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"Die Pflegelast für Kinder und Jugendliche ist so zu minimieren, ...

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... dass sie nicht mehr tun müssen, als sie selber wollen oder können", fordert Martin Nagl-Cupal.

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Es geht nicht ohne sie: die rund 43.000 Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen fünf und 18 Jahren, die den chronisch kranken Vater, die Mutter, Schwester, den Bruder oder einen Großelternteil pflegen. Viele von ihnen brauchen Unterstützung in der Bewältigung des familiären Alltags und entlastende Angebote. Dazu muss man sie aber erst einmal erreichen, betont der Pflegewissenschaftler Martin Nagl-Cupal von der Uni Wien.

STANDARD: Laut Ihrer Studie aus dem Jahr 2012 pflegen etwa 3,5 Prozent der Fünf- bis 18-Jährigen ein oder mehrere Familienmitglieder. Wie ist dieser Anteil im europäischen Vergleich einzuordnen?

Nagl-Cupal: Das Grundproblem ist, dass es - außer in Großbritannien und Österreich - dazu kaum Daten gibt, weil sie sich nur schwer erheben lassen. Man geht davon aus, dass in allen westlichen Ländern zwischen zwei und vier Prozent der Kinder und Jugendlichen Familienangehörige pflegen. Ich traue mich zu behaupten, dass wir mit unserer Messmethode - nämlich Kinder in Schulen zu befragen - in allen westlichen Ländern auf einen ähnlichen Wert kommen würden.

STANDARD: Worauf ist bei pflegenden Kindern besonders zu achten? Welche Unterstützung ist notwendig?

Nagl-Cupal: Einzelne Kinder sind nicht selten mit Situationen konfrontiert, die sie total überfordern. Es geht darum aufzuzeigen, wie sich das Kind verhalten soll, wenn das zu pflegende Familienmitglied zum Beispiel einen epileptischen Anfall hat und zitternd am Boden liegt. Außerdem braucht es Ansprechpersonen im Notfall, von denen temporär Unterstützung kommt, und letztendlich sind aufsuchende Hilfen nötig, die den Familien Möglichkeiten aufzeigen, wie sie mit ihrer Situation besser umgehen können. Ziel ist es letztendlich, die unmittelbare Pflegelast für die Kinder und Jugendlichen zu minimieren, damit sie nicht mehr tun müssen, als sie selber wollen oder aufgrund ihres Alters und Entwicklungsstandes können.

STANDARD: Großbritannien wird im Umgang mit "Young Carers" als Vorbild bezeichnet. Was macht man dort anders?

Nagl-Cupal: Dort beschäftigt man sich mit dieser Thematik bereits seit Anfang der 1990er-Jahre. Das heißt, die Briten haben hier einen zeitlichen Vorsprung von 15 bis 20 Jahren. Mittlerweile gibt es in Großbritannien schätzungsweise mehr als 300 Programme und "Young Carers"-Projekte, die auf lokaler und regionaler Ebene den Betroffenen Hilfe anbieten. Durch die lange Beschäftigung mit dieser Problematik gibt es auch ein vergleichsweise hohes Bewusstsein für dieses Thema in der Bevölkerung. Das ist bei uns absolut noch nicht der Fall. Dieses Bewusstsein ist aber die Voraussetzung dafür, dass die Betroffenen überhaupt wahrgenommen werden. So gesehen ist das ein Vorsprung, der nicht von heute auf morgen aufzuholen ist. Selbst wenn wir jetzt in Österreich 150 Unterstützungsprogramme aufbauen würden, hätten wir das Problem, dass keine Kinder kommen würden.

STANDARD: Der zeitliche Vorsprung im Umgang mit "Young Carers" in Großbritannien könnte doch auch für das österreichische System dienlich sein. Warum werden diese Erkenntnisse nicht intensiver genutzt?

Nagl-Cupal: Wir haben in einer zweiten Studie ein Rahmenkonzept vorgelegt, das zeigt, welche Maßnahmen den betroffenen Familien helfen. Das bedeutet konkret, dass die bereits gewonnen Erkenntnisse aus Großbritannien zwar herangezogen werden können, diese aber in unseren Kontext übersetzt werden müssen - und das braucht eben Zeit. Beispielsweise wissen wir, dass Aktionen, mit denen "Young Carers" geholfen werden soll, in der unmittelbaren Umgebung anzusiedeln sind, wo die betroffenen Kinder und Jugendlichen leben. Was es braucht, sind beispielsweise "Clubs", in denen sich die Kinder und Jugendlichen treffen können oder die Kooperation und Vernetzung mit Schulen, um etwa Bewusstseinskampagnen umzusetzen. Zuerst muss jedoch daran gearbeitet werden, die Kinder und Jugendlichen zu erreichen. Denn was bringen gut gemeinte Programme, wenn sie keiner nutzt?

STANDARD: Warum ist es so schwierig, die Kinder und Jugendlichen zu erreichen?

