin das, ich bin Polizistin, ich bin Jude. Und dann auch: "Ich war François-Michel Saada" - ein 64-jähriger Pensionist, eines der vier Todesopfer im koscheren Geschäft. Besagter François-Michel wollte für das Mittagessen noch rasch Brot holen, doch im Laden war bereits Ahmedy Coulibaly am Werk. Saada erkannte das nicht, trat ein und wurde auf der Stelle erschossen.

Ihm und den übrigen 16 Todesopfern der Terroranschläge war das diesjährige Gala-Diner der jüdischen Organisationen Frankreichs (Crif) am Montagabend gewidmet. In einem Pariser Hotel traf sich Paris von links bis rechts, sowohl sozialistische Minister als auch die Crème der Opposition, angeführt von Nicolas Sarkozy. Sein linker Widersacher, Präsident François Hollande, kündigte eine Verschärfung der Gesetzgebung an, damit antisemitische Akte generell als "erschwerender Umstand" geahndet werden.

Antwort auf Netanjahu

"Die Juden sind in Frankreich zu Hause", beteuerte der Staatschef, "es sind vielmehr die Antisemiten, die in der Republik keinen Platz haben." Das war auch eine indirekte Antwort an den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, der im Jänner den Tatort aufgesucht und dort die französischen Juden wahlkampfbewusst zur Emigration in sein Land aufgerufen hatte.

Vor allem war es eine Reaktion auf die Verdoppelung der antijüdischen Gewaltakte in Frankreich: Laut Crif waren es 423 im Jahr 2013 - und 851 im Jahr danach. Die Angst grassiert unter den 500.000 französischen Juden, der größten Gemeinschaft in Europa.

Angst vor wem eigentlich? Crif-Präsident Roger Cukierman hatte vor dem Diner ins Wespennest gestochen: "Alle Gewalttaten werden heute von jungen Muslimen begangen", sagte er. Der ebenso gemäßigte wie gemächliche Präsident des muslimischen Kultusrates CFCM, Dalil Boubakeur, boykottierte den Crif-Anlass daraufhin demonstrativ. Die ganze "Je suis Charlie"-Entente liegt damit bereits wieder in Scherben. Cukierman hat unrecht: Die jüngste Schändung eines jüdischen Friedhofs im Elsass war nicht das Werk junger Muslime; und der antisemitische Komiker Dieudonné hat christliche Wurzeln.

Das Kollektiv gegen Islamophobie in Frankreich (CCIF) hält indes fest, die antiislamischen Akte hätten in Frankreich im Jahr 2014 um elf Prozent auf 764 zugenommen. Diese Zahl schließt, anders als der Crif, nicht nur verbale oder körperliche Angriffe ein, sondern auch 586 "Diskriminierungen" - etwa am Arbeitsplatz.

Frankreichs alte Dämonen sind damit zurück. Eineinhalb Monate nach den "Charlie-Attentaten" wird wieder aufgerechnet, verglichen, geneidet. Und da hören die Muslime, wie Hollande zu den Juden sagt: "Ihr habt uns so viel gegeben!" Warum sagt er das nicht auch uns, die wir Frankreich seit einem halben Jahrhundert als Arbeitskräfte dienen, fragen sich viele eingewanderte Maghrebiner.

Schauplatz Supermarkt

Zurück zur Porte de Vincennes. Dort, am Tatort, ist heute von Antisemitismus nichts zu spüren. Vor dem Hyper Cacher beobachten zwei 14-jährige Schülerinnen die Bauarbeiten und erinnern sich an den 9. Jänner: "Wir hatten schreckliche Angst, wir wussten ja nicht, was vorging", sagt Ana. "Und unsere jüdischen Mitschüler haben immer noch Angst." Viele wechselten in eine jüdische Privatschule, erzählt Alice. "Dabei wären sie bei uns in der öffentlichen Schule sicher geschützt."

Die Straßenreinigung kommt, rührt die Blumen und Kränze aber nicht an. Vorarbeiter Hussein ist gläubiger Muslim. "Ich habe viele jüdische Freunde", erzählt er. "An ihrer Stelle hätte ich jetzt auch Angst. Dabei sind wir doch alle gleich. Meine Kinder gehen mit jüdischen Kindern zur Schule. Die geraten sich wegen der Religion nicht ständig in die Haare. Die Kinder sind die Einzigen, die nicht verrückt sind."

Die Muslime und die Juden arbeiten an der Porte de Vincennes zusammen - so wie vorher (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, 25.2.2015)