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XX oder XY: Früher hielt man die Geschlechtschromosomen für die alleinige Grundlage von Männlichkeit oder Weiblichkeit.

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An der University of California, Irvine, spielen gesellschaftliches und biologisches Geschlecht zumindest am WC keine Rolle.

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Männlichkeit und Weiblichkeit sind in unserer Gesellschaft abgegrenzte Kategorien. Neuere Studien sehen eher einen fließenden Übergang.

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Hampshire, Großbritannien – XX oder XY, männlich oder weiblich. Unsere Gesellschaft und unser Rechtssystem lassen bisher nur zwei Optionen für das Geschlecht einer Person zu. Dass die Kategorien aus biologischer Sicht keineswegs in Stein gemeißelt sind, zeigt eine große Zusammenschau des Magazins Nature über den Status quo der Geschlechterforschung.

Zwischen X und Y

Das klassische Erklärungsmodell für unser Geschlecht ist simpel: Die Chromosomen XX oder XY ergänzen die übrigen 22 Chromosomenpaare und entscheiden über Männlichkeit oder Weiblichkeit. Aber bereits hier ergeben sich erste Schwierigkeiten in der Definition: Manche Menschen verfügen nur über ein X-Chromosom oder haben beispielsweise ein zusätzliches Y.

Manchmal entscheiden sich aber auch die Keimdrüsen für ein anderes Programm als das, das die Chromosomen festlegen würden. Dann tritt etwa das mit Männlichkeit assoziierte Y-Chromosom mit Eierstöcken zusammen oder ein doppeltes X mit Hoden. "Disorders of sexual development" (DSD), Intersexualität oder Sexualdifferenzierungsstörungen heißen solche Phänomene. Die Betroffenen sind oft schon mit dem Thema konfrontiert, bevor sie überhaupt ein Verständnis für Geschlecht entwickeln: nämlich dann, wenn ihre Eltern in der Geburtsurkunde oder sogar durch medizinische Eingriffe ihre Männlichkeit oder Weiblichkeit für sie festlegen.

Gene für Geschlechtsunterschiede

Je tiefer die Forschung in unseren genetischen Bauplan eintaucht, umso stärker bröckeln die in Zement gemeißelten Kategorien Mann und Frau. Neue Methoden der Genforschung bringen bis heute immer wieder neue Gene ans Licht, die für die Geschlechtsentwicklung des Fötus zentral sind. Im Jahr 1990 entschlüsselten ForscherInnen das Gen SRY, das weibliche Keimdrüsen zu männlichen Keimdrüsen umbilden kann, also Hoden statt Eierstöcken entstehen lässt. Das Gen WNT-4 wirkt in die entgegengesetzte Richtung: Es unterdrückt die testikuläre Entwicklung und begünstigt stattdessen Ovarien.

Das Geschlecht ist also kein simples Produkt aus X- und Y-Chromosomen, sondern auch ein Balanceakt zwischen verschiedenen regulierenden Genen. So kann es vorkommen, dass die Geschlechtlichkeit den simplen Formeln "XX gleich weiblich" und" XY gleich männlich" widerspricht oder einen Platz zwischen den Polen einnimmt.

Kontinuum statt Kategorien

Was auf gesellschaftlicher Ebene noch kaum Beachtung findet, stellt sich in der Forschung immer deutlicher heraus: Zwischen Mann und Frau liegt auf biologischer Ebene ein weites Feld der Variation. Angefangen bei kleinsten Unterschieden wie einer geringeren Spermienproduktion bei Männern oder einem Überschuss männlicher Sexualhormone bei Frauen laufen beide Extreme kontinuierlich zur Mitte zu. Bei einem von 250 bis 400 XY-Trägern gibt es eine anatomische Variation, bei der die Harnröhrenöffnung an der Unterseite des Penis liegt. Gleichzeitig gibt es auch Personen mit XX-Geschlechtschromosomen, die kleine Hoden besitzen.

Eric Vilain, Direktor und Mediziner des Center for Gender-Based Biology an der University of California, zählte all diese Anomalien zusammen. In dieser weiten Definition wäre jeder oder jede Hundertste von DSD, also einer ungewöhnlichen Geschlechtsentwicklung, betroffen.

Wechsel auch im Alter

Viele dieser Fälle werden nicht entdeckt oder bleiben lange im Dunkeln: 2014 enthüllte eine Operation eines 70-jährigen vierfachen Vaters, dass sich in seinem Bauchraum eine Gebärmutter befand. Und es geht noch weiter: Studien an Mäusen am MIMR-PHI Institute for Medical Research in Melbourne legen nahe, dass sich die Grenze vom einen zum anderen Geschlecht selbst im späteren Verlauf des Lebens noch verschieben kann.

Für viele intersexuelle und transsexuelle Personen ist es nach wie vor schwierig, ihre geschlechtliche Identität in einer binären Gesellschaftsordnung wiederzufinden. Auch die österreichische Rechtsordnung sieht kein "Dazwischen" vor. Australien erlaubt intersexuellen Menschen ein "X" bei der Geschlechtsangabe im Pass, in Deutschland steht unter den Optionen "männlich" und "weiblich" in der Geburtsurkunde auch "beides".

Die Eltern entscheiden

Der Status quo der Forschung wirft auch ethische Fragen bei Operationen von intersexuellen Kindern auf. Wenn ein Eingriff medizinisch nicht notwendig ist, bestimmen die Eltern, ob sie das Kind operieren lassen und welches Geschlecht es letztlich haben soll. Eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen: Ob sich das Kind mit dieser Kategorie identifizieren kann, kommt erst viel später zum Vorschein.

Neue Studien über die Auswirkungen solcher Operationen auf die Lebensqualität und das Sexualleben der Behandelten sind in Arbeit. Noch ist das Geschlecht des Menschen nicht ausschöpfend erforscht, eines steht jedoch fest: Es ist nicht so simpel wie bisher gedacht. (Marlis Stubenvoll, dieStandard.at, 12.3.2015)