Wenn Sexarbeiterinnen eine größere Auswahl hätten, in welcher Form sie ihrer Arbeit nachgehen, wären sie vor Ausbeutung geschützter, ist Helga Amesberger überzeugt.

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STANDARD: In den Debatten über Sexarbeit gibt es sehr starre Fronten: Verbot versus Legalisierung. Liefert die Wissenschaft zu wenige Fakten, die die Debatte weiterbringen könnten?

Amesberger: Es gibt tatsächlich zu wenig Forschung über Sexarbeit, insbesondere über die Arbeitsbedingungen und darüber, wie Frauen zur Sexarbeit kommen. Schwerer wiegt aber, dass die Debatte über Sexarbeit eine sehr moralische ist. Bestimmte Werte spielen eine sehr große Rolle, und diese verhindern oft, dass man für Argumente offenbleibt.

STANDARD: Woran liegt es, dass es so wenig Forschung über Sexarbeit gibt?

Amesberger: Es ist ein sehr stigmatisiertes Feld. Die Personen in dem Bereich - dazu gehören auch die Bordellbetreiber - wollen im Verborgenen bleiben. Prostitution war über Jahrhunderte in einem Graubereich angesiedelt und ist es auch heute noch. Das macht die Forschung schwieriger. Allerdings ist das kein spezifisches Merkmal der Prostitution, auch Eliten sind schwer zu beforschen. Zudem sind 90 Prozent der Sexarbeiterinnen Migrantinnen, es braucht also verschiedenste Sprachkenntnisse und nicht zu vergessen die Wissenschaftspolitik. Prostitution ist kein Feld, für das viele Forschungsförderungsmittel zur Verfügung stehen.

STANDARD: In Ihrer Studie finden sich Interviews mit 82 Sexarbeiterinnen. Wie ist Ihnen der Kontakt gelungen?

Amesberger: Wir haben eng mit Streetworkerinnen von LEFÖ und MAIZ - zwei Beratungsstellen in Wien und Oberösterreich - zusammengearbeitet, die seit Jahren mit Sexarbeiterinnen arbeiten und auch über vielfältige Sprachkenntnisse verfügen. So konnte ein Großteil der Frauen in ihrer Muttersprache interviewt werden. Die Zusammenarbeit mit Menschen aus Organisationen, die die Frauen seit langem unterstützen, ist meines Erachtens der einzige Weg. In einem derart tabuisierten und stigmatisierten Feld braucht es enorm viel Vertrauen und eine wertschätzende Haltung den Sexarbeiterinnen gegenüber. Ein Zeichen der Wertschätzung ist es auch, wenn es möglich ist, das Interview in der Muttersprache zu führen und dass es nicht als Manko definiert wird, wenn jemand nicht gut Deutsch spricht. Alle können sich in ihrer Muttersprache besser ausdrücken.

STANDARD: Was wurde in den Interviews erfragt?

Amesberger: Wir haben einen narrativen Zugang gewählt, damit die Frauen auch selbst Themen setzen konnten. Von unserer Seite wurden die Motive der Frauen abgefragt, die Arbeitsbedingungen, Erfahrungen von Zuhälterei, für wie viele Personen sie den Lebensunterhalt bestreiten müssen, Auswirkungen von Gesetzen, oder auch inwiefern sie über Preise und Art der sexuellen Dienstleitung bestimmen können. Sehr deutlich wurde, dass es sich die Frauen sehr genau überlegt haben: Sie haben sich durchgerechnet, wie viel sie in Rumänien etwa als Kindergärtnerin verdienen würden und wie viel in der Sexarbeit in Österreich. Die Motive sind also vor allem ökonomische.

STANDARD: Ließen sich Vorstellungen von einem hohen Einkommen in der Sexarbeit einlösen?

Amesberger: Zwei Drittel der Interviewten haben berichtet, dass sie gut von der Sexarbeit leben können. Eine Frau meinte etwa, sie könne sich zwei Leben leisten, eines hier und eines im Herkunftsland. Wie viel eine Sexarbeiterin verdienen kann, hängt von vielen Faktoren ab: von der angebotenen Art der sexuellen Dienstleistung und oft auch vom Alter der Sexarbeiterin. Frauen, die schon lange im Geschäft sind, haben es oftmals deutlich schwerer, auf ein gutes Einkommen zu kommen.

STANDARD: Wie viele wollen aussteigen?