Nagl-Cupal: Das hat individuelle Ursachen. Manche schämen sich, andere haben das Gefühl, sie dürfen nicht darüber reden, weil ihre Situation abnormal ist. Viele haben auch Angst, dass sich das negativ auf die Familie auswirken kann. Das muss man sich so vorstellen: Es kommt jemand in die Familie und denkt sich: "Oh Gott, da pflegen Kinder. Das grenzt ja schon an Kindesmissbrauch." Hier gibt es natürlich die Sorge, dass die Kinder aus der Familie genommen werden. Für manche Betroffene trifft wiederum zu, dass sie ihre Situation als ganz normal einschätzen und deshalb nicht darüber sprechen.

STANDARD: Wer die Diskussion über pflegende Kinder und Jugendliche in Österreich verfolgt, hat mitunter den Eindruck, dass Kinder und Jugendliche als Pflegekräfte ein fixer Bestandteil des Systems sind. Ist das ein Zustand, mit dem wir leben lernen müssen?

Nagl-Cupal: Ich glaube nicht, dass es so bleiben muss oder bleiben soll, doch mit keiner Maßnahme der Welt wird man Pflege durch Kinder und Jugendliche gänzlich abschaffen können. Ich bin aber auch überzeugt, dass die Ursache dafür nicht in unserem Pflegesystem liegt. Selbst wenn wir auf die von uns so hoch gelobten skandinavischen Länder schauen, die wohlfahrtsstaatlich sehr gut organisiert sind, zeigt sich, dass es diese Problematik auch dort gibt. Der zentrale Punkt ist vielmehr jener, die Familien so weit zu befähigen, ein Arrangement zu treffen, in dem Kinder nicht die Hauptlast der Pflege tragen müssen. Ich will das jetzt keinesfalls schönreden, aber die Betroffenen helfen grundsätzlich gerne, solange sie nicht mehr tun müssen, als sie selber wollen und können. Wir müssen ein ambulantes und mobiles System schaffen, mit dem die familiäre Pflege so organisiert ist, ohne die Kinder über die Maßen zu beteiligen.

STANDARD: Welche Maßnahmen sind am dringlichsten, um die Situation für pflegenden Kinder und Jugendliche zu verbessern?

Nagl-Cupal: An erster Stelle steht die Bewusstseinsbildung. Wenn Sie beispielsweise in Südengland in einen Supermarkt gehen, ist es nicht ungewöhnlich, dass Sie dort Plakate zu einem "Young Carers"-Projekt hängen sehen. Es braucht einerseits niederschwellige Informationsangebote, andererseits sind Bewusstseinskampagnen sinnvoll - etwa in Kooperation mit Schulen, denn das ist der Ort, wo sich pflegende Kinder und Jugendliche außerhalb der Familie aufhalten. Darüber hinaus ist eine Sensibilisierung im sozialen, pflegenden und medizinischen Bereich gefragt. Oft ist beispielsweise der Hausarzt die einzige Person, die neben den Angehörigen mit dem chronisch kranken Familienmitglied Kontakt hat. Auch hier gilt es, die notwendige Sensibilität für das Thema zu schaffen.

STANDARD: Was sind weitere Möglichkeiten, um pflegende Kinder und Jugendlichen zu entlasten?

Nagl-Cupal: Wir brauchen Instrumentarien, mit denen Betroffene identifiziert werden können. In vielen englischen Schulen gibt es zu Beginn des Schuljahrs Informationskampagnen zu "Young Carers"-Programmen. Jene Kinder und Jugendlichen, die sich von diesem Thema angesprochen fühlen, können mit den Programmverantwortlichen Kontakt aufnehmen. In Gesprächen wird dann ermittelt, wie hoch die Belastung durch die Pflegesituation ist. Darüber hinaus sind zielgruppenspezifische Programme wichtig, die auf die Bedürfnisse der pflegenden Kinder und Jugendlichen zugeschnitten sind. Dabei handelt es sich etwa um den Austausch mit anderen Betroffenen und vor allem das Bereitstellen von Krankheitsinformationen.

STANDARD: Am Donnerstag und Freitag findet in Wien das Pflegemanagment-Forum 2015 statt, wo Sie einen Vortrag mit dem Titel "Young Carers in Österreich. Wie geht's jetzt weiter?" halten werden. Wie geht es denn nun weiter?

Nagl-Cupal: Es braucht auf jeden Fall eine kleinteilige Bearbeitung des Themas auf kommunaler Ebene. Der Staat selber kann nur den Rahmen schaffen - etwa im Hinblick auf Bewusstseinsbildung oder die Finanzierung von Hilfsprogrammen in Städten und Gemeinden. Dabei sollte es einen Brückenschlag zwischen den Ministerien geben, da es sich bei "Young Carers" im Prinzip um ein Querschnittsphänomen handelt. Das heißt:
Sie sind aus Sicht des Sozialministeriums "pflegende Angehörige", Kinder mit gesundheitlichen Bedürfnissen und auch Defiziten aufseiten des Gesundheitsministeriums, Mitglieder einer Familie aus dem Blickwinkel des Familienministeriums und Teil unserer Schulen und damit des Bildungssystems. (Günther Brandstetter, derStandard.at, 26.2.2015)