Amesberger: Etwa die Hälfte der Frauen sagten, sie möchten sich in naher Zukunft einen neuen Job suchen. Aber es scheitert an ähnlich gut bezahlten Möglichkeiten. Interessant wird die Entwicklung in den nächsten Jahren, da der eingeschränkte Zugang zum Arbeitsmarkt etwa für Bulgarinnen und Rumäninnen mit Jänner 2014 aufgehoben wurde. Sie können nun nicht mehr nur als "Neue Selbstständige" oder Selbstständige in Österreich arbeiten, sondern haben seither Zugang zum gesamten österreichischen Arbeitsmarkt. Aber unabhängig davon: Sexarbeit bietet einen einfachen Zugang zum Arbeitsmarkt in Österreich, der für Migrantinnen mit wenig Ausbildung und geringen Deutschkenntnissen sehr klein ist.

STANDARD: In Wien wurde in den letzten Jahren das Prostitutionsgesetz reformiert, was weniger Straßenprostitution und mehr "Indoor" samt zusätzlichen Auflagen für Bordelle brachte. Was halten Sie davon?

Amesberger: Mit dem neuen Gesetz sollten die Arbeitsbedingungen der Sexarbeiterinnen verbessert werden. Die Arbeitsbedingungen auf dem Straßenstrich sind aber nicht besser geworden. Der Straßenstrich wurde an den Stadtrand gedrängt, dorthin, wo es nichts gibt: keine Toiletten, nichts, um sich aufwärmen zu können, keine Stundenhotels. Gebracht hat das Gesetz vor allem den Bordellbetreibern etwas. Wenn die Arbeit nur mehr indoor möglich ist, gewinnen die Bordellbetreiber Verhandlungsmacht.

STANDARD: Was wäre nötig, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern?

Amesberger: Es müsste für die Frauen eine Vielfalt an Arbeitsmöglichkeiten geben, auch solche, bei denen sie autonom arbeiten können. Aber zur Zulassung von Wohnungsprostitution oder Escort kann sich kein Bundesland durchringen. Wenn Sexarbeiterinnen aber die Möglichkeit hätten, zwischen verschiedenen Arbeitsorten zu wählen, müssten die Bordellbetreiber darauf reagieren und den Sexarbeiterinnen mehr entgegenkommen.

STANDARD: Sie haben sich auch mit der Geschichte des Umgangs mit Sexarbeit in Österreich beschäftigt. Wie sieht diese aus?

Amesberger: Es gibt schon Texte aus dem späten 19. Jahrhundert von Ärzten, die kritisierten, dass die Politik zwar versuche, Prostitution zu regeln, dass aber letztlich alles an der Medizin und der Polizei hängenbleibe. In Österreich wurde durch die Strafrechtsreform 1974 Prostitution weitgehend entkriminalisiert. Das hat allerdings auch nicht zu einer kohärenten Prostitutionspolitik geführt, denn im Endeffekt ist Prostitution durch Gerichtsurteile maßgeblich bestimmt worden. Die Unterschiede auf Länder- und Gemeindeebene bringen es auch mit sich, dass die Verwaltung und die Exekutive viel mehr gestaltet haben als die Politik. An diesem Problem hat sich also nicht viel geändert.

STANDARD: Was spricht dagegen, zumindest Freier zu bestrafen?

Amesberger: Neun der 82 Frauen haben erwähnt, dass sie zunächst nicht freiwillig in der Prostitution tätig waren. Diese Frauen haben sich aus diesen Zwangsverhältnissen lösen können. Das gelang vielen mithilfe ihrer Kunden. Gäbe es ein Prostitutionsverbot oder eine Freierbestrafung, würde sich kein Freier mehr trauen, zur Polizei zu gehen. Außerdem sind die Kunden die Einkommensquelle für Sexarbeiterinnen; mit deren Bestrafung würde man letztendlich nur den Sexarbeiterinnen schaden.

STANDARD: Wo fängt denn die Ausbeutung in der Prostitution an?

Amesberger: Ich würde sie dort ansetzen, wo die Person selbst eine Grenzverletzung sieht. Wenn Frauen hintergangen werden, wenn ihnen etwas vorgetäuscht wird, wenn sie zu Dingen gezwungen werden - dann hat das nichts mehr mit Sexarbeit zu tun. Dann ist es Vergewaltigung, Nötigung, unlautere Bereicherung oder Sklaverei.

STANDARD: Was fehlt in der Forschung über Sexarbeit besonders?

Amesberger: Die Arbeitsbedingungen sind kaum erforscht, ein großes völlig unbearbeitetes Feld ist männliche Prostitution, dazu gibt es in Österreich nichts. Es braucht generell viel mehr empirische Forschung. Und die Stimmen der Sexarbeiterinnen müssen durch die Forschung deutlicher werden. (Beate Hausbichler, DER STANDARD, 16.4.2015